Über den Bäumen


Das Blattwerk eines überdimensionalen Baumes vor meinem Fenster versperrt mir die Sicht nach draußen. Nur das Licht der auf dem Parkplatz stehenden Laterne schimmert schwach hindurch. Ich sehe ein Stück Asphalt und ein blaues, halb verbeultes Auto. Für Kassels Verhältnisse ist dies noch ein ungewöhnlich positiver Zustand – na gut, wenn man den Marder außer Acht lässt, der mit einem Stück Kabel im Mund aus dem Auto aussteigt und in sein neues Versteck huscht: unseren Keller.
 Hoch oben, jenseits des grünen Riesen, der mir als Gardine dient, sucht mein Auge vergeblich nach Sternen. Der Lichtsmog der Großstadt verhindert jenen bezaubernden Anblick, der nur außerhalb größerer Orte noch zu finden ist.
 Draußen in den Wäldern, mehrere Hundert Kilometer entfernt vom Ballungszentrum des überfüllten Schmutzes, fern von Hektik, Lärm und Kriminalität, dort wird es plötzlich still. Das Rauschen der Autos ist nun ein Wasserfall. Hupen und Martinshörner der Polizeiautos erinnern an eine Horde Elefanten, die durch den Dschungel turnen.
 Farbenfroh blühen Blumen, Hängepflanzen Farne und Moose. Exotische Früchte werden von noch exotischeren Tieren genussvoll verschlungen. Ein Äffchen krallt sich im Fell seiner Mutter fest. Sie klettern einen Mammutbaum hoch, um einem Schwarm aufgescheuchter Hornissen zu entfliehen.
 Ich klettere nun auch hoch, begleitet vom Summen und Zirpen jener fremden und faszinierenden Welt. Tautropfen perlen von den Blättern ab und beleben meine Sinne. Ich erklimme die Baumwipfel des Regenwaldes und sehe bei Nacht eine unerschöpfliche Vielfalt an Himmelskörpern. Sternbilder werden durchkreuzt von Kometen, von fallenden Sternen oder den Nebeln längst erloschener Sterne. Rätselhaft fluoreszieren einige kleinere Tiere, die um meinen Kopf herum um die Baumkrone schwirren.
 Ich senke den Blick wieder. Ich sehe das Bild meiner Fantasie nicht mehr. Nur der graue Himmel liegt über mir und von draußen tönt die Sirene der Polizei in mein Zimmer hinein. Ein Obdachloser stößt wie jede Nacht seine Flüche aus. Flaschen zersplittern. Kassel ist so grau und verdorben, dass es mich erdrückt.
 Doch ich schließe das Fenster wieder. Ich sehe nur ein leeres Blatt und einen Stift. Im flackernden Licht meiner Großstadt-Bruchbude schmiere ich völlig übermüdet ein paar Worte aufs Blatt. Ich lese den ersten Satz, dann den zweiten. Ich trinke Kaffee und kleckere auf das Papier.
 Beim nächsten Wimpernschlag befinde ich mich wieder auf dem Baum im Regenwald, umgeben vom tropischen Pflanzenteppich. Einige winzige Vögel glitzern im Licht der Sonne, die nun aufgeht und sich majestätisch in nie da gewesener Pracht über das aufblühende Land erhebt.


© Varia Antares


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Beschreibung des Autors zu "Über den Bäumen"

Fantasie kann uns beflügeln. Egal, wo wir sind, egal, was um uns herum passiert – durch Fantasie können wir uns wohlfühlen. Durch Schreiben oder mündliches Erzählen können wir vorübergehend in eine schönere Welt eintauchen, ein bisschen Kraft tanken und dann gestärkt in die Wirklichkeit zurückkehren.

Die Idee zu diesem Text kam mir, als ich nachts aus dem Fenster meiner alten Wohnung blickte.

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Kommentare zu "Über den Bäumen"

Re: Über den Bäumen

Autor: Verdichter   Datum: 01.11.2017 17:02 Uhr

Kommentar: Ja, liebe Varia, unsere Fantasie kann uns aus dem grauen Alltag entführen - wohin wir wollen.

Gruß, Verdichter

Re: Über den Bäumen

Autor: possum   Datum: 01.11.2017 21:45 Uhr

Kommentar: Dies ist dir wundervoll gelungen liebe Varia, gerne habe ich dein Werk besucht, liebe Grüße!

Re: Über den Bäumen

Autor: Varia Antares   Datum: 02.11.2017 18:35 Uhr

Kommentar: Danke für das freundliche Feedback!

Einen wunderschönen Abend euch beiden!

:-)

Re: Über den Bäumen

Autor: Piscium   Datum: 18.12.2017 3:27 Uhr

Kommentar: "blaues halb verbeultes Auto"..."der Marder" --> na warte ;-)
"flackernden Licht meiner Großstadt-Bruchbude" ok :-I

Re: Über den Bäumen

Autor: Varia Antares   Datum: 18.12.2017 3:44 Uhr

Kommentar: Du bist ja noch wach ... Und ich seltsamerweise auch. :-0

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