Die Reiche Stadt lag dort, wo der mächtige Fluss breit und träge ins Meer mündete. Seit vielen Generationen waren ihre Bewohner Seefahrer und Händler und hatten im Verlauf der Zeit riesige Vermögen angehäuft. Sie waren steinreich geworden durch die Gewürze und edlen Metalle, die jeden Morgen im Hafen aus den unergründlichen Bäuchen ihrer Kauffahrteischiffe geladen wurden, reich durch das Händlerglück, welches die führenden Familien der Stadt seit Generationen begünstigt hatte, und reich schließlich auch durch ihre Gewohnheit, nichts für die Armen und Darbenden übrig zu haben sondern die Münzen lieber in ihren Taschen zu vergraben.

Denn mit dem Reichtum war die Habsucht gekommen. Die vermögenden Kaufleute begnügten sich nicht mit ihren wohlgefüllten Schatztruhen, sondern suchten auf vielerlei Arten ihren Besitz noch zu mehren. Dabei schreckten sie auch vor sündhaften Unternehmungen nicht zurück. Im fernen Afrika fingen sie dunkelhäutige Eingeborene und ließen sie als Sklaven in den Kupfer- und Diamantminen arbeiten, die sie dort betrieben. Die Kräftigsten schmiedeten sie als Galeerensklaven an die Ruder ihrer Schiffe. Und sogar dreisten Raub sagte man ihnen nach. In Indien, das nur auf dem gefahrvollen Seeweg um das Kap am Südzipfel des afrikanischen Kontinents zu erreichen war, stahlen sie wertvolle Goldgefäße aus den Tempeln der Göttin Schiwa, um sie bei ihren schamlosen Gelagen als Trinkgefäße zu benutzen.

Und gerade so, als sähe Gott nicht diese Vergehen oder achtete ihrer nicht, gedieh ihnen Freveltat um Freveltat, und mit jedem Gelingen trachteten sie nach größerem Reichtum und verloren die Scheu vor dem Unrecht in immer höherem Maße.

***

An der tiefsten Stelle des mächtigen Flusses, wo die Wasser in der Mitte des Stromes fast stillstehen und die grünliche Dunkelheit den Grund vor den Blicken der Schiffer verbirgt, hatte der Flusskönig sein Reich.

Es war ein Reich, in dem das Glück regierte. Die Liebenden, die den Tod im Wasser gesucht hatten, durften in diesem Reich weiterleben. Sie konnten in den weiten Korallengärten des Palastes mit den immer fröhlichen bunten Segelflossern spielen oder im Reigen tanzen zum rhythmischen Geklapper der Austern oder Ball spielen mit den großen Perlen, die den Boden überall bedeckten.

Wenn die Nacht über dem Fluss hereingebrochen war und tief unten im Wasser nur noch das kaum wahrnehmbare, fahlbläuliche Licht der Leuchtfische herrschte, saßen die Liebenden verschwiegen im Schatten der blassen Tanghaine und legten in inniger Umarmung die feuchten Lippen aufeinander. Denn nichts verbindet zwei Menschen mehr, als wenn sie sich, überdrüssig der Grausamkeit des Lebens, gemeinsam in den Schoß des Todes stürzen. Sie hatten die Welt, aus der sie gekommen waren, gänzlich vergessen. Nur manchmal, wenn bei einem Gewitter über dem Wasser ferner Donner gedämpft nach unten drang, flog schemenhaft die Erinnerung an Blumen, warme Erde und süßen Landregen durch ihre Träume. Aber ebenso wie sie gekommen waren, verschwanden diese Gedanken wieder, und ihr fröhliches Gelächter und unschuldiges Spiel begann von neuem. Der Flusskönig aber tat alles, damit die Liebenden in seinem Reich glücklich waren.

Mitten im weiten Korallengarten erhob sich der Palast des Flusskönigs. Er war aus weißem Perlmutt erbaut, und an den Gesimsen hingen Trauben von mondfarbenen Perlen, deren Oberfläche von der Mattheit der kostbarsten Seide war. Das Dach des Palastes war mit geschliffenen Muschelplatten bedeckt, und längs des Firstes fächelte beständig eine Reihe von Austern, so dass in den leichten Bewegungen des Wassers die Muschelplatten in allen Tönen des Regenbogens aufleuchteten. Doch so wie in einer moll-Symphonie selbst bei schnellen Läufen und perlenden Melodien die Tonart eine allgegenwärtige Traurigkeit über die Musik ausschüttet, so herrschten im Palast des Flusskönigs matte Farben vor. Farben, die noch kein Weinen waren, doch beständige Wehmut. Daran konnte auch die gewaltige geschliffene Kristallkugel nichts ändern, welche die spärlichen Strahlen der Sonne auffing, die bis in die Tiefe vordrangen, und sie gebündelt in den Palast warf, so dass strahlendes, blausilbernes Licht sich von Raum zu Raum ergoss, gelenkt von glänzenden Spiegeln und Prismen.
Im Garten des Palastes wuchsen die seltensten Wasserpflanzen. Schwere Blütenkelche schwangen wie Glocken in der kaum spürbaren Strömung über dem Grund. Breitblättrige violette und schmale blaugrüne Wasserranken wuchsen an den Mauern des Palastes empor, und an manchen Stellen wiegte sich die überaus seltene Blume der Sehnsucht, die hellgrün ist und aus deren Dolden ein gelbes Leuchten dringt wie der blasse Abglanz eines Sommertages.

Die Wege zum Palast und der Palasthof selbst waren mit schwarzen Perlen bestreut, von denen jede einzelne einen Menschen für sein ganzes Leben reich gemacht hätte, und in wohlbemessenen Abständen luden zierliche Bänke aus roten Korallen zum Ausruhen ein.

Vor den Toren des Palastes aber standen aufrecht und mit schimmernden Hellebarden zwei Reihen silberner Hechte, unbewegt und stolz und auch ein wenig dumm, wie es seit jeher die Art der gehorsamen Soldaten ist, die tun, was man ihnen sagt, ohne darüber nachzudenken.

***

Eines Tages wurde an den Grenzen des Flussreiches eine dunkle, bedrohliche Gestalt gesehen. Über den Kopf gestülpt trug sie eine Kugel mit einem runden Glasfenster und an den Sohlen dicke Bleiplatten. Schwerfällig und plump drehte sie sich hin und her und nahm die Herrlichkeiten des Palastgartens in Augenschein. Dann schleppte sie sich auf das Palasttor zu.

Aufgeregt wirbelten die grünen Schleie durcheinander, die blauen Zander und die grauen Karpfen schüttelten missbilligend die schuppigen Köpfe, und die kleinen Stichlinge stoben in wilder Flucht auseinander.

Die Liebenden hielten einen Augenblick inne beim Streicheln und Küssen. Nur die Wächter des Palastes, die Hechte, hielten die Köpfe aufrecht und die Rückengräten gestreckt und würdigten den Eindringling keines Blickes. Es war ja nur ein Einzelner, und sie waren viele.

Das dunkle Wesen bückte sich und nahm einige der schwarzen Perlen an sich, die überall die Palastwege bedeckten, dann gab es mit einem Strick ein Zeichen und wurde wieder in die Welt emporgezogen, aus der es gekommen war.

***

In seinem reich ausgestatteten, mit Palisanderholz getäfelten Kontor saß der steinreiche Reeder, einer der reichsten in der ganzen Stadt, und drehte einen Diamanten zwischen den gierigen Fingern. Da trat ein Diener ein und meldete einen Fremden, der wichtige Neuigkeiten brächte. Der Reeder ließ den Mann eintreten und beäugte ihn misstrauisch von oben bis unten. Dieser Blick war weit verbreitet in der Reichen Stadt, denn Reichtum macht Menschen misstrauisch, und ihre offenen Blicke werden verschlossen und prüfend.

Der Fremde hatte ein unbewegtes Gesicht und kalte blaue Augen. Er machte die Andeutung einer Verbeugung, doch ohne dass er dadurch besondere Achtung vor dem Reeder zum Ausdruck gebracht hätte. Dann begann er zu sprechen.
"Mijnheer", sagte er mit gedämpfter Stimme, "ich habe bei einem alten Trödler ein Buch gefunden, das über die Schätze auf dem Grunde von Meeren, Seen und Flüssen berichtet. Die tiefste Stelle des Flusses, der durch diese Stadt fließt, soll besonders wertvolle Beute versprechen. Heute morgen habe ich deshalb einen Taucher dort hinunterschickt. Wo genau, bleibt mein Geheimnis."

"Und was habt ihr gefunden?" fragte der Reeder scheinbar gleichgültig.
"So interessante Dinge, dass es klug wäre, den Taucher und den Buchtrödler für immer zum Schweigen zu bringen."

"So wie ich Euch einschätze, habt Ihr das bereits getan", meinte der Reeder und fügte dazu, "ein Geschäft, bei dem jeder gewinnt, ist ein gutes Geschäft."

Der Fremde schwieg. Langsam holte er eine schwarze Perle aus der Tasche und ließ sie über den Tisch rollen. Der Reeder griff nach der glänzenden Kugel und konnte ein schweres Schnaufen nicht unterdrücken. "Interessant", murmelte er.
"Nur interessant? Einzigartig!", verbesserte ihn der Fremde. "Doch wo diese Perle lag, liegen noch andere – zweimal, fünfmal, zehnmal so groß."

"Und welches Geschäft schlagt Ihr vor?" fragte der Reeder.
"Ein Suchschiff, perfekt ausgestattet von Eurer Reederei, und dafür zehn Prozent der geborgenen Schätze für Euch."
"Zwanzig", flüsterte der Reeder. Der Fremde nickte gleichgültig, ohne den reichen Kaufmann anzublicken.

Und während sich draußen die Dunkelheit über das Land senkte, brannte noch lange über die Mitternachtsstunde hinaus Licht in dem verschwiegenen Kontor. Über den Tisch beugten sich zwei Gestalten und besprachen den dreistesten Raub, der in der Reichen Stadt je geplant wurde.

Schwarz lagen die Silhouetten der Häuser rings verstreut, und in den Grachten und Kanälen rauschte und gluckste das Wasser.

Am Ufer des Flusses aber schrieen die Frösche, denen man eine Ahnung für das Kommende zuspricht. Und tausendfach tönte ihre Warnung in die Nacht hinaus.
Wieder kam ein Tag, und die Sonne stieg gleißend über dem Fluss empor. Ihre Strahlen drangen in die Tiefe, und die große Kristallkugel bündelte das Licht und ließ den Palast und die edlen Materialien, aus denen er gebaut war, aufblitzen.

***

Die Austern fächelten wie jeden Tag auf dem First des Daches, Scharen von Seepferdchen galoppierten über den Algenrasen des Palastgartens und trieben Schabernack mit den Perlen, die sich die Liebenden in selbstvergessenem Spiel zuwarfen. Ein lautloses Wiegen ging durch die Blütenkelche der seltenen Wasserpflanzen, und Schwärme von bunten Fischen ordneten sich zu Mustern, die schnell wieder vergingen, je nachdem welche Bewegung der Schwarm beschrieb. Vor dem Palasttor standen die Hechte und streckten ihre Hellebarden in die Höhe. Trotz des langweiligen Wachdienstes waren sie glücklich, denn den Einfältigen macht nur der Wechsel Angst, Gleichförmigkeit aber schenkt ihnen die wohlige Sicherheit, dass die Welt noch immer so ist, wie sie sie seit jeher kennen.

Doch die Hechte irrten. Nichts würde nach diesem Tage noch so sein wie vorher.
Dunkle Gestalten kamen langsam und drohend an dicken Stricken und Schläuchen auf den Grund herunter. Mit unförmigen schweren Schuhen tasteten sie nach Grund und ruderten mit den Händen, in denen sie Lanzen und grelle Lampen hielten. Die Liebenden liefen verstört auseinander, und die scheuen Seepferdchen und flinken Fische versteckten sich in den Spalten der Steine. Die Hechte senkten ihre Lanzen, um den Palast zu schützen, doch mehr wussten sie nicht zu tun, denn solche Gestalten hatten sie noch nie in ihrem Leben gesehen.

In seinem weiten Thronsaal aber saß der Flusskönig auf seinem Muschelsessel, schwer das Haupt gegen die Lehne zurückgeworfen. An seinen Schläfen schwollen die Adern und seine Fäuste ballten sich in wildem Zorn.

Die schwarzen Gestalten hatten inzwischen das Palasttor erreicht. Die silbernen Hechte widerstanden ihnen nur wenige Augenblicke, dann trieben sie hingemordet und bauchoben reglos in der Flut. Schon streckte der erste der dunklen Räuber gierig die Hand aus, um eine hellblaue Perle aus der Klinke des Palastportales zu brechen …

***

… da erhob sich ein immer stärker werdendes Brausen an den Ufern des Flusses. Der Horizont wurde dunkelviolett, und mit dumpfem Donnergrollen kündigte sich ein Unwetter an. Die Bewohner der Reichen Stadt liefen in ihre Häuser, um sich zu schützen. Die Schiffe im Hafen zitterten wie sterbende Tiere und sanken, als zögen sie eiserne Fäuste hinunter auf den Grund. Aus den Kanälen stiegen die braunen Abwässer, Ratten krochen aus Brunnen und Zisternen, und die Krähen kreischten schrill ein Abschiedslied, ehe sie sich in Schwärmen erhoben und das Weite suchten.
Das Wasser des Flusses aber stieg unaufhaltsam weiter. Erst leckte es mit verhaltener Gier an den Befestigungen der Stadt, doch schließlich konnte nichts mehr es aufhalten. Es stürzte sich gurgelnd erst über die Mauern, dann über die Sandsäcke, welche die Menschen eilends zum Schutze der Stadt aufgehäuft hatten, und dann strömte es dunkel über die Straßen und in die Hauseingänge. Und es stieg und stieg dabei immer weiter. Am Ende schwappte es durch die Fensteröffnungen der Häuser und warf sich schäumend in Hallen und Flure.

Die Menschen wollten ihre Kisten und Kästen retten, aber das schwere Gold zog sie mitsamt den Truhen, die sie noch im Tode umklammert hielten, in ein nasses Grab.
Die Sturmglocke oben im Turme – so sagt man – schrie bis zuletzt verzweifelt über Sturm und Wasser hinweg, bis auch sie von einer zornigen Woge zum Schweigen gebracht wurde.

Noch heute künden in jedem Landstrich alte Sagen und Märchen von der Reichen Stadt. Sie erzählen von der Habgier ihrer Bewohner und von jenem furchtbaren Tag, an dem der Flusskönig die Stadt vertilgte, um Rache zu nehmen für den vermessenen Einbruch in sein Reich.

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© Peter Heinrichs


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