Lotta saß wütend und traurig auf der Treppe. „So ein Vollpfosten! Pah… der wird sich noch wundern, der kann mich mal und wenn der auf Knien angekrochen kommt, ich werd‘ ihn einfach ignorieren, den Idioten. So ein blöder Depp, wie kann der nur, der ist doch nuur noch doof, ist der. Schaut mich nicht mal an, der bescheuerte Typ, was hab‘ ich mir nur gedacht, der hat sie doch nicht mehr alle, dieser….“ Lotta fielen keine Schimpfwörter mehr für Lukas ein. Lukas war ein Typ aus der Nachbarschaft und eigentlich richtig süß… dachte Lotta bis eben. Doch hier, auf der Hochzeitsfeier ihrer Tante, auf der auch Lukas‘ Familie eingeladen war, hatte er auf ihre zarten Avancen so gar nicht reagiert. Dabei hätte er sich eigentlich freuen sollen, als Lotta ihm vorgeschlagen hatte, sich zusammen einen Film im Kino anzusehen. Das jedenfalls wäre ihr Plan gewesen und sie hatte allen Mut aufbringen müssen, selbst den Vorschlag zu machen. Aber gefreut hatte er sich nicht. Ganz im Gegenteil: er hatte erschrocken zur Seite geguckt, war rot angelaufen und stammelte sich eine Ausrede zurecht, die viel zu fadenscheinig war, um glaubhaft zu sein. Das hatte Lotta tief getroffen, sie fühlte sich zurück gewiesen und schämte sich ihrer Courage.

Lotta schniefte. Sie wischte sich die Nase am Handrücken ab und merkte, wie ihr die Tränen aus den Augen quollen. So wollte sie auf keinen Fall von irgendjemandem gesehen werden. Sie stand auf und lief die Treppe hinunter zu den Toiletten. Die erste Tür führte in einen Vorraum mit einem großen Spiegel, an dem Lotta vorbeilief und auf die „Damen“-Tür zusteuerte. Kurze Zeit später tauchte sie wieder auf und warf, bevor sie nach oben ging, noch einen Blick in den Spiegel. Vielleicht stand ihr das neue Kleid gar nicht so gut, wie sie beim Kauf gedacht hatte. Sie drehte sich und fand, dass sie vielleicht doch dick darin aussah. Überhaupt waren ihre Haare, die so langweilig einfach nur lang auf ihre Schultern fielen, weder blond noch lockig. Doppelt oede. Wahrscheinlich lag es daran: sie war ihm zu langweilig… wieder seufzte Lotta laut.

Sie wünschte sich plötzlich, mehr als alles andere, die Gedanken der Menschen lesen zu können. Ok, vielleicht nicht von allen, aber zumindest die von Lukas. „Das wär’s. Einmal Simsalabim, dreimal schwarzer Kater und das wär’s“ sagte sie laut sehnsüchtig. Sie erschrak, denn jedes Wort hallte laut von den gefliesten Wänden zurück. Sie wich automatisch einen Schritt zu Seite und stieß dabei gegen das Waschbecken. Sie verlor etwas das Gleichgewicht, machte einen Schritt nach vorn und wollte sich am Spiegel abstützen. Doch da war nichts, woran sie sich abstützen konnte. Um einen Sturz abzufangen, stolperte sie ein paar Schritte nach vorne… eigentlich hätte sie frontal gegen den Spiegel laufen müssen. Doch sie lief einfach weiter, durch den Spiegel hindurch und fing sich dahinter wieder. Überrascht drehte sie sich um und lief nun doch vor den Spiegel… allerdings von der falschen Seite. „Häh?“ Das war alles, was Lotta in diesem Moment denken konnte, so überrascht… nein: so perplex war sie. „Das gibt’s nicht…“ sagte sie leise zu sich und machte zwei Schritte nach vorne, um an den Platz vor dem Spiegel zurück zu kehren. Ging aber nicht, eine durchsichtige Wand war unmittelbar vor ihr und versperrte ihr ganz offensichtlich den Weg. Sie schaute hinter sich und blickte nur in eine dunkle, enge Nische, die mit dunklem Filz ausgelegt war. Na super. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie gesagt, sie wäre durch den Spiegel gegangen. „Aber das geht doch gar nicht…“ sagte sie zu sich, eher um sich selbst damit Mut zu machen, denn die Situation war wirklich unheimlich.

Da ging die Tür auf und jemand kam herein. Es war die Braut, Tante Gerda. Sie ging schnell und direkt durch die Tür zu den „Damen“, kurz darauf ging die Tür nochmal auf und der Bräutigam, er hieß Christoph, stürmte herein. Er hatte es sichtlich eilig und rannte zu den Herrentoiletten. Fast zeitgleich tauchten beide wieder auf und Lotta sah auf beiden Gesichtern gleichzeitig ein Aufleuchten, das sie anrührte. Wie zwei Magneten, die sich anziehen, trafen sich die Beiden in inniger Umarmung vor dem Spiegel. Lotta war es etwas peinlich, Zeugin dieses intimen Momentes zu sein und räusperte sich diskret. Das machte keinen Unterschied, also versuchte sie es mit einem lauten Räuspern. Nichts. „Äh… hallo, entschuldigt, ich störe nur ungern…“ Nichts. Mist. Lotta konnte sich der Situation nicht entziehen, denn der Spiegel war um sie herum geschlossen, sie konnte nirgendwo hin. „Hallo! Tut mir ja leid, Euch zu stören…!“ Die Brautleute ließen sich allerdings ganz offensichtlich nicht stören. Im Gegenteil: Christoph knutschte den Hals von Gerda genüsslich ab. „Ich…schmatz… würde dich jetzt… schmatz… am liebsten…schmatz… von diesem…schmatz… Traum in weiß… schmatz… befreien…schmatz“ Er küsste sie immer wieder und sie ließ sich das gerne gefallen, sie schloss dabei sogar genüsslich die Augen. Das war für Lotta nun denn doch des Guten zu viel: „Haaaalllloooo! Ich bin hier und ich kann Euch hören! Könntet Ihr bitte aufhören damit und mich hier befreien?! Das wäre nett!!!“ Lotta rief nun laut und deutlich.
Doch ganz offensichtlich war sie für Gerda und Christoph nicht zu hören, denn die reagierten überhaupt nicht. Lotta winkte, rief immer wieder so laut sie konnte „HALLO!!!!!“ und hüpfte im Spiegel auf und ab. Vergeblich. Christoph hingegen kam richtig in Fahrt und murmelte zwischen seinen Küssen „meine Frau…schmatz… Hallo Frau Gerlach… schmatz… du bist so lecker… schmatz“ und drängte Gerda gegen das Waschbecken. Nun konnte Gerda geradeaus auf den Spiegel gucken, deshalb hüpfte und winkte Lotta wie wild. Auch wenn Gerda zum Spiegel sah, schien sie Lotta überhaupt nicht zu bemerken, sie schien sich ganz auf die Liebkosungen ihres frisch gebackenen Ehemannes zu konzentrieren. Lotta rollte die Augen. Der hörte gar nicht mehr auf, das wurde langsam wirklich… das war schon bald nicht mehr jugendfrei, denn Christoph fing an, das Büstier von Gerda’s Hochzeitskleid etwas nach unten zu schieben. Lotta befürchtete schon schlimmes, als Gerda endlich dem Ganzen Einhalt gebot und ihren Mann zärtlich darauf aufmerksam machte, dass jederzeit jemand zur Tür herein kommen könnte und sie ja schließlich noch Gäste hatten.

Seufzend stellte Christoph seine Aktivitäten ein und als die Beiden kichernd ihre Kleidung wieder zurecht zupften und rückten, ging auch prompt die Tür auf. Frau Klein, die Mutter von Lukas, dem Vollpfosten, kam herein. Sie war offensichtlich gereizt, rang sich allerdings ein Lächeln ab, bevor sie sich in Richtung Toiletten entschuldigte. Das Brautpaar sah sich an, dann zuckten beide gleichzeitig mit den Schultern. Sie nahmen sich an der Hand und verließen den Raum. Lotta seufzte. „Muss Liebe schön sein…“ dachte sie und erinnerte sich sofort an Lukas und sein blödes Verhalten.“ Pfff… Blödmann… „ … weiter kam sie nicht, denn die Tür ging wieder auf und herein kam der Papa von Lukas. Auch er hatte wohl keine allzu gute Laune und ging sofort durch die Tür zu den Herrentoiletten. Einen Augenblick später kam Frau Klein zurück und hatte ganz offensichtlich geweint. Sie schaute sich beim Händewaschen im Spiegel an und wieder rannen Tränen über ihre Wangen. So wie sie da stand, wie ein Häufchen Elend, tat sie Lotta richtig leid. Doch auch sie schien Lotta nicht zu bemerken. Stattdessen betrachtete sie versonnen ihr Spiegelbild und versuchte dann, die Spuren ihres Gefühlsausbruchs mit Schminke und Puder zu überdecken. Sie zog sich grade den Lippenstift nach, als Herr Klein von der Toilette kam. Frau Klein zuckte zusammen und ihr Gesicht verhärtete sich, als sie ihren Mann ansah. Der schaute sie nur kurz an, zögerte einen kleinen Moment, so als überlegte er, was er tun sollte, doch dann drehte er sich auf dem Absatz zum Ausgang und verließ den Raum, ohne sich die Hände gewaschen zu haben. „Schwein…“ entfuhr es Lotta automatisch und sie schlug sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Aber Frau Klein konnte sie ohnehin nicht hören, wie’s aussah. Sie stand nur da und sah auf die Tür, durch die eben noch ihr Mann gefegt war. Ihr Gesicht war wie eine unbewegliche Maske. Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper, sie straffte sich, zog die Schultern zurück und mit einem Ausdruck der Entschlossenheit verließ auch die den Vorraum.
Lotta war allein. Sie klopfte den Raum hinter dem Spiegel ab, es musste doch hier irgendwo ein Ausgang sein… aber sie fand keinen. Bevor sich Panik ausbreiten konnte, wurde sie erneut durch das Öffnen der Tür abgelenkt. Ihr Onkel Werner trat ein und rannte fast durch die nächste Tür, er schien es wirklich eilig zu haben. Als er wieder kam, war er entspannt und summte vor sich hin. Lotta lächelte, denn ihr Lieblingsonkel war wirklich ein lieber und lustiger Kerl. Er war immer für einen Spaß zu haben und war zudem bei Zoff immer auf Lotta’s Seite. Sie betrachtete sein Gesicht im Spiegel gegenüber, mit seiner leicht krummen, etwas zu langen Nase. Sie hatte ihn wegen schon so oft damit aufgezogen und er hatte es ihr nie übel genommen. Seine grau-grünen Augen blitzten wie üblich voller Übermut und guter Laune. Lotta mochte sein Gesicht, das so viel Herzenswärme und Humor ausstrahlte. Im Moment waren die Wangen etwas gerötet, was darauf hinwies, dass er bereits ein paar Gläser Wein oder Bier auf das Wohl des Brautpaars geleert hatte. Lotta lächelte und betrachtete diesen liebenswerten Mann, wie er grade dabei war, dem Spiegel Grimassen zu schneiden, während er sich die Hände wusch. Dann drehte er sich um und warf einen Blick in den Spiegel, hinter dem Lotta stand. Sie hatte fast den Eindruck, er würde sie anschauen und winkte mit den Händen. Doch er sah sie nicht, er prüfte einfach nur seine Kleidung, zwinkerte Lotta oder sich selbst einmal lächelnd zu und ging zur Tür. „Onkel Werner!?“ versuchte es Lotta halbherzig und seufzte noch einmal, als sie die Tür hörte. Onkel Werner hielt die Tür mit einem freundlichen Grußwort für den nächsten Besucher auf.

Herein kam Lotta’s Cousine Christina. Lotta hatte sie noch nie ausstehen können, denn Christina war total arrogant und behandelte Lotta stets von oben herab. Die Geringschätzung in ihrer Stimme war auch heute deutlich zu hören gewesen, als sie sich nach der Trauung vor der Kirche getroffen hatten. Christina hatte Lotta von Kopf bis Fuß mit ihrem Blick gescannt und darauf aufmerksam gemacht, dass der Ton der Jacke wohl nicht optimal zur Farbe des Rocks passen würde. Die Art, wie sie so etwas sagte, reichte aus, um Lotta die Freude über das neue, teuer erstandene Kleidungsstück restlos zu vermiesen. Christina hatte reiche Eltern, sie war immer nach der neuesten Mode angezogen und hatte fast nur teure Designerklamotten im Schrank. Nun kam sie in den Raum, trat zum Waschbecken und holte aus ihrer Handtasche einen ganzen Beutel mit Schminksachen, die sie vor sich ausbreitete. Obwohl Lotta keinen Makel auf dem sorgfältig geschminkten Gesicht erkennen konnte, zog Christina den Lidstrich nach, frischte das Rouge auf ihren Wangen auf und malte ihre Lippen mit ihrem Chanel-Lippenstift nach. Lotta hätte zu gerne auch mal so einen teuren Lippenstift besessen, aber das war einfach nicht ihre Preisklasse. Seufzend betrachtete sie Christina in ihrem eleganten, schmal geschnittenen Hosenanzug, irgendein Edelteil, das sehr teuer aussah und ihr wie angegossen stand. Mist. Sie konnte einfach nicht mit Christina mithalten, was das styling anging. Wie auf’s Stichwort drehte sich Lotta’s Cousine nun zum großen Spiegel und betrachte eingehend ihre elegante Erscheinung. Doch statt zufrieden ihr Spiegelbild abzunicken, machte sie ein missbilligendes Gesicht. Sie drehte sich seitwärts, strich über den flachen Bauch und kniff sich in die Hüfte. Christina’s Mine verzog sich zu einer Grimasse voller Abscheu, als könne sie ihren eigenen Anblick kaum ertragen. Lotta betrachtete ihre Cousine völlig perplex. „Fett, fett, fett!“ schleuderte Christina ihrem Spiegelbild ins Gesicht. Lotta musste sich daran erinnern, dass Christina sie ja nicht sehen konnte, sonst hätte sie alles fast noch auf sich bezogen. So aber war klar: Christina fand sich zu dick. Vorsichtig ausgedrückt. Sie zwickte sich an den Hüften, am Bauch, an den Schenkeln und schlug sich selbst auf die Wangen. Lotta sah geradewegs in Christina’s Augen und sah nur noch Verzweiflung und Selbsthass. Es war erschütternd. Dabei fand Lotta sie wunderschön und perfekt, sie konnte nicht verstehen, weshalb ihre Cousine nur Makel an sich wahrzunehmen schien. Endlich ließ Christina von ihrer Selbstbestrafung ab, kämmte ihre Mähne und verkleisterte sie mit fast der Hälfte ihrer kleinen Haarspraydose zu einer perfekten Frisur, die nichts dem Zufall überließ. Gut, dass Lotta hinter einer Scheibe stand, sonst hätte sie im Haarspraynebel laut hustend um Luft ringen müssen. So aber staunte sie nur, als sie ihre Cousine am Ende perfekt gestylt zur Tür laufen sah. Hm. Das gab Lotta zu denken, diese Seite hatte sie noch nie an Christina bemerkt. Ihre Augen waren so voller Selbsthass gewesen, dass Lotta den Anblick kaum hatte aushalten können. Sie fragte sich, woher so etwas wohl kam. Sie dachte an das verweinte Gesicht von Frau Klein. Auch da hatte sie etwas davon gesehen. Beide Frauen taten Lotta auf einmal leid.

Doch sie hatte keine Zeit, sich weiter darüber Gedanken zu machen, denn wieder öffnete sich die Tür und Herr Klein kam herein. Auf Lotta hatte er immer einen eher einschüchternden Eindruck gemacht, für sie war er ein viel beschäftigter Banker, der keine Zeit für Teenies wie Lotta hatte. Deshalb beobachtete sie fassungslos, wie er jetzt hier stand und den Eindruck machte, als wäre er auf der Flucht. Er stellte sich vor ein Waschbecken und atmete heftig. Er stand mit dem Rücken zu Lotta’s Spiegel, doch es war deutlich zu sehen, dass jede Faser seines Körpers angespannt war. Seine Hände, sie sich auf dem Waschtisch abstützten, waren zu Fäusten geballt und die Knöchel traten weiß hervor. Er stand ein paar Minuten nur so da, dann ließ die Spannung etwas nach, die Hände lösten sich leicht, der Atem wurde langsamer und tiefer. Er blickte auf und Lotta sah den immer noch gehetzten Blick in seinen Augen. Herr Klein rieb sich seine Knöchel, es sah aus, als ob seine Hände um Lösungen ringen wollten, die sein Verstand nicht finden konnte. Er wusch sich die Hände und machte sich danach das Gesicht nass. Das Wasser tropfte von seinem Kinn, als er sich im Spiegel gegenüber betrachtete. Die Gesichtsmuskulatur war erschlafft, als hätte sein Gesicht schon aufgegeben, während der Rest noch kämpfte. Unendlich traurige Augen waren im Spiegel zu sehen und plötzlich fing er an zu schluchzen. Lotta konnte nur zusehen, wie seine Schultern zuckten, sein Kopf sank auf seine Brust und Herr Klein weinte lautlos. Endlose Momente vergingen, es war ganz still in dem Raum, doch dann spielte die Musik oben im Saal einen Tusch und die Musik riss den weinenden Mann aus seiner Lethargie. Er spritzte sich nochmal Wasser ins Gesicht und trocknete sich danach sorgfältig ab. Dann fingerte er sich eine Zigarettenschachtel aus der Westentasche und suchte nach einem Feuerzeug. Er straffte sich, wie schon seine Frau einige Zeit vor ihm und ging dann hinaus, vermutlich um vor der Tür zu rauchen.

Bevor sich Lotta einen Reim aus dem Geschehenen machen konnte, kam schließlich Lukas herein und ging durch für „Herren“. Als er wieder kam, sah Lotta, dass er nicht wie sonst wirkte. Er ging leicht gebeugt, als würde er bei Gewitter den Kopf einziehen. Lotta sah seine Augen, als er sich die Hände wusch. Sie sah Verwirrung, Angst und die gleiche Verzweiflung in ihnen, die sie auch schon bei seinen Eltern gesehen hatte. Das bedeutete nichts Gutes. Auch Lukas stand vor dem Spiegel und rührte sich nicht. Dann holte er aus seiner Hosentasche ein Matchbox-Auto, einen kleinen roten Ferrari. Versonnen betrachtete er das Spielzeug, dann fuhr er mit ihm auf dem Waschtisch entlang, wobei er Motorengeräusche nachmachte. Erschrocken beobachtete Lotta ihn, wie er dann neben dem Waschtisch an die Wand gelehnt nach unten sackte um im Sitzen mit dem Matchbox-Ferrari an seinen Beinen hoch und runter zu fahren. „Ein kleiner Junge… er benimmt sich wie ein Kind…“ staunte Lotta. Sie reimte sich zusammen, was sie eben gesehen hatte. Lukas‘ Eltern hatten ernste Eheprobleme, wie es schien. Und Lukas litt. Er glitt dabei zurück in Kindertage, als die Welt für ihn noch in Ordnung war, überlegte Lotta. Eine ganze Zeitlang hingen Lukas und Lotta so ihren Gedanken nach. Es war sehr still im Raum. Da waren drei Menschen einer Familie und alle litten, doch jeder war mit seinem Kummer allein. Lotta fand das sehr traurig. Sie stand da, seufzte leise und betrachtete den süßen Jungen, der jetzt viel Zuwendung brauchte, aber nicht von ihr. Nicht die Art von Zuwendung, die sie ihm hatte geben wollen. Das war eindeutig der falsche Moment, das erkannte Lotta nun. Sie erkannte auch, weshalb Lukas‘ Reaktion auf ihre Einladung so anders als erwartet war. Sie konnte ihn nun verstehen und ihm sogar verzeihen. Das war ein gutes Gefühl.

Etwas polterte gegen die Tür und ließ Lukas vor und Lotta hinter dem Spiegel hochfahren. Es war der Freund von Gerda’s bester Freundin. Lotta meinte sich zu erinnern, dass er Harald hieß. Er war wohl schon ziemlich betrunken und schimpfte halblaut vor sich hin, ohne dass Lotta irgendwas verstanden hätte. Er torkelte durch die Tür und gleich weiter zu den Toiletten, ohne jemanden zu bemerken. Lukas stand rasch auf und verschwand wieder.
Dafür kam nach einiger Zeit Harald zurück und wusch sich mit gesenktem Kopf die Hände. Er schien wieder etwas nüchterner zu sein, jedenfalls wankte er nicht mehr und seine Bewegungen waren recht koordiniert. Lotta mochte Harald nicht besonders, denn er hatte auch im nüchternen Zustand eine laute und polternde Art an sich. Lotta ging ihm lieber aus dem Weg doch genau das war jetzt nicht möglich, also sah sie zu, wie Harald nach dem Händewaschen seine Zähne im Spiegel fletschte. Er wollte wohl sicher gehen, dass sich nichts in den Zwischenräumen verfangen hatte. Das überraschte Lotta ein wenig, für so eitel… oder gepflegt(?) hatte sie ihn nicht gehalten. Harald drehte sich vom Waschbecken weg und prüfte sein Spiegelbild in dem großen Spiegel, in dem Lotta stand. Nun konnte sie ihn ungesehen aus der Nähe betrachten. „Ach, eigentlich sieht er gar nicht sooo ungehobelt aus“, dachte sie sich. Sie schaute ihm in die Augen und fand sie …nett. Bei näherer Betrachtung sah er aus, als hätte er ein großes Herz. Seine Mundwinkel zeigten auch dann nach oben, wenn er nicht lächelte. Er sah an sich hinunter und legte eine Hand auf seinen deutlich sich abzeichnenden Bauchansatz, dann seufzte er und versuchte, sein Hemd so zu drapieren, dass es so viel wie möglich kaschierte. Das fand Lotta sympathisch, ja schon fast rührend, denn sein Gesichtsausdruck dabei war hoch konzentriert. Es war ihm offenbar wichtig, gut auszusehen. Er zupfte sein Hemd zurecht und fuhr sich durch die wirren Haare, die sich trotz aller Bemühungen einfach nicht wirklich bändigen ließen. Lotta dachte daran, dass auch sie immer wieder mit ihren widerspenstigen Strähnen zu kämpfen hatte. Also eigentlich… Lotta schaute ihm aus der kurzen Distanz hinter dem Spiegel ins Gesicht… war er doch ein wirklich sympathischer Mensch. Auch Harald guckte konzentriert in den Spiegel und einen Augenblick lang schien es, als träfen sich ihre Blicke. Beide fuhren erschrocken zurück und wussten nicht, was sie eben gesehen hatten – oder wen. Lotta und Harald schüttelten gleichzeitig den Kopf und wunderten sich. Harald warf noch einen Blick auf seine Gestalt im Spiegel, runzelte einen Moment lang die Stirn und drehte sich zum Ausgang, um wieder zur Hochzeitsgesellschaft zurück zu gehen.

Als die Tür sich hinter ihm schloss, ließ Lotta leise die Luft durch die Zähne entweichen. „Das war ja der Hammer… als ob er mich einen Moment lang hätte sehen können… wie krass!“ Wieder schüttelte Lotta den Kopf. Eines stand definitiv fest: kein grober Klotz, wie Lotta gedacht hatte, war Harald ganz und gar nicht. Ganz im Gegenteil schien er viel feinere Sinne zu besitzen, als viele andere.

Wieder einmal ging die Tür auf und Lotta’s Mutter erschien im Blickfeld. Auch sie hielt sich erst einmal nicht lange auf, sie ging gleich durch zu den Toiletten. Als sie wieder erschien, sah Lotta sie, vielleicht zum ersten Mal, mit mehr Abstand und objektiver als sonst. Lotta’s Mama war keine ausgesprochen schöne Frau, aber sie hatte eine feine und warmherzige Ausstrahlung. Ihr Outfit war lange nicht so elegant wie das von Christina und ihrer Mama, aber geschmackvoll und zu ihrem Typ passend, fand Lotta. Sie sah ihrer Mutter zu, wie sie sich mit sicheren, sparsamen Bewegungen die Hände wusch... Lotta dachte daran, wie sie von ihrer Mama immer lautstark und energisch verlangt hatte, ihr den Rücken zu kratzen, als sie noch klein war. Das hatte sie auch stets getan: zärtlich und mit warmen Händen hatte sie Lotta mit ihren kurzen Fingernägeln über den Rücken gestrichen. Lotta hatte es geliebt und genossen. Viele Erinnerungen tauchten auf und füllten Lotta’s Herz mit einem warmen Gefühl.

Lotta’s Mama drehte sich zum großen Spiegel und betrachtete sich kurz im Spiegel. Lotta sah die vertrauten Falten, die sich auf ihrer Stirn bildeten. Sie wusste, dass ihre Mutter mal wieder damit haderte, dass ihre Figur eher rundlich weich aussah als rank und schlank. Am liebsten hätte sie ihr gesagt, wie gut sie aussah und dass sie für Lotta genauso, wie sie war, wunderschön war. Lotta drückte die Nase gegen den Spiegel, als ihre Mutter sich entfernte. Sobald die Tür zu klappte, seufzte Lotta und machte sich Gedanken: zu ihrer Mama, zu den Menschen, denen sie aus ungewohnter Perspektive plötzlich ganz nahe gekommen war und ganz besonders zu den Menschen, die sie vorher ganz anders eingeschätzt hatte. Wie gut, dass offenbar eine ganze Weile niemand mehr zur Toilette musste, Lotta hatte Zeit ungestört nachzudenken. Allmählich aber wurde es ihr zu viel. Sie fand, sie war lange genug hier im Spiegel eingesperrt gewesen. Sie wollte wieder raus, sie wollte sich der Hochzeitsgesellschaft anschließen, sie wollte tanzen und Spaß haben. Vielleicht wollte sie auch Lukas einfach nur die Hand auf den Arm legen und ihm sagen, dass sie für ihn da wäre. Als Freundin. Mehr nicht, sie hatte begriffen, dass Lukas noch Zeit brauchte um zu einem Mann zu werden.

Sie lehnte sich an den Spiegel und überlegte. Wenn sie hier rein gekommen war, konnte sie auch wieder raus, das war nur logisch, egal wie unglaublich die Situation an sich war. Lotta machte sich gerne über ihre Mutter lustig, die an Feen, Elfen, Engel und so’n Gedöns glaubte. Sie selbst war stolz darauf, wie ihr Papa mit beiden realistischen Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen zu stehen. Wenn sie aber ganz ehrlich war, hoffte sie insgeheim, dass in ihrer so realistischen Welt tatsächlich auch magische Wesen existierten und dass Wunder geschehen konnten. Jetzt zumindest brauchte Lotta eins, das stand fest. Sie fragte sich, wie sich ihre Mutter wohl jetzt verhalten würde und seufzte. Sie hatte im Grunde keine Ahnung, weil sie zu sehr damit beschäftigt gewesen war, sich von ihrer Mama abzugrenzen. Ok, dann musste es eben auf ihre eigene, auf Lotta-Art gehen…

Lotta konzentrierte sich. „Ok, ich bin irgendwie durch den Spiegel gegangen. Jetzt will ich wieder zurück, denn ich hab‘ noch was vor. Simsalabim.“ Sie tastete nach dem Glas und spürte es deutlich: glatt, kalt und hart. So ging’s also nicht. Lotta startete einen erneuten Versuch: „Ich habe Menschen gesehen, wie sie wirklich sind, ohne Maske und Theater. Das war spannend, ich hab‘ vieles erfahren und gelernt. Nun will ich aber nichts lieber als wieder durch den Spiegel zurück. Danke.“ Lotta atmete ein und drückte gegen den Spiegel. Nichts. Sie saß fest. Aber sie gab nicht auf. „Alles klar. Ich bin durch den Spiegel gegangen und habe viel erfahren. Danke dafür. Nun möchte ich aber gerne wieder zurück zu meiner Familie und zu meinen Freunden. BIIIITTE!!!!!“ Das letzte Wort sagte Lotta mit flehendem Ton. Wieder versuchte sie, gegen den Spiegel zu drücken. Kein Widerstand, nur Leere. Lotta machte einen großen Schritt aus dem Spiegel heraus und lächelte, während sie eine große Welle der Erleichterung spürte. „Na sowas!“ sagte sie halblaut zu sich selbst. „Wer hätte gedacht, dass bitte tatsächlich ein Zauberwort ist.“

Lotta warf einen letzten Blick zurück auf ihr Spiegelbild, das ihr der große Spiegel zurückwarf, als wäre es nie anders gewesen. „Danke.“ Lotta sprach’s dieses Mal aus ganzem Herzen. Sie verließ den Raum und ging zurück in den Saal, wo sie sich auf ihren Platz neben ihrer Mutter setzte. „Na, Du warst aber lange weg. Alles klar?“ meinte ihre Mama lächelnd. „Ja, alles klar!“ antwortete Lotta mit so viel Wärme, dass ihre Mama sie überrascht anschaute. „Übrigens: du siehst heute toll aus, Mama.“ Die Antwort war ein sehr überraschtes, strahlendes Lächeln ihrer Mama, die klug genug war, nicht weiter nachzufragen.


© Irene Lichtenberg


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