Ich bin in der Luft und fliege. Ich liebe es, zu fliegen. Ich fliege über einen Wald und nehme den Duft in mich auf. Da streift etwas meine Gedanken. Mac? Da ist sie wieder!
Hey Kleines. Ich spüre wie sie innehält. Sie ist genauso überrascht wie ich.
Gabriel?, fragt sie.
Ja.
Unsere Verbindung... Ich weiß, was sie meint. Kann mir aber auch keinen Reim darauf machen.
Ich spüre dich auch nicht mehr, sage ich.
Warum?, fragt sie.
Wenn ich das nur wüsste.
Es macht mich wahnsinnig. Und ich kann auch mit niemanden darüber sprechen.
Ich weiß. Ich auch nicht. Sie halten mich sowieso schon für verrückt. Wenn ich meiner Mutter erzählen würde, dass ich keinen Kontakt mehr zu meiner toten Gefährtin habe, würde sie mich zum nächsten Psychologen schleppen, wäre schließlich nicht das erste Mal. Während ich an meine Mutter denke fällt mir auf, dass ich Mac nicht mehr das ist. Angestrengt versuche ich wieder zurück zu ihr zu finden. Schaffe es jedoch nicht.
„Wie sieht es aus? Hört mir Mr. Hunter auch zu? Oder führe ich hier Selbstgespräche?“ Meine Mutter holt mich ins hier und jetzt zurück. Hat sie es gerochen, dass ich gerade an Mac gedacht habe. Im Moment ist sie ziemlich anstrengend. Sie ist gereizt und geht bei jeder Kleinigkeit in die Luft. Oder, was ich viel schlimmer finde, sie ist überfürsorglich. Nächste Woche steht ein besonderes Ereignis an, dafür ist es notwendig, dass ich einen Koffer packen soll. Auf dem Rücken liegend öffne ich die Augen und sehe meine Mutter an, die mit überkreuzten Arben vor meinem Kleiderschrank steht. Ihr Blick sagt mehr als tausend Worte. Ich überlege einen Moment ob ich etwas sagen soll, muss dann aber an die Worte meines Vaters denken. Er sagt immer: Junge, halt die Klappe und warte ab bis es vorbei ist! Ob sie wohl weiß, ob er so denkt? Auf die Hilfe meines Vaters kann ich im Moment auf jeden Fall nicht hoffen. Der hat es einfach gemacht. Mit der Ausrede, dass er mit seinen Freunden einen Männertagunternimmt, hat er sich aus dem Staub gemacht. Ich hatte die Hoffnung, wenn ich mich in mein Zimmer zurückziehe und mich hinter einem Buch verstecke, habe ich meine Ruhe. Falsch gedacht. Das ich kein großer Leser bin, wissen wir beide.
„Gabriel! Wieso kannst du keine Ordnung in deinem Schrank halten?“, meckert sie und widmet sich wieder meinem Schrank zu. Da sie ihren und Dads Koffer gepackt hat ist jetzt meiner dran, nicht das ich das nicht selbst könnte.
„Das ist meine Ordnung. Ich bin nicht so penibel wie du.“ Den Satz könnte ich noch bereuen. „Und außerdem hast du nichts an meinem Schrank verloren!“
„Du hast noch nicht gepackt!“ Stellt sie ruhig fest. Jetzt hat sie meine T-Shirts in der Hand. Die Frau hat echt Nerven. Sie schnalzt mit der Zunge und überlegt, ob diese T-Shirts für das anstehende Ereignis angemessen ist. Ihr Gesicht sieht aus, als ob sie eine lebenswichtige Entscheidung treffen müsste. Ob ich wohl auch so ein Gesicht ziehe? Bestimmt. Ich habe die gleichen blauen Augen und blonden Haare wie sie. Eigentlich sehe ich aus wie die männliche Version meiner Mutter. Das sagt zumindest mein Vater. In anderen Dingen unterscheiden wir uns allerdings wie Tag und Nacht. Wie sie uns mit ihrem Ordnungsfimmel immer wieder beweist.
„Du bist genauso wie dein Vater.“ Sie legt meine T-Shirts wieder an ihren Platz. Aber ganz vorsichtig, sie könnten ja zerknittern.
„Jap, ein richtiger Hunter-Mann.“ Ich versuche den strengen Ton meines Vaters nachzuahmen und schaffe es, dass sie wenigstens lächelt.
„Lass das Gabriel. Das ist nicht sehr nett.“
„Wieso?“, frage ich unschuldig von meinem Bett aus. „Er ist nicht da. Und ich glaube nicht, dass du deinen Sohn an ihn verraten würdest. Und ein bisschen Spaß hat noch keinem geschadet.“
„Willst du etwas besonders mitnehmen?“ Und schon wieder sind wir beim Kofferpacken.
„Ja … Was zum Anziehen.“
„Gabriel!“ ruft sie und schlägt die Schranktüren zu. Ich gebe mich geschlagen und stehe auf.
„Ok Mum. Willst du auf ein bestimmtes Kleidungsstück hinaus oder willst du es einfach im Allgemeinen wissen?“ Ich öffne wieder meinen Schrank und werfe einen Blick hinein. Warum Frauen so einen Aufstand um Klamotten machen ist mir ein Rätsel. Und so schlimm sieht es in meinem Schrank auch wieder nicht aus. Ich sehe zu meiner Mutter, die wohl weiß, was ich denke, und ernte eine hochgezogene Augenbaue. Sie lässt das Thema Ordnung ruhen, wofür ich dankbar bin. Mit kritischem Blick mustert sie mich. Aber vom Haken bin ich noch nicht.
„Aber so gehst du mir nicht zum Drachentreffen!“ Drachentreffen! Dieses Wort sollte man aus ihrem Wortschatz streichen. „Ich hasse diese zerrissene Jeans … Und das Motorenöl bekomme ich auch nicht mehr raus…“ Jay unterbricht sie als er ins Zimmer kommt und sich auf sein Bett fallen lässt. Er sieht belustigt zu uns rüber. Hoffentlich hält er den Mund. Eine Diskussion zwischen den beiden ist das Letzte worauf ich gerade Lust habe.
„Möchtest du irgendetwas loswerden?“, fragt Mum ihn. Aber das Glück ist heute nicht auf meiner Seite. Jay bleibt ruhig und fängt jetzt an zu grinsen. Meine Mutter will schon den Mund aufmachen, aber ich komme ihr zuvor.
„Mum, bitte! Er grinst immer so. Warum weiß ich manchmal allerdings nicht. Und ich glaube er auch nicht.“ Jetzt muss ich auch dämlich grinsen. Ich sehe meinen Freund eindringlich an und hoffe er versteht, dass er sich seinen Kommentar spart.
„Hast du schon gepackt?“, fragt ihn meine Mutter. Jay schüttelt den Kopf.
„Nein. Wird wohl in den nächsten Tagen meine Mum machen“, antwortet er.
„Ja, ja. Lilly macht immer alles in letzter Minute … Ich weiß nicht, wie man so leben kann.“ Den letzten Satz murmelt sie vor sich hin und dreht sich wieder zu mir.
„Man muss es ja nicht schon Monate vorher machen … oder Jahre.“ Hören wir eine Stimme. „Also, mein Engel … beleidigst du gerade mich … oder meinen Sohn?“ Wenn Lilly auf meine Mutter sauer ist, nennt sie sie immer mein Engel. Was für alle das Zeichen ist, besser den Kopf einzuziehen. Ich sehe zu Jay rüber, das Grinsen ist ihm vergangen. Uns ist beiden klar, dass sich die beiden gleich an die Gurgel gehen werden. Dieses Drachentreffen geht allen an die Nieren. Im Normalfall braucht es schon ein bisschen mehr, um die zwei auf die Palme zu bringen. Lilly funkelt meine Mum mit ihren blauen Augen böse an. Sie werden dunkler, wie bei Jay. Auch wenn er äußerlich noch so ruhig ist sieht man ihm an den Augen an, dass er auf 180 ist.
„Na, Emely? Traust du dich nicht etwas zu sagen?“, stichelt Lilly weiter. „Du hast Angst, weil Liam und Matthew nicht da sind, um mich von dir fernzuhalten.“ Jetzt grinst sie genauso dämlich wie vor ein paar Minuten noch ihr Sohn. Meine Mutter schaut sie weiterhin ruhig an.
„Süße Lilly“, sagt sie in einem sehr herablassenden Ton. „Glaubst du wirklich, wenn es darauf ankommt, dass mich mein Mann … oder deiner, davon abhalten könnten, dir weh zu tun?“
„Rede nicht in so einem überheblichen Ton mit mir …“
„OK, jetzt kommt mal wieder runter! Im Ernstfall könnte doch keiner von euch beiden der anderen ein Haar krümmen“, mische ich mich ein.
„Meinst du?“, fragt Lilly zuckersüß. „Sollen wir es einmal ausprobieren?“
„Mum, ich bitte dich … lass es gut sein.“ Jay versucht vom Bett aus zu schlichten. Meine Mutter will schon Luft holen und zum nächsten verbalen Schlag ausholen als ich sie vorsichtig Richtung Tür bugsiere.
„Ihr beide geht jetzt einen Kaffee trinken und beruhigt euch wieder. Und du brauchst gar nicht widersprechen!“ Schiebe ich gleich nach, als meine Mutter sich umdrehen will. „Oder ich sage es Dad.“ Ich weiß, dass hört sich jetzt echt kindisch an, aber es hat in solchen Momenten schon mehr als einmal funktioniert. Auf ihrer Stirn bilden sich Falten und sie überlegt wohl, ob sie wirklich klein beigeben soll.
„Gabriel!“ Fuchtelt sie jetzt mit ihrem Finger vor meinem Gesicht herum. Lilly macht sich währenddessen schon auf den Weg zum Kaffee.
„Mum? Wenn ich dir sage, ich packe jetzt meinen Koffer, gehst du dann?“, frage ich hoffnungsvoll.
„Denkst du, dass ich dir das glaube? Aber egal, ich werde gehen. Wie der Herr wünscht. Und wenn wir uns das nächste Mal sehen, hoffe ich du hast wirklich gepackt.“ Mit diesen Worten verlässt sie endlich mein Zimmer und zieht die Tür hinter sich zu.
„Mein Gott, was würde ich alles tun, um eine Woche älter zu sein“, stöhnt Jay.
„Ja, ich auch.“
„Und bitte Gabe, packe deinen Koffer!“ Ich stehe bereits vor meinem Schrank, sehe in meinen noch leeren Koffer und mache einfach kurzen Prozess. Ein paar T-Shirts, Sweatshirts, Hosen und Unterwäsche wandern in den Koffer. So, gepackt wäre also.
„Du brauchst noch Duschgel!“
„Geh mir nicht auf die Nerven, Jay. Woher weißt du das eigentlich? Du packst doch nicht selbst.“
„Ich habe schon einmal zugesehen und ich will dir helfen. Und, so leid es mir tut, aber deine Mutter nervt!“
„Hey, wir bekommen nicht alle alles nachgetragen wie du!“
„Neidisch?“ Er liegt immer noch auf dem Bett und hat seine Arme hinter dem Kopf verschränkt. Ich beschließe, dass ich fürs erste genug gepackt habe. Auf Jays Frage gehe ich erst gar nicht mehr ein.
„Wo sind Fynn und Max?“, frage ich, während ich mich auf mein Bett setze.
„Sie wollten in die Stadt. Ob sie allerdings dort ankommen weiß ich nicht.“ Gestern Abend waren wir unterwegs. Fynn hat Max, mal wieder, ein Mädchen ausgespannt. Und wenn es etwas gibt was mein Cousin hasst, dann ist es, wenn man ihm ein Mädchen ausspannt. Fynn nutzt das natürlich bei jeder Gelegenheit aus. Jay und ich sind dagegen ein Herz und eine Seele, meistens zumindest. Wir schauen beide hoch als aus dem Gang lautes Poltern zu hören ist. Mein Blick geht rüber zu Jay und ich erwische mich, wie ich fragend eine Braue nach oben ziehe. Das ist eine beschissene Angewohnheit. Ich hasse es, wenn ich es bei meiner Mutter und Jackson sehe, erwische mich aber oft selbst dabei. Das sind diese blöden Shaw-Gene, die mir meine Mutter vererbt hat. Die Tür geht mit einem lauten Knall auf und Fynn steht im Zimmer, genauso wie vorhin Lilly. Nur ist der nicht auf 180, 180.000 trifft es eher.
„Edwards! Ich werde dir einen letzten Wunsch erfüllen. Also? Wie willst du sterben?“ Jay bleibt liegen und zuckt noch nicht einmal mit der Wimper. Auch nicht als Fynn sich vor seinem Bett aufbaut.
„Hey Black, was soll denn der Krach?“, frag ihn Jay.
„Jetzt hör mir mal genau zu!“, sagt Fynn gereizt. An der Tür taucht Max auf und lehnt sich lässig an den Rahmen. Ich sehe von ihm zu Fynn. Irgendetwas hat er ausgefressen.
„Ja, werde ich. Vielleicht erfahre ich dann, was dein Problem ist.“
„Willst du mich für dumm verkaufen? Du weißt genau, wovon ich spreche!“
„Nein!“ Langsam steht Jay auf und stellt sich vor seinen Cousin.
„Du verbreitest Gerüchte über mich!“
„Hä, bitte was? Was soll ich machen?“, Jay lacht auf. „Sind wir jetzt kleine Mädchen?.“
„Was soll er denn gesagt haben?“, will ich wissen. Ich riskiere kurz einen Blick zu Max und sehe wie sein Mundwinkel zuckt.
„Jay behauptet, ich würde Damenunterwäsche tragen.“ Kaum hat Fynn zu Ende gesprochen prustet Max los. Fynn und Jay sehen zu Max und ich kann nur den Kopf schütteln. Fynn macht einen Schritt auf Max zu. Ich erwarte, dass ihm gleich der Rauch aus den Ohren kommt. Jay hält ihn am Arm zurück. Warum ist er denn so gereizt. So schnell geht er eigentlich nicht in die Luft.
„Es tut mir leid Fynn. Aber ich konnte einfach nicht anders“, sagt Max und zuckt mit den Schultern.
„Meinst du es ist von Vorteil, wenn wir untereinander auf uns losgehen?“, frage ich gereizt.
„Mein Gott, Gabe. Reg dich ab. Ich wäre schon dazwischen gegangen, wäre es eskaliert.“ Max winkt genervt ab, dreht sich um und geht.
„Ja klar wärst du das“, ruft Jay ihm nach. „Du hättest es Gabe überlassen.“ Jay schüttelt den Kopf und setzt sich wieder.
„Das bekommt er zurück.“ Fynn hat sich etwas beruhigt.
„Wie bitte?“, Max kommt zurück ins Zimmer und bleibt nur wenige Zentimeter vor Fynn stehen. Das ging schnell.
„Du hast mir gestern die kleine Rothaarige ausgespannt.“ Als Fynn Max` Worte hört packt er ihn am Kragen und zieht ihn noch näher zu sich.
„Hör mal du Idiot! Die wollte doch gar nichts von dir. Aber du hast das im Rausch deiner Hormone gar nicht mitbekommen.“ Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Jay und ich können gar nicht so schnell reagieren.
„Ja.“ Max fängt an zu lachen. Bevor er noch ein weiteres Wort herausbekommt hat Fynn ausgeholt und verpasst Max einen Schlag, der ihn ziemlich mit dem Gleichgewicht kämpfen lässt. Als sich Max uns wieder zudreht, wischt er sich gerade das Blut aus dem Gesicht.
„OK, Jungs.“ Ich stelle mich zwischen die beiden, bevor Max die Chance bekommt sich zu revanchieren. „Von mir aus könnt ihr euch ruhig die Köpfe einschlagen. Aber nicht jetzt! Es reicht, dass unsere Mütter gereizt sind. Vorhin wäre meine Mutter fast auf Lilly losgegangen. Und am Ende bin sowieso ich an allem schuld, weil ich nicht dazwischen gegangen bin.“
„OK Gabe“, sagt Fynn als erstes. „Aber wie erklären wir das.“ Er deutet auf Max´ blutverschmierte Nase.
„Wie wäre es, wenn Max sich das Gesicht wäscht und allen erst einmal aus dem Weg geht? Und im Notfall können wir immer noch sagen, er wäre gegen meine Faust gelaufen“, schlägt Jay vor. Er hat Max schon zweimal die Nase gebrochen, da würde sich über ein weiteres Mal keiner wundern.
„Hmm, na ich weiß nicht“, sagt Fynn. „Nein, im Ernst.“
„Wir machen es so, wie Jay es vorgeschlagen hat.“ Er fängt bei meinen Worten an zu lachen und reibt sich die Hände, als würde er sich auf einen Schlag vorbereiten. „Ich rede davon, den anderen aus dem Weg zu gehen.“
„Schade“, sagt er enttäuscht. „Ich möchte nur sicher gehen, dass die Nase gebrochen ist.“ Er macht einen Schritt auf Max zu, der zwei Schritte zurückgeht.
„Hey man, lass das!“ Jay zuckt nur mit den Schultern.
„Wir haben morgen ja zusammen Kampftraining…“ Den Rest des Satzes lässt er unausgesprochen und schaut verträumt in die Luft. Dann schnappt er sich seine Sporttasche. „Ich gehe noch ein bisschen ins Fitnessstudio. Will jemand mit?“ Fynn und ich schütteln die Köpfe. Max brummt, holt aber ebenfalls seine Sporttasche. Na, wenn das mal gutgeht.

Max konnte ungesehen unsere Wohneinheit verlassen, so dass keiner etwas von der kleinen Auseinandersetzung mitbekommen hat. Ich hoffe nur, dass Jay sich zurückhält, wobei ich glaube, dass er Max vorhin nur aufziehen wollte. Fynn konnte mich dazu überreden mit ihm in die Bibliothek zu gehen. Das waren zwei Stunden meines Lebens, die ich nie wieder zurückbekommen werde. Gelesen habe ich nichts. Ich habe in einem der Bücher geblättert, ihn beobachtet und ab und an seinem Gemurmel zugehört. Davon verstanden habe ich nichts. Und mein Nachfragen hat ihn so aus seiner Bücherwelt gerissen, dass er einen Moment gebraucht hat bis er wieder wusste wo er war. Was er aber gemurmelt hat, wusste er nicht mehr. Und bei längerem Überlegen hätte ich sowieso nichts verstanden. Er hat eine komische Art, Dinge zu erklären. Am Ende bin ich meistens genauso schlau wie vorher auch.
Meine Gedanken wandern zu meinem Tagtraum, den ich vorhin hatte. Vor 14 Jahren, als wir das letzte Mal auf dem Drachentreffen waren, gab es einen Anschlag. Damals ist Julie, meine Schwester, sowie die Schwestern meiner Freunde ums Leben gekommen. Ich hatte schon immer das Gefühl nicht allein zu sein. Als wäre jemand in meinem Kopf oder würde neben mir stehen. Je älter ich wurde umso sicherer wurde ich mir, dass das nur Mac sein konnte. Es geht mittlerweile schon soweit, das ich sehen kann, was sie sieht. Mac und ich konnten uns noch nie direkt miteinander unterhalten. Ich habe in den letzten Jahren auch immer wieder versucht herauszufinden wo sie sich aufhält. Einmal konnte ich ein Gebäude sehen. Ich war damals so dämlich und habe es Fynn beschrieben. Er sollte für mich nach dem Gebäude suchen. Er musste es sofort seinem Vater erzählen. Der es wiederum meinem erzählt hat. Er würde sich Sorgen machen, meinte er damals. Ich habe mich einfach nur verraten gefühlt. Meine Eltern haben mich zwei Monate lang zum Psychologen geschleift. Mittlerweile weiß ich auch gut was ich den Ärzten erzählen muss. In meinem Traum bin ich geflogen, am Tag. Die letzten Male bin ich bei Nacht geflogen. War echt beschissen. Vielleicht rebelliere ich morgen und fliege am hellsten Tag. Bei dem Gedanken hellt sich meine Stimmung etwas auf.

Nach der Bibliothek lande ich vor dem Fernseher. Ich habe Glück. Das Wohnzimmer ist leer und ich habe meine Ruhe. Ich bin schon kurz vorm Einschlafen, als jemand den Raum betritt. Ich öffne die Augen und sehe meine Mutter auf der anderen Couch sitzen.
„Hallo mein Schatz. Geht es dir nicht gut?“, will sie wissen.
„Warum soll es mir nicht gut gehen?“ Ich habe kein gutes Gefühl, in welche Richtung dieses Gespräch gehen wird.
„Gabriel, ich möchte gerne mit dir über das Drachentreffen reden.“ Aha, wusste ich es doch. Ich setzte mich auf.
„Ich habe meinen Koffer gepackt. Du kannst ruhig nachsehen gehen.“
„Nein, das meine ich nicht. Ich möchte, dass du auf dich aufpasst. Du weißt was das letzte Mal passiert ist.“
„Mum! Ich bin 20 Jahre alt. Meinst du nicht, dass ich auf mich aufpassen kann? Ich weiß, dass du dir Sorgen machst. Aber du kannst mich nicht ewig beschützen.“ Ich versuche ruhig zu bleiben, wobei ein Teil von mir schon anfängt zu kochen.
„Beim letzten Mal wurde deine Schwester getötet!“
„Ich weiß Mum. Du erzählst es mir immer und immer wieder. Ich kann es nicht mehr hören. Und ändern kann ich es auch nicht.“ Es wird enden wie immer. Sie wird weinen.
„Gabriel, du bist alles was ich habe. Du bist mein Sohn. Ich möchte dich doch nur beschützen. Wenn ich daran denke, dich auch noch zu verlieren“, sie schluckt schwer.
„Es ist vierzehn Jahre her.“ Unbeabsichtigt wird meine Stimme schärfer. „Ich habe das Verstecken so satt. Ich kann nur nachts fliegen. Weißt du überhaupt, wie sich das anfühlt? Was das bedeutet? Weißt du, wie es ist eingesperrt zu sein?“
„Nein.“ Sie rutscht auf die Sofakante vor. „Aber ich weiß, wie es ist ein Kind zu verlieren. Und eines kannst du mir glauben. Ein Kind zu verlieren reicht mir. Wieso musst du nur so stur sein und hörst nicht auf mich?“
„Wieso?“ Meint sie das ernst? „Weil du mir keinerlei Freiräume lässt!“ Meine Stimme wird lauter und ich stehe auf.
„Du bist in Gefahr. Soll ich etwa zusehen …“
„Ich bin immer in Gefahr und ich werde mein ganzes zukünftiges Leben in Gefahr sein.“ Ich sehe auf sie hinunter und eine Träne läuft ihr über die Wange.
„Was wird das, wenn es fertig ist?“ Ich höre die Stimme meines Vaters. Klar, er muss ausgerechnet jetzt auftauchen! Ich sehe in nicht an.
„Nichts“, mehr sage ich nicht. Meine Mutter sieht mich flehend an.
„Wieso schreist du dann deine Mutter an?“
„Matthew, ist schon gut. Wir haben uns nur über das Drachentreffen unterhalten.“ Sogar vor meinem Vater versucht sie mich zu beschützen.
„Hast du ihm gesagt, dass er sich beim Treffen benehmen und nicht auffallen soll?“
„Jap, Dad hat sie.“ Jetzt sehe ich ihn doch an. „Allerdings, das mit dem nicht auffallen hat sie nicht erwähnt. Aber du denkst ja an alles, nicht wahr?“ Ich könnte jetzt aufhören, aber ich will es genauer wissen. „Ich soll also nicht auffallen? Wie sieht das deiner Meinung nach aus? Soll ich mir einen Sack über den Kopf ziehen?“
„Gabe, hör auf! Julie…“
„Mum, hör mit Julie auf! Du kannst sie nicht immer als Grund vorschieben!“ Meine Eltern schweigen. „Hat noch jemand was zu sagen?“ Immer noch kein Wort. „Gut, dann gehe ich in mein Zimmer. Und lasst mich bitte allein.“ An der Tür bleibe ich stehen. „Das wollt ihr doch? Das ich allein bin.“


© Samantha Ann Lewis


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