Etwa all zwei Wochen komme ich bei ausgedehnten Spaziergängen an einer kleinen Kapelle vorbei. Diese steht am Waldrand halb versteckt oberhalb eines steilen Weinbergwegs. Es ist ein unscheinbares, weiß getünchtes Häuschen mit einem winzigen Kirchturm. Öfters bin ich schon an die dunklen Fenster getreten und habe neugierig hinein geblinzelt, konnte dort aber nur ein paar Holzbänke erkennen.

Ich bin weiß Gott kein gläubiger Mensch, ganz im Gegenteil. Schon in jungen Jahren bin ich aus der Kirche ausgetreten, um mir die lästigen Steuern zu ersparen.

Jetzt befinde ich mich im Rentenalter und mache mir hin und wieder Gedanken über mein nahendes Lebensende. Dabei muss ich trotz Ablehnung wohl auch ab und zu an die wundersamen Geschichten der Prediger denken, dass nach dem Tod unsere Seele an einem anderen Ort weiter leben darf. Man munkelt da von qualvollen Fegefeuern oder gar von himmlischen Paradiesen. In meinen Augen ist das blanker Unfug. Es gibt weder Teufel noch Engel, zumindest konnte deren Existenz bis jetzt wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden. Aber in meine Gedankengänge fließen diese seltsamen Sagen trotzdem immer wieder ein.

Eines Vormittags kam ich auf einer Wanderung mal wieder an der kleinen Wegkapelle vorbei. Es war ein trüber Tag, und es nieselte leicht. Zu meinem Erstaunen stand die schwere Holztür des Andachtsräumchens offen und innen brannte Licht.

Ich hörte zunächst gedämpftes Stimmengemurmel, dannach begann ein von einer Orgel begleiteter Kinderchor ein mir von früher her bekanntes Kirchenlied zu singen. Das klang so beeindruckend schön, dass sich mir die Nackenhaare sträubten und mir eine Gänsehaut über den Rücken lief.

Natürlich trat ich näher und lugte vorsichtig durch die Türöffnung. Die Stimmen schwollen gewaltig an und die Orgel dröhnte mächtig. Ich erkannte einen kleinen Raum, in dem die schon zuvor durchs Fenster gesehenen Bänke standen. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Dafür schwoll die Musik immer weiter an. Jetzt war es nicht mehr auszuhalten. Ich griff mit beiden Händen an die Ohren und fing an zu schreien. Dann begann es in meinen Ohren zu pfeifen und zu knacken. Mir wurde schwindlig, ich stürzte zu Boden und verlor die Besinnung. -

Dann erwachte ich in einem sonnendurchfluteten weißen Zimmer. Ich lag in einem weiß bezogenen Bett und trug ein weißes Nachthemd. Um mich herum herrschte wohltuende Stille. Wo bin ich hier? Könnte das vielleicht das angekündigte Paradies sein? Ich streckte wohlig meine Arme und Beine aus. Dabei bemerkte ich, dass an meinem linken Handgelenk ein Schlauch befestigt war, der zu einer tropfenden Flasche in einem metallenen Gestell führte.

Ein Krankenhaus natürlich! Wie kann ein Atheist bloß an jenen Glaubenshimmel denken?! Irgendetwas scheint da wohl in meinem Oberstübchen durcheinander gekommen zu sein.

Im Laufe der nächsten Stunden klärten mich dann verschiedene Krankenschwestern und Ärzte darüber auf, dass ich eine seltene Art von Hörsturz plus Schlaganfall erlitten hätte und ohnmächtig gefunden worden wäre. „Sie lagen auf dem Boden vor dem Eingang einer kleinen Kapelle. Da kommt sonst kein Mensch vorbei. Wenn Sie nicht zufällig ein Weingärtner dort gefunden hätte, wären Sie wohl mit diesen Symptomen ein paar Stunden später gestorben.“

Ich musste etliche Tage im Hospital bleiben. Irgendwann schaute an meinem Bett dann auch ein Pfarrer vorbei und fragte, ob ich seelischen Beistand benötigen könnte. Dabei breitete er die Arme aus, und ich hörte im Hintergrund Orgelschall und die süßen Stimmen eines Kinderchors.


© bruddlsupp


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Beschreibung des Autors zu "EINE KLEINE KAPELLE"

Wer kann schon glauben, was die Priester predigen?

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Kommentare zu "EINE KLEINE KAPELLE"

Re: EINE KLEINE KAPELLE

Autor: agnes29   Datum: 01.07.2018 12:19 Uhr

Kommentar: Glaube versetzt Berge sagte meine Mutter oft, als Kind lacht man
drüber, heute denke ich es muß was dran sein.
Deine Geschichte hat mir gefallen, man könnte denken das alles
wirklich geschehen ist. Wünsche dir einen sonnigen Sonntag.
Es grüßt dich Agnes.

Re: EINE KLEINE KAPELLE

Autor: Ikka   Datum: 02.07.2018 0:27 Uhr

Kommentar: Deine Geschichte hat mir gefallen und zu deinem 2. kleinen Abschnitt nur so viel: Natürlich kann man gläubig auch ohne Kirchenzugehörigkeit sein.
Viel Mut zum eigenen Glauben wünsche ich dir!
Abendgruß,
Ikka

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