Er hastete durchs Wasser. Er wurde verfolgt, das war sicher. Hinter ihm war es. Er hätte nicht aus dem Haus gehen sollen. Er lief durch den flachen breiten Wasserfall. Er schaute nicht nach unten, sondern geradezu. Er wusste, er würde es nicht schaffen. Es verfolgte ihn schon seit Tagen, das wusste er. Seine Schuhe waren durchnässt, von dem vielen Wasser. Er hatte in den letzten Tagen nicht viel gegessen, schlafen konnte er auch nicht. Schon beim ersten Mal fliehen, hatte es nicht geklappt. Er bekam einen Hieb von ihr und seine gesamte Wade war blutüberströmt. Er hörte es hinter sich rufen. Es brachte nur unverständliche Rufe hervor. Er wusste, wenn er sich ergibt, tötet es ihn. Doch wenn er versuchen würde, weiter zu laufen, würde es ihn vielleicht in Ruhe lassen. Vielleicht. Sein Schwert hatte er schon weggeworfen. Es war einfach zu schwer. Genauso wie seine Rüstung. Es landete, Gott sei Dank, im Gebüsch, sodass es sie nicht sehen konnte. Eigentlich war er doch nur ein verlaufener Mann, der in die Stadt wollte. Er möchte nicht im Schlund eines riesigen etwas landen, er wollte lieber in seine Heimat zurück zu seinen Kindern. Zu seiner Frau. Zu seinem Bett. Ein Karpfen holte ihn in die Realität zurück. Er glitt sanft an seinem Fuß entlang. Er sah das Ende des Wasserfalls. Eine Schlucht. Zu groß, um herüber zu springen. Er sah nach rechts in die Weiten und Öden des Sommerbruchs. Er sah nach links in den Abgrund, in den er bald fallen würde. Er sah nach vorn auf den Graben, in den er fallen wird, würde er noch weiterlaufen. Und er sah nach hinten, die Kreatur, die ihn immer noch verfolgte. Was sollte er machen?
„Hör auf dein Herz. Hab Mut. Hör der Natur zu. Sie wird dir Hilfe geben“, hatte sein Vater ihm immer zu gesagt. Er lauschte. Den Blättern im Wind und den Vögeln, die der Sonne gute Nacht sagten. Er hörte ein Rascheln im Gebüsch, rechts von ihm. „Nicht noch so ein Vieh“, dachte er. Er sah das Glitzern einer Pfeilspitze. Er sah ahnend in den Himmel. Er machte die Augen zu und blieb stehen. „Gleich ist es vorüber“, dachte er. Der Pfeil traf ihn am Hals und höchst wahrscheinlich in den Kopf. Als es vorbei war, schrie es. Melor öffnete die Augen, um zu sehen, in welchem Himmelsreich er gelandet ist. Doch er war es nicht, der getroffen wurde. Es war die Kreatur. Sie schrie laut. Anscheinend fluchte sie in einer Sprache, die er nicht verstehen konnte. Der Schuss war präzise genau platziert, unter der Kehle. Es dauerte nicht lange, da endeten auch schon die Schreie. Jetzt konnte Melor näher an sie herangehen, ohne zu befürchten, gleich zerfleischt zu werden. Sie hatte ein buschiges Fell, wie ein Mammut, Pranken wie ein Bär und riesige Eckzähne wie bei einem Säbelzahntiger. Einen Moment lang war es ruhig und still. Melor warf ein Blick auf das Gebüsch.
Er sah das wiederholte Aufblitzen eines Pfeils.
„Bitte töte mich nicht, ich ergebe mich“. Ein tiefes Lachen tönte aus dem Brombeerstrauch. Ein großer Mann, größer als er, mit einer Rüstung, einem Bogen in der Hand und einer Kette, bestehend aus Zähnen, um den Hals, trat hervor.
„Ich tue euch nichts, ich will nur meine Trophäe abholen. Ich bin Sakrion, der Starke aus Watterhall, und wer seid ihr?“.
„Ich bin Melor Ebelio aus Frohenkund im Osten“.
„Aus dem Osten kommt ihr, eine weite Reise nach Sommerbruch. Was wollt ihr hier?“.
„Ich bin auf Wanderschaft und um die alte Bibliothek der alten Sqar`oh in der Stadt zu sehen. Auf dem halben Weg wurde ich von ihm hier angegriffen, seit jeher flüchte ich“.
„Kommt mit in meine Hütte am Ende des Waldes, dort könnt ihr euch ausruhen, euch erholen, Speis und Trunk genießen.“
„Eine Auszeit könnte ich jetzt vertragen, ich komme mit euch“. Ich traue ihm nicht, die Leute die ich bisher getroffen habe, wollten mich ausnehmen oder töten.

Es war dunkel, der Mond versteckt hinter den Wolken, als sie am Haus von Sakrion ankamen. Irgendetwas stimmte nicht, irgendwas war merkwürdig an ihm und an diesem Haus. Sakrion öffnete die Tür und beide gingen hinein. Der Kamin loderte, es war warm und überall lagen Bücher und es standen kleine Phiolen und Fläschchen, mit blauem Sand und rosigem Wasser gefüllt auf den Tischen.
„Bitte gehen sie nicht an den Schrank“, hallte es aus der Küche. Der Schrank stand genau vor ihm, aus handgefertigtem Eichenholz. Er musste es einfach wagen. Die Versuchung war zu groß, um sich dagegen zu wehren. Also tat er es. Er öffnete den Schrank, so leise es nur möglich war. Sein Herz pochte schneller, je weiter er die beiden Türen aufmachte. Zuerst dachte er, es war nichts in dem Schrank. Doch als er sie bis zum Anschlag aufklappte, sah er es. Sie fielen auf ihn herab, eine stürzende Lawine aus Schädeln. Aus der Küche hörte er ein lautes Fluchen und Schritte zum Zimmer. So schnell er konnte, nahm er sich einen Schädel und betrachtete ihn.
Jetzt wusste er, was geschehen war.


© LeOn


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