Der Wind schlug ihm kühl und brennend ins Gesicht. Am Himmel trieb er Wolken vor sich her und schien sogar sie dem einsamen Mann auf der Strasse entgegenzustellen. Lér zog sich seine Kapuze noch tiefer ins Gesicht und den Kragen seines braunschwarzen Mantels weiter nach oben. Der Wind zerrte eine seiner Haarstränen hervor und blies sie ihm in die Augen. Ein erneuter kräftiger Windstoss riss ihm schliesslich die Kapuze vom Kopf. Wären an diesem späten Nachmittag noch andere Menschen auf der Strasse gewesen, hätten sie ein kurzes Aufleuchten von violett-rotem Haar gesehen und vielleicht das silbrig schimmernde Mal auf seinem Hals. Rasch verbarg Lér das Mal und die Haare wieder unter seiner Kapuze und seinem Kragen und begann, ein paar unverständliche Worte zu murmeln. Als er geendet hatte, legte sich schlagartig der Wind rings um Lér, während er rundum weiter tobte. Zügig bog der Reisende in eine winzige Gasse zu seiner Rechten ab, in der es penetrant nach Urin und altem Fett roch. Er erkannte die Gasse auf Anhieb wieder, und obwohl sein letzter Besuch hier eine Ewigkeit her schien, kam in ihm fast so etwas wie Vorfreude auf. Dieselbe Vorfreude, die er empfunden hatte, als er noch in dieser kleinen Stadt gelebt hatte, hier, am Fusse des Dar’sak. Er hatte die Stadt ganz anders in Erinnerung gehabt. In seiner Erinnerung war Noatun ein hübsches, kleines Städtchen, in den stets reges Treiben herrschte und die Bewohner sich bemühten, ihre Häuser schön zu schmücken und den goldenen Abend der einstmals bedeutendsten Wassersteinbaustädte am Strahlen zu erhalten. Lér erinnerte sich an rauschende Feste zu Ehren der Drunr, die der Legende nach diese Stadt beschützten, wie alle Gassen mit Laternen geschmückt gewesen waren, die Kinder fröhlich durch die Strassen rannten und der grosse Springbrunnen am Platz der Freude goldfarbenes Wasser gespien hatte. Er erinnerte sich an den Geruch der Ki’nubüsche, die den Platz der Freude umstanden und die mit ihren kleinen rosa Blütentrauben in jedem Frühling als erste den Geruch von Schnee und Kälte überdeckt hatten. Jetzt schien das alles Lér unwirklich, fast so, als hätte er dieses schöne Leben hier nur geträumt. Die Blumen vor den Fenstern waren verschwunden, die Farbe an den Fassaden der meisten Häuser bröckelte ab. Einige Fensterläden hingen schief, ein paar Haustüren waren zugemauert worden und beim besten Willen hätte sich Lér in dieser Stadt kein Fest vorstellen können. Als wäre alles nur ein Traum gewesen. „Und das war es auch“, dachte er, als sei ihm das erst jetzt klar geworden, und seine Vorfreude, wenn er sie jemals empfunden hatte, war verflogen. Er stand jetzt vor der schmalen Tür, die er so gut kannte. Die rote Farbe war abgebröckelt und der Türknauf hing schief. Als wäre kein Tag seitdem vergangen, ratterte er die vertrauten Worte herunter, genau wie früher. Ein blauer Schimmer erschien in der Mitte der Tür und vergrösserte sich rasch. Er nahm die Form einer nach vorne gewandten Hand mit ausgestreckten Fingern an, auf der eine Rosenblüte abgebildet war. Lér sah sie sich nicht an, sondern legte nur seinen Zeige- und Mittelfinger auf die Rose (Er kannte das Zeichen gut genug) und hörten das vertraute leise Klicken, als die Verriegelung sich löste.
Es war dunkel im Inneren, doch selbst im Dämmerlicht der alten fensterlosen Wohnung erkannte Lér, dass das Lager immer noch aussah wie früher: Da war der kleine dreibeinige Tisch, auf dem alle möglichen Schlüssel herumlagen, dort die Treppe und dort die kaputte Garderobe. Sogar der Geruch nach angelaufenem Metall, Büchern und Staub war noch da. Die Tür zum Wohnzimmer war angelehnt. Aus dem Inneren drangen gedämpfte Stimmen. Bekannte Stimmen. Lér erkannte die von seinem alten Mentor, die von Yulà und die von Grotek. Er atmete flach und sehr leise. Er wurde ganz ruhig und betrat erst dann das Wohnzimmer.
Als er eintrat, war Grotek gerade dabei gewesen, Yula und seinem Mentor von seinem letzten Einsatz zu berichten. Er brach mitten im Satz ab und starrte Lér an. Yula, irritiert von dieser Unterbrechung, wandte sich ebenfalls um. Einen Moment lang herrschte Totenstille. Auf den Gesichtern seiner ehemaligen Freunde spiegelten sich Unglaube und Verwirrung. Lér sagte nichts, und auch sonst niemand. Sogar die Uhr an der Wand schien ihr Ticken vergessen zu haben. Er hatte sich bisher nicht gerührt. Dann liess Yula ein ersticktes Keuchen hören, und Grotek schickte sich an, aufzustehen, zu Lér zu stürzen und ihn an sich zu drücken. Vielleicht würde er jetzt endlich erfahren, wohin Lér verschwunden war, nach ihrem letzten gemeinsamen Abend, und sich fast sechzehn Jahre nicht gemeldet hatte. Sie waren davon ausgegangen, dass Späher ihn aufgegriffen und schliesslich umgebracht hatten. Kurz überlegte Grotek, ob er Lér nicht doch lieber erwürgen sollte. Er hätte es verdient. Allein schon, weil er sie einfach so allein gelassen hatte, ohne ein Wort des Abschieds. Dann bemerkte er eine Veränderung an Lér. Er hatte sich immer noch nicht bewegt, seine Mine war nach wie vor leer, sein Blick auf die drei vor sich gerichtet. Grotek wurde bewusst, dass die Veränderung minimal war. Zwischen Lérs Fingerspitzen hatte ein bläuliches Glühen eingesetzt. Es wurde heller, bis schliesslich eine winzige schillernde und leuchtende Kugel über Lérs Fingerspitzen schwebte. Die drei starrten fasziniert und zugleich schockiert auf die kleine schillernde Kugel. Sie leuchtete in allen möglichen Farben, Grotek hatte sogar das Gefühl, einige dieser Farben noch nie gesehen zu haben. Die Kugel nahm an Grösse zu, bis sie etwa die Grösse eines Hühnereis hatte. Erst jetzt hob Lér langsam die Hand mit der Kugel, die Handfläche nach oben gerichtet, bis sie vor seiner Brust schwebte. Noch immer war sein Gesichtsausdruck unverändert leer. Dann begann er zu sprechen, mit gedämpfter, monotoner Stimme, die so rau klang, als sei sie seit Jahren nicht benutzt worden: „ Ich weiss, was ihr denkt und sagen wollt. Spart es euch, es wird euch nichts nützen, zu wissen, wo ich war. Da, wo ich war, ist es nicht von Relevanz, wo man ist. Ich weiss, dass ihr mich nicht versteht und das könnt ihr auch nicht. Mir geht es nicht um euch oder mich. Aber das könnt ihr nicht verstehen. Lebt wohl.“ Und er wandte seinen Blick von den drei ab. Mit einer leichten Drehung des Handgelenks liess er die Kugel zur Mitte des Raumes schweben, wo sie in der Luft stehen blieb. Gleichzeitig zog er die Welt um sich enger und spürte das vertraute Gefühl, von einem Wasserfall zertrümmert zu werden. Das letzte, was er vom Lager sah, war eine Wolke aus Licht und Farben, dann verschwand er.


© Lér


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Beschreibung des Autors zu "Lér"

Das ist einer meiner ersten Fliesstexte, die ich vor Jahren zu schreiben begonnen habe. Der Inhalt ist unvollständig und eher unwichtig, mir geht es darum, vielleicht ein Feedback zum Schreibstil zu erhalten...




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