Ich konnte sie bereits von Weitem sehen, als ich aus dem Hinterausgang des Labors trat. Sie hob sich empor, wie ein mächtiges Monument – massiv und einschüchternd.

Die Fortiaris war eine von mehreren Konstruktionen, die bis zur Kuppel reichten und diese wie eine Säule stützen. Doch im Gegensatz zu den anderen Fundamenten, bildete sie den Kern des Kontinents. Früher wäre sie als eine Hauptstadt bezeichnet worden, aber dieser Begriff wurde zusammen mit den gesamten vergangenen Konzepten, Normen und Sitten verworfen. Jeder Kontinent hatte seinen eigenen Kern. Sie wurden dazu konstruiert, die Last des Gewölbes zu tragen und ihre Form erinnerte an die eines Baumes. Das massive äußere Gerüst trug mehrere übereinander gebaute Plattformen, die so groß waren, dass dort eigenes Leben herrschte. Auf den einzelnen Ebenen befanden sich Einkaufsläden, Wohngebiete, Krankenhäuser und Bildungszentren. Nur auf diese Weise konnte man genug Menschen auf so kleinem Raum unterbringen.

Wie ich die Fortiaris in der Ferne betrachtete, erinnerte sie mich an einen Bienenstock. Die einzelnen Drohnen und Helikopter, die um sie herum flogen und auf den dafür vorgesehenen Plätzen landeten und die Aufzüge, die an der Struktur des Baus entlangfuhren und an verschiedenen Positionen hielten, ähnelten einem Bienenschwarm.

„Ich verstehe immer noch nicht, warum du dich lieber als ein androgynes, humanoides Etwas, anstatt einer hübschen, verführerischen Studentin verkleidet hast!“, hörte ich Phils Stimme in meinem Kopf. „Es sieht nicht nur lächerlich aus, du fällst auch noch auf!“

Ich war überrascht, als Phil im Labor plötzlich eine ganze Kiste voller Make Up und femininer Accessoires herausgeholt hatte. Anscheinend hatten seine Liebschaften jedes Mal, wenn sie bei ihm waren etwas vergessen oder absichtlich da gelassen. Da mir keine Möglichkeit blieb eins der Gadgets zu verwenden, um nicht mehr wie ich auszusehen, musste ich auf eine altmodische Alternative zurückgreifen.

Auch wenn Phil recht hatte und es sicher ein kluger Schachzug gewesen wäre, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen, indem ich mich wie eine der kontaktsuchenden und lebensfreudigen Studentinnen präsentierte, um dadurch nicht entdeckt zu werden. Bekanntlich ist etwas bestens versteckt, wenn es am sichtbarsten Platz platziert ist. Allerdings entschied ich mich für das Gegenteil – etwas, was so unattraktiv und uninteressant war, dass es keinen zweiten Blick würdig gewesen wäre.

Meine Haare waren bis auf die letzte Strähne unter einer schwarzen, engen Kappe versteckt, so dass man vermuten konnte, dass ich darunter kahl war. Meine Augenbrauen hatte ich mit einem abdeckenden Concealer in meinem Hautton eingefärbt, was mich sehr alienhaft wirken ließ. Auch die Lippen deckte ich ab, so dass diese blass wirkten. Mit einem Bronzer konturierte ich mein Gesicht und hob meine Wangenknochen hervor, was meinem Gesamtbild etwas Mageres verlieh.

Phil hatte recht, mein äußeres Erscheinungsbild war nicht typisch für eine Forteonianerin und ähnelte eher dem, wie man sich auf Scientia oder Plenueon präsentierte. Aber dies würde mir, so war ich mir sicher, einen guten Dienst erweisen.

Ich blickte hinauf zum Gewölbe, welches uns von der Erdatmosphäre trennte. Wolken wurden auf die große Leinwand, die das Dach der Kuppel darstellte, projiziert. Es sollte nicht nur dem nahe kommen, was die Menschheit früher als ‚Wetter‘ kannte, es sollte auch eine Vorwarnung sein für das Wasser, dass auf uns herab gesprenkelt kam, um die Straßen zu reinigen. Mich erinnerte es an eine ganz normale Dusche – nur draußen.

Doch die Wolken erinnerten mich auch an etwas anderes. Wenn es erst mal anfing zu ‚regnen‘, wäre nicht nur der Dreck der Straßen weg gespült, sondern auch die Spuren am Tatort. Ich musste mich beeilen!

Mein Weg führte durch menschenleere Straßen, vorbei an den hohen fensterlosen Wänden von Gebäuden. Es erweckte den Anschein, als sei die Stadt tot, doch in Wirklichkeit waren die meisten Menschen die meiste Zeit auf der Fortiaris oder eins der anderen Säulen.
Mein Herz hämmerte in meinem Brustkorb als ich mich dem Gebilde näherte, obgleich mein Weg nicht in den Kern, sondern das Gebäude daneben führte. Der Schütze lag auf einem der Wolkenkratze, die unmittelbar neben der Fortiaris standen. Der Präsident hatte an dem Tag eine Versammlung in seinem Büro in der Präsidenten Residenz auf der Fortiaris gehalten. Mein Auftrag war es, den Schützen auszulöschen, aber trotz meiner Fähigkeiten hatte ich versagt. Das merkwürdige daran war, dass der Sniper den Präsidenten auch verfehlte. Wer auch immer es war, hatte seine Mission ebenfalls nicht beendet und würde es sicher wieder versuchen. Erst recht, da nun alles Augenmerk auf mir lag!

„Hey, hey, konzentrier‘ dich auf die eigentliche Mission, wir haben keine Zeit in Erinnerungen zu schwelgen. Zumal das Programm für die telepatische Kommunikation eine Beta Version ist und ich alle deine Gedanken ungefiltert empfange.“, meldete sich Phil über die Nanobots.

Ich zog die Kaputze meines langen Mantels ins Gesicht und versuchte meinen spezialangefertigten Anzug mit all seinen Extras so gut es geht zu verbergen, als ich eine mehr oder minder belebte Hauptstraße erreichte. Im Gegensatz zu den üblichen Straßen, außerhalb der Säulen, die hauptsächlich aus Lagerhäusern und anderen fensterlosen Gebäuden bestanden, waren hier Läden und Cafés. Die Einkaufspromenade führte direkt zur Fortiaris.

Gerade, als ich in das Getümmel trat, sah ich ihn – er war gigantisch groß und doch flog er sehr niedrig und wurde geschickt durch die Straßen manövriert. Auf beiden Seiten war mein Gesicht dargestellt und die Überschrift lautete: „Haben Sie diese Person gesehen?“

Wie ich den Zeppelin sah, befürchtete ich, dass ich schneller entdeckt wurde oder, dass jede einzelne Person auf Forteon Ausschau nach mir halten würde. Dem war aber nicht so. Ich blickte zu den Menschen, die die Straße entlang liefen. Jeder einzelne schien seinem eigenen Weg nachzugehen und über die eigenen alltäglichen Probleme nachzudenken. Sie schienen den übergroßen Zeppelin nicht einmal zu bemerken. Auch die digitalen Aushängeschilder, die die ganze Straße zupflasterten blieben scheinbar unentdeckt oder zumindest nicht allzu intensiv beachtet. Dies gab mir Mut und Hoffnung, bei meinem Vorhaben unentdeckt und in Sicherheit zu bleiben.

Schnellen Schrittes und dennoch ruhig, lief ich durch das volkreiche Viertel und war dabei eine abgelegene Straße anzusteuern, als mir einige GN5 Guards entgegen kamen. Sie wurden von Drohnen und einem großen Helikopter begleitet, die beinah lautlos über ihnen flogen.

Ohne den Schritt zu verlangsamen, blickte ich einem der Soldaten direkt in die Augen und nickte ihm leicht zu, als dieser meinen Blick erwiderte. Er nickte zurück und wendete sich wieder seinem Dienst zu. Ich hingegen bog in die Gasse ein, die im Schatten lag. Augenblicklich breitete sich eine Entspannung und Erleichterung aus.

„Das war ja knapp.“, merkte Phil an. „Wie hast du es geschafft, dort lebend rauszukommen.“

„Er hat mich nicht erkannt.“, teilte ich ihm mit, ohne auch nur einen Laut auszusprechen. „Außerdem erwartet keiner von denen von der Person gegrüßt zu werden, nach der sie Ausschau halten.“

„Ah, die Psychologie eines Agenten.“, kommentierte Phil sarkastisch.

„Nein,“, korrigierte ich. „die Psychologie eines jeden Menschen. Ach und Phil? Besorge mir bitte die Information, von wem der Auftrag für die Ermordung des Snipers kam.“

„Geht klar, Chef.“, sagte Phil.

Die Gasse führte zu einem großen leeren Platz. Mehrere kleinere Straßen mündeten in dieser großen Fläche, in deren Mitte eine Skulptur, umrundet von Sitzbänken, stand. Die Skulptur hatte die Form einer Pyramide, in der einige Symbole eingraviert waren.

„Siehst du die Straße rechts, schräg gegenüber von dir? Wenn du die nimmst, kommst du zu dem Viertel, in dem du gesichtet wurdest. Ab da solltest du wissen, wohin du gehen sollst.“, teilte mir Phil mit, aber ich achtete kaum auf das, was er sagte.

Meine Gedanken kreisten um den Platz auf dem ich mich befand....


© Ronia Tading


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