Pfad der Vergessenen - Kapitel 2

Schon als die ersten Sonnenstrahlen den Himmel durchbrechen und die Berge in goldenes Licht gehüllt werden, sitzt Keira mit einer Tasse Kamillentee am Küchentisch und geniesst die Ruhe des Morgens. Sie war schon immer ein Frühaufsteher und liebte es den Tau von den Kleeblättern zu trinken, den frischen Wind auf ihrer Haut zu spüren und barfuss durch die nassen Felder zu rennen. Und obwohl der wolkenlose Himmel einen wunderbaren Tag verspricht, hängen Keiras Gedanken immer noch am gestrigen Abend. Es beschämt sie, dass Menschen so über sie reden und überhaupt so denken. Es wundert sie, dass das wertvolle Wissen über das Heilen verpönt wird, aber die Menschen lieber an Götter und deren Macht glauben, als ihr Glück selber in die Hand zu nehmen.
"Guten Morgen, Schwester." Die Stimme von Bradin, ihrem ältesten Bruder, reisst sie aus ihren Gedanken. "Guten Morgen, Bruder. Gut geschlafen?", murmelt Keira und lächelt ihn müde an. Seine schwarzen Locken stehen ihm wirr vom Kopf und bilden einen schönen Kontrast zu seiner bleichen Haut und den braunen Augen.
Bradin nickt und setzt sich ebenfalls mit einer Tasse Tee zu ihr an den Tisch.
"Was für ein schöner Morgen - und ich muss den ganzen Tag verbringen", murmelt er und streckt sich ausgiebig. Bradin lehrt bei Meister Marton die geheime Kunst der Alchemie und schon oft ist er mit Verbrennungen und schlimmen Husten nach Hause gekommen, doch er liebte seine Arbeit.

"Wieso wurde die Magie eigentlich verboten?", fragt Keira ihn nach einer Weile und blickt ihn neugierig an.
Nachdenklich lehnt er sich in den Stuhl zurück und streicht sich über seinen Stoppelbart.
"Gute Frage. Ich denke weil Magie nicht mehr zu uns gehört. Es ist chaotisch, unberechenbar, fast barbarisch. Sieh dir Almor an!", sagt er und zuckt dann mit den Schultern. Traurig nippt Keira an ihrem Tee. Wie Recht er doch hat! Die grösste Stadt in Siar ist berühmt für seine komplexen Maschinen und Geräten und symbolisiert die Macht der Menschen. Sogar auf ihrem Wappen prangt der Satz: "Agus a chrathú" - Denke und erschaffe!
"Sag mal, wieso interessiert dich das plötzlich. Hat dir Vater gestern etwas von seinem Auftrag erzählt?", fragt Bradin und mustert sie mit besorgtem Blick. "Nein, nur das sie davon ausgehen, dass es eine Botschaft an den König war", nuschelt sie. Mit gerunzelter Stirn und seinem durch dringlichen Blick lehnt er sich zurück.
"Pass bitte auf dich auf, wenn du heute zu den Kunden gehst. Wie du ja weisst...".
"Ja, ich weiss!", unterbricht ihn Keira und steht wütend auf. "Ja ich weiss, dass es gefährlich ist!" Mit Tränen in den Augen packt sie ihre kleine Tasche und ihre Wolljacke und verlässt das Haus. Der kalte Morgenwind peitscht durch ihre Haare und mit geballten Händen rennt sie den kleinen Weg zum Stadttor empor. Vorbei an den Höfen der Bauern, den saftigen Wiesen und goldenen Kornfelder, vorbei an den Wachen und den alten Weibern, die ihre nasse Wäsche zum Trocknen aushängen. Erst als Keira das fröhliche Lachen der Kinder hört, welche am Strassenrand mit Steinen spielen, beruhigt sie sich und freut sich auf ihre bevorstehende Arbeit.

"Dies sollte den Husten lindern!", flüstert Keira mit leiser Stimme und verstreicht die Salbe vorsichtig auf ihrer Brust. Die alte Frau liegt schweissgebadet im Bett und ihre Augenlider flattern, als die kühle Salbe ihre Haut berührt. Der herbe Duft nach Salbei, Fichte und Thymian erfüllt den kleinen Raum und überlagert den beissenden Geruch von Schweiss und Erbrochenem. Obwohl es erst früh am Morgen ist, scheint die Sonne bereits hell ins Zimmer und vertreibt all das Böse. Ein letztes Mal legt sie das kühle Leinentuch auf ihre Stirn, um das Fieber zu senken und wendet sich dann zu der besorgten Tochter zu. "Reiben sie diese Salbe jeden Abend auf ihre Brust und ihrer Mutter wird es bald besser gehen.", flüstert Keira und gibt der jungen Frau das kleine Gefäss. Dankbar blickt sie sie mit geröteten Augen an und drückt ihr zwei Goldmünzen in die Hand. Mit einem höflichen Nicken verlässt Keira das kleine Haus und betritt die Gassen von Seydar. Der kühle Morgenwind weht durch ihre Haare und lässt sie aufatmen. Zufrieden zupft sie ihr Kleid zurecht und schlendert gemütlich die kleine Strasse hoch. Sie mochte diesen Teil der Stadt schon immer. Kleine Geschäfte reihen sich der Gasse entlang, der Boden ist sauber und die Häuser mit bunten Blumen dekoriert. Alles wirkt so friedlich, fast paradiesisch. Der feine Geruch nach duftendem Brot strömt ihr entgegen und lässt ihr Magen knurren. Vor der Bäckerei bleibt sie stehen und spielt unschlüssig mit der Goldmünze. Obwohl das Geld für ihr Vater bestimmt ist, beschliesst sie ein Leib Brot für den Hunger zu kaufen und betritt die kleine Backstube. Sofort erblickt sie Selma, eine rundliche Frau die immer ein Lächeln auf dem Gesicht hat und in der Stadt für ihre Geschichten und Geschwätz bekannt ist. Gerade unterhält sie sich mit einer dürren Frau und währendem Keira ihren Blick über die frischen, knusprigen Brote schweifen lässt, lauscht sie gespannt den Worten der Bäckersfrau. "...mein Mann erzählte mir, dass es wohl düstere Wesen sein sollten. Weisst du, diese aus den uralten Legenden." Verschwörend blicken sich die beiden Frauen an. "Und hast du das Heulen in der Nacht gehört? So schreckliche Geräusche machen keine Wölfe!". "Pah, ich sag dir! Die wollen unsere Stadt besetzten. Aber nicht mit uns! Nicht wahr, Kleines?" Selmas mustert Keira prüfend und wendet sich dann wieder der Frau zu. Leise unterhalten sie sich, ehe die Frau mit grimmigem Gesicht die Bäckerei verlässt und Selma ihr mit  einem breiten Lächeln ein Leib knuspriges Brot übergibt.

Als Keira endlich den Laden verlässt, schwirrt ihr Kopf von dem lauten Lachen von Selma und deren vielen Geschichten über ihre Kinder. Glücklich reisst sie sich ein Stück Brot ab und setzt ihren Weg fort. Was die Frau wohl für Wesen gemeint hatte? Wahrscheinlich irgendwelche Ammenmärchen, die sie ihren armen Kinder als Gute Nacht Geschichte erzählen.
Lächelnd biegt sie in eine kleine Seitenstrasse ein, welche hier auch als Werkgasse bezeichnet wird. Bereits von Weitem hört sie das vertraute Hämmern auf Eisen, das Rattern der Steine und der Geruch nach Feuer und Metall dringt in ihre Nase. Sofort erinnert sie sich an die vielen schönen Momenten, die sie hier verbracht und die grossen Abenteuer, die sie mit ihren drei Brüdern erlebt hatte. Mit kleinen Holzbooten haben sie am reissenden Bach gespielt und wie oft flüchteten sie lachend vom erzürnten Müller, bis sie nach Luft schnappend, lachend am Boden lagen. Doch der schönste Ort war immer noch die alte Werkstatt von  Meister Iaran. Dort wo das Feuer Tag und Nacht loderte und wo stumpfe  Schwerter und Messer gewetzt wurden, bis sie im Licht der Sonne funkelten. Für Keira ist es ein magischer Platz. Auch heute noch liebte sie es, seinen Geschichten über mystische Gestalten oder seinen Reisen durch den Norden zu lauschen. Doch heute hatte sie einen anderen Grund für ihren Besuch.
Der alte Mann erwartet sie bereits mit offenen Armen am Eingang seiner Werkstatt und seine braunen Augen leuchten so hell wie das Feuer in der Schmiede.
"Da bist du ja endlich, Lasie! Komm her mein Kind!", ruft er und zieht Keira in seine stämmigen Arme.  "Sei gegrüsst, Iaran. Wie geht es dir?", sagt sie und streicht sich lächelnd den Russ vom Gesicht. "Gross bist du geworden!", brummelt er und mustert sie stolz wie seine eigene Tochter. "Ich danke dir! Aber ich bin wegen etwas anderem gekommen." "Komm, ich muss dir was zeigen!", unterbricht Iaran sie und verschwindet humpelnd in seiner Werkstatt. Keira wusste, dass der alte Mann nicht gerne die Hilfe von anderen annimmt, vor allem wenn es um seine Gesundheit geht. Er war stur wie ein erkaltetes Metall und für seine doch schon 80 Jahre, steckte in ihm der Trotz und die Naivität eines Kindes. Kopfschütteln folgt Keira ihm in die Schmiede, wo er bereits mit strahlendem Gesicht und etwas glänzendem in den Händen auf sie wartet.  "Sieh mal, dass habe ich bei den Mienen gefunden.", flüstert er und streckt ihr ein goldenes Horn entgegen. Verwirrt mustert Keira das vergoldete Geweih, welches sich in eleganten Drehungen zu einer messerscharfen Spitze formt. "Ein Widderhorn!", murmelt sie ehrfürchtig und hält es vorsichtig in die Sonne. Als Kind hatte sie in Almor das erste und letzte Mal ein solches Tier gesehen, ehe es den Göttern geopfert wurde - wahrscheinlich eines der letzten seiner Art. In Siar stand der Widder als Zeichen für die Wildheit, das unbändige Chaos und die Finsternis der Magie und galt als schreckliches Vorzeichen für Tod und Verderben. "Als ich es gefunden habe, war es blutverschmiert. Es schien mir so, als hätte es jemand brutal herausgerissen!", murmelt Iaran mit geheimnisvoller Stimme und seine Augen funkeln aufgeregt. Ein Schauer jagt über Keiras Rücken und sie blickt den alten Mann mit gerunzelter Stirn an. "Aber alle Widder wurden doch getötet oder in den Norden geschickt?", murmelt sie und fährt mit ihren Finger über das gerillte Horn. "Ohja, Lasie! Ein grausiges Abkommen war das. Der blutrünstige König Guma forderte damals fünfzig Dutzend von Widder. Genau so viele, wie seine Kämpfer, welche in Kampf gegen das westliche Königsreich gefallen sind. Was war das für eine grässliche Zeremonie, mein Kind! Noch heute siehst du das riesige Feld, welches sich an der Grenze zwischen Siar und Nurba wie eine ockerfarbene Wüste erstreckt. Legenden besagen, dass zu jedem Leermond die Toten aus der Erde steigen und.." "Vater! Was erzählst du wieder für Märchen! Du siehst doch, dass die gnädige Keira wegen etwas anderem gekommen ist!" Die laute Stimme unterbricht die schauderhaften Geschichten von Iaran, welche leise fluchend das Horn in eine Truhe wegsperrt.
Keira dreht sich zu ihm um und blickt in die blauen Augen von Mael, welcher im glänzenden Harnisch im Türrahmen steht. Höflich verbeugt sie sich, ehe sie mit gespielter Abneigung sich wieder Iaran zuwendet. "Du hast deinen Sohn gehört. Da er nun in der obersten Garnison arbeitet, müssen wir ihm wohl gehorchen!", sagt sie zynisch und ohne Mael einen Blick zu würdigen, verschwindet sie durch die Nebentür in das kleine Haus. Das Feuer knistert im Ofen und ein köstlicher Geruch nach gebratenem Fleisch erfüllt den kleinen Raum. Aus der Küche ertönt das Scheppern von Töpfen und das fröhliche Pfeifen von Berit, welche mit gerötetem Gesicht den dampfenden Eintopf umrührt.
"Sei gegrüsst, Keira. Bleibst du noch zum Mittagessen? Owen hat heute morgen sein erstes Kaninchen erlegt!", ruft sie erfreut. "Fáilte, Berit! Da kann ich nicht nein sagen, bei deinen Kochkünsten!", spricht Keira und Freude durchflutet sie. "Aber zuerst müssen wir deinen Mann verarzten!" Ein hämisches Lachen ertönt aus der Küche und Iaran grummelt missmutig vor sich hin.
"So, Iaran. Nun zeig mir mal deinen Fuss!", befielt sie mit ernstem Ton und kniet sich zu ihm hinunter. Vor ein paar Tagen kehrte er spät Abends, leicht angetrunken, nach Hause zurück und wollte die Hufeisen für die Pferde des Königs noch fertig schmieden. Dummerweise fiel ihm das glühende Eisen auf den Fuss, welcher nun krebsrot glüht und mit Brandblasen übersät ist. Wahrscheinlich hat er mit seinem Fluchen die ganze Nachbarschafts zu Tode erschreckt.
Nachdem Keira die Verletzung mit einer kühlenden Salbe eingerieben und alles in frische Leinentücher eingewickelt hatte, klopft sie ihm aufmunternd auf den Rücken.
"So, ich hoffe du hast was draus gelernt!", sagt sie und lächelt ihn amüsiert an. Iaran bricht in lautes Gelächter aus und erntet von seiner Frau einen verächtlichen Blick.
"Du sprichst wie eine weise Frau, Tochter von Kian Ciallmhar! Dein Vater hat dir viel beigebracht!", grunzt er und mustert Mael, welcher gerade zur Türe herein kommt. "Im Gegensatz zu meinen Söhnen, hast du wenigsten Anstand!"
Ein leichtes Lächeln huscht über Keiras Gesicht, als sie das gerötete Gesicht von Mael sieht und ihr Ärger von gestern verfliegt sofort. "So, jetzt wird nicht gestritten", ruft Birgit und stellt einen grossen Topf auf den Holztisch.
Im Nu haben sich alle versammelt und geniessen den saftigen Kaninchenbraten mit Kartoffeln und Karotten. "Wo ist eigentlich dein Vater?", fragt Berit nach einiger Zeit und alle Blicke richten sich auf Keira. Nervös streicht sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und zögert mit ihrer Antwort. "Gestern wurde ein Schwerverletzter ins Lazarett gebracht. Vater muss sich nun um ihn kümmern.", murmelt Keira und wirft einen ernten Blick zu Mael, welcher sie wissend anblickt. "Ich glaube Keira muss langsam gehen!", ruft Mael und erhebt sich, ehe Birgit nachfragen wollte. "Ich danke euch, für eure Gastfreundschaft.  Aber er hat Recht, die Arbeit wartet!", sagt Keira entschuldigend und verbeugt sich leicht. "Das ist aber schade! Komm uns bald wieder besuchen.", brummt Iaran und wirft seiner Frau einen bitterbösen Blick zu.

Schweigend verlassen Keira und Mael das Haus und schlendern die Gasse entlang.
"Sag mal, was war das gestern?", fragt Keira nach einiger Zeit ohne ihn anzublicken. Mit einer energischen Bewegung kickt er einen Stein durch die Strassen, eher mit rauer Stimme antwortet. "Ich wurde befördert. Gehöre nun zu der obersten Garnison und es ist mir nicht erlaubt, während der Arbeit mit anderen zu sprechen." Wut keimt in Keira auf und sie fragt sich, seit wann Mael so überheblich und arrogant geworden ist. Missmutig beschleunigt Keira ihre Schritte und hofft, dass er sie nun alleine lassen würde.
Doch wie Mael ist, schliesst er bald zu ihr auf und grinst sie mit dem schelmischen Grinsen an. "Wie geht es dir eigentlich?", fragt er mit sanfter Stimme und kneift ihr freundschaftlich in den Arm. Ein leises Lachen entfährt Keira und sie funkelt ihn gespielt wütend an. "Eigentlich ist gerade sehr viel los. Wahrscheinlich hast du es mitgekriegt, dass ein Schwerverletzter in das Lazarett eingeliefert wurde und Vater muss sich nun um ihn kümmern. So bleibt die ganze Arbeit an mir hängen.", erklärt Keira. "Ein Schwerverletzter so, so. Fast Tod war er, als wir ihn am Waldrand gefunden haben!", murmelt Mael betrübt und fährt sich durch sein braunes Haar. Erstaunt bleibt Keira stehen und blickt ihn entgeistert an. Die dumpfen Schläge der Kirchenglocke hallen über den Marktplatz und läuten den Nachmittag ein. "Du, ich muss gehen. Wir werden später weiterreden. Aber pass auf dich auf! Etwas Ungutes liegt in der Luft!", sagt Mael und blickt sie entschuldigend an. Keira nickt nur und drückt sich an seine warme Brust. Der Geruch nach Leder, Holz und Pfefferminz dringt in ihre Nase und lässt sie beruhigen. Zärtlich streicht er über ihre gekrausten Haare, ehe er sich von ihr löst und den steilen Weg zur Burg erklimmt. Alleine steht Keira mitten auf dem Marktplatz und die kreischenden Rufen der Nebelkrähen, welche haarscharf an ihr vorbei fliegen,  verstärken ihr Gefühl, dass sie seit Tagen plagt. Irgendetwas liegt in der Luft!

Mit verschwitztem Gesicht und geröteten Wangen wischt Keira den dreckigen Boden und ihre Glieder schmerzen von der heutigen Anstrengung. Einige Mienenarbeiter, Händler und Fischer sitzen zu später Stunde noch auf ihren Stühlen und geniessen ihren letzten Krug Met nach der harten Arbeit. Die Musiker sind schon vor ein paar Stunden nach Hause gegangen und so herrscht eine angenehme Stille in der sonst so lauten Taverne. Im Hinterraum hört Keira die dumpfe Stimme von Brent, welcher sich mal wieder mit Birgit über ihren Lohn streitet , wie sie es jeden Abend machen. Kopfschüttelnd sammelt Keira einige Münzen von Boden auf und steckt sie in die Taschen ihres Leinenkleides, als sie aus dem Augenwinkel eine dunkle Gestalt wahrnimmt. Im Schatten der hintersten Ecke und mit hinuntergezogener Kapuze sitzt sie da und blickt starr auf das kleine Etwas in ihrer Hand. Ein mulmiges Gefühl breitet sich in Keira aus und verwirrt begibt sie sich hinter den Schanktisch. Wie lange die Gestalt wohl schon da sitzt? Vielleicht ist es ein Bandit oder Vagabund? Doch als eine erzürnte Birgit das Hinterzimmer verlässt und mit geballten Händen sich neben sie stellt, beruhigt sich Keira. Wahrscheinlich nur ein verrückter Landstreicher. "Dieser geizige Hund. Hätte ich nicht zwei Kinder, wäre ich schon längst von diesem stinkenden Ort abgehauen!", flucht Birgit und schenkt sich ein Glas Kräuterschnaps ein. "Sei froh, dass du noch keine Kinder hast. Sie rauben dir die besten Jahre!" Keira mustert sie traurig. Bereits mit zarten fünfzehn Jahren musste sie heiraten und brachte kurz darauf ihr ersten Kind zur Welt. Daraufhin folgten fünf Fehlgeburten, ehe sie letztes Jahr einem kerngesunden Jungen gebar. Wahrlich, Keira war froh, dass ihr Vater ihr die Freiheit liess, selber zu entscheiden, wen und wann sie heiraten möchte.
Gerade als Keira Birgit auf die Gestalt ansprechen wollte, hört sie von draussen die lauten, tiefen Klänge der Kirchenglocken und atmet erleichtert auf. Als wären sie sein Stichwort, betritt Brent mit krachender Türe den Raum und schickt die wenigen Besucher nach Hause. Keira mustert verwirrt die herausgehenden Menschen und stellt mit Erstaunen fest, dass die Gestalt bereits die Taverne verlassen hatte. Still und ungesehen - wie eine Schattenwesen.
"Keira, du siehst aus, als hättest du Geister gesehen!", lacht Brent mit lauter Stimme und drückt ihr zwei mickrige Silbermünzen in die Hand. "Mehr gibt es heute nicht. Wir leben in harten Zeiten!", murmelt er und erntet von Birgit einen bitterbösen Blick. "Alte Schweinebacke!", flucht sie und Keira muss sich ein Lachen verkneifen. Sie war zu müde, um sich noch darüber aufzuregen und so verlässt sie zusammen mit Birgit die Taverne. "Aber wo der Alte Recht hat, hat er Recht. Es sind harte Zeiten. Vor allem wenn man so grässlich aussieht wie er!", witzelt Birgit und die beiden Frauen gehen lachend ihren Weg.

Es war eine kühle Nacht und düstere Wolken verdecken die Sicht auf den Mond und die Sterne. Nur die Laternen an den Hauswänden bieten den beiden Frauen ein wenig Licht und weisen ihnen den Weg durch die menschenleeren Gassen. Keira liebte es in der Nacht draussen zu sein, wenn alles ruhig und friedlich ist und doch ist sie froh, dass Birgit sie heute begleitet. Auf ihrem Weg Richtung Stadttor treffen sie auf einige Vagabunden, die zusammengesunken am Boden liegen und ab und zu hören sie das Quengeln von Kinder.
Plötzlich huscht etwas Dunkles an Keira vorbei und ein leiser Schrei entweicht ihrer Kehle. Birgit, welche einige Meter vor hier läuft dreht sich erschrocken zu ihr um und bricht dann in lautes Gelächter aus. "Du hast dich ernsthaft von einer Katze erschreckt!", prustet sie und Keira blickt verwirrt zu dem schwarzen Viech, welches nun auf der Mauer sitzt und sie hämisch anstarrt. "Ja schon gut. Heute war ein langer Tag!", murmelt Keira genervt und  streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. Missmutig beschleunigt sie ihre Schritte. Sie wünscht sich nichts sehnlicher als endlich in ihr warmes Bett zu fallen und insgeheim hofft sie, dass Vater zu Hause auf sie warten würde. Sie vermisst ihn sehr und vor allem macht sie sich grosse Sorgen um ihn. Irgendetwas stimmt an dieser ganzen Sache nicht.
"Keira, warte Mal! Bleib stehen!" Das leise Flüstern von Birgit reisst Keira aus ihren Gedanken. "Birgit, ich bin müde und nicht für deine Scherze aufgelegt!", murmelt sie erschöpft. "Hör doch!", sagt Birgit mit ernstem Ton und Keira bleibt genervt stehen. Und wirklich! Ein lautes Heulen, ähnlich wie Wolfsgeheule, nur viel schriller und unheimlicher hallt vom Wald über die Stadt und ein Schauer jagt über Keiras Rücken. "Was im Namen aller Götter ist das?", murmelt sie und blickt Birgit mit geweiteten Augen an. Sie schüttelt den Kopf und packt Keira an der Hand. "Das verheisst nichts Gutes! Komm, wir müssen schnell nach Hause!", ruft sie und wirft einen gehetzten Blick nach hinten. Die beiden Frauen rennen so schnell sie ihre Beine tragen über die Pflasterstrasse. Der kalte Wind weht in Keiras Gesicht und lässt ihr die Tränen ins Gesicht steigen. Ihr Atem geht flach und ihr Herz hämmert gegen ihre Brust. Laute Schüsse durchbrechen die Stille und sie zuckt zusammen. Was ist hier los? Der Druck an ihrer Hand nimmt zu und sie blickt in die ängstlichen Augen von Birgit. Die Strasse öffnet sich und das grosse Stadttor mit der imposanten Fasanenstatue steht wie die rettende Sicherheit vor ihnen. Das erste Mal freut sich Keira, die Wachmänner zu sehen, welche mit grimmigem Gesicht und ihren Speeren den Eingang kontrollieren. Nach Luft schnappend bleibt sie kurz stehen und streicht sich den Schweiss von der Stirn, ehe sie sich den Wachen nähert.
"König Reidros hat Ausgangsverbot über die ganze Stadt ausgehängt. Sie kommen hier nicht durch!", ruft der eine Wächter und blickt die beiden Frauen ernst an.
"Mein Name ist Keira Ciallmhar, Tochter von Kian Ciallmhar. Ich wohne beim Kornfeld", spricht Keira mit klarer Stimme und Wut durchströmt sie. Er mustert sie von Kopf bis Fuss und blickt dann Birgit an. "In Ordnung!", ruft er und gibt seinem Partner ein Handzeichen. Mit lautem Quietschen öffnet sich das Nebentor und die beiden Frauen eilen hindurch.
Erst als sie am ersten Bauernhaus angekommen sind, bleiben sie stehen und atmen tief durch. "Danke fürs Begleiten!", murmelt Keira und blickt Birgit dankbar an. "Komm gut nach Hause und pass auf dich auf!", antwortet sie und die beiden umarmen sich, ehe Birgit in eines der Häuser verschwindet. Ohne sich umzudrehen eilt auch Keira nach Hause und stellt enttäuscht fest, dass das Feuer im Ofen bereits erkaltet ist und wo sonst eine leere Tasse von Vater steht, bittere Leere herrscht. Besorgt blickt sie aus dem Fenster in den rabenschwarzen Nachthimmel und betet stumm zu den Göttern. Mögen sie die ganze Stadt vor Unheil schützen!


© Milasca


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Beschreibung des Autors zu "Pfad der Vergessenen - Kapitel 2"

Hi!
Diese Geschichte ist ein Teil von meiner Abiturarbeit.
Da es erst die Rohfassung ist, wäre ich über konstruktive Kritik sehr froh! 

Liebe Grüsse und viel Spass beim Lesen

Michelle

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