10 Monate später

Goscha ließ sich erschöpft zurück fallen. Sie strich sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie hatte nicht viel vom Essen gehabt. Selbst wenn sie nicht zum Kochen eingeteilt gewesen war, hatte sie es doch nicht lassen können. Vasa Rem hatte sie zum Schluss aus der Küche verwiesen. Sie lächelte bei dem Gedanken. Er war so ein wundervoller Mann, versuchte ständig für sie da zu sein. Hatte er gemerkt, dass es ihr jetzt zu viel geworden war und war deswegen mit den wenigen Verbleibenden nach draußen gegangen? Vielleicht wollte er auch sichergehen, dass die Gesellschaft die Kinder nicht weckte. Für eine Weile schliefen sie, doch wer wusste schon wie lange die Ruhe andauern würde. Vorsichtig stand Goscha auf. Sie hob leise den Stuhl an und stellte ihn zu den beiden Wiegen. Schließlich ließ sie sich wieder darauf sinken. So konnte sie gerade auf die zwei schlafenden Kinder sehen. Ihre Lieblinge waren etwas Besonderes, selbst wenn sie ihr soviel Eneregie raubten. Sie lächelte über sich. So dachte wohl jede Mutter. Sie stützte ihre Arme am Holz ab und lehnte dann ihr Kinn darauf. Als sie so auf die beiden herab sah, musste sie sich zurückhalten, um nicht den einen oder den anderen über die Wange zu streichen.
Ein Räuspern ließ sie hochfahren. Sie rieb sich über die Augen. War sie eingeschlafen? Sie lächelte matt dem Störenfried entgegen. K’vara hatte ihre Hände auf den Rücken gefasst und blickte leicht zu Boden. „Die Männer reden draußen über Politik und Krieg. Kann ich hier bleiben?“ Goscha nickte. Sie stand auf und holte einen neuen Sessel. Unsicher ließ sich K’vara bei den Wiegen nieder. Unschlüssig blickte sie auf die Kinder hinunter. „Ich glaube, ich könnte Stunden damit verbringen sie zu beobachten!“, flüsterte Goscha. K’vara blickte kurz auf. Dann fixierte sie wieder die Kinder. Ihre Hand streckte sich ein wenig in die Richtung. Doch dann zog sie sich wieder zurück. „Was ist das für ein Gefühl?“, murmelte sie. Goscha lächelte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Das kann man nicht so sagen. Aber es fühlt sich gut an, irgendwie!“ K’vara schloss die Augen und lehnte sich zurück. „Du siehst glücklich aus!“ Goscha ließ sich erschöpft zurück sinken. Sie legte ihre Hände in den Schoß. Sie war auf eine seltsame Art und Weise glücklich. Sie hatte auch allen Grund dazu. Trotzdem war da etwas Undefiniertes in ihrem Hinterkopf, das sie nicht los ließ. Schnell verdrängte sie das Gefühl und nickte nur als Antwort. K’vara presste die Lippen zusammen. „Darf ich sie auch mal halten!“ Sie senkte ihren Blick. Goscha war verblüfft, dass sie gefragt hatte. „Wenn das mein Kind wäre, würde ich es wahrscheinlich gar nicht aus den Händen geben wollen!“ Goscha stand auf. Als sie auf die Zwillinge hinab sah, merkte sie, dass K’vara recht hatte. Trotzdem überwand sie sich und griff nach Ascha. Ascha schlug die Augen auf. Doch sie war und blieb stumm. Sie würde ihren Bruder nicht wecken. K’vara nahm sie ihr professionell aus den Armen. Sie lächelte verschmitzt. „Bei uns lernt man das mit Puppen. Das gehört zu einer guten Ausbildung von O’vanks. Jeder reiche Mann erwartet, dass seine Frau das kann!“ K’vara lächelte matt, während sie Ascha hin und her schaukelte. „Das hier fühlt sich anders an, echter!“ Sie hob Ascha ein wenig an und rieb mit ihrer Nase gegen Aschas Nase. Ascha schien das zu gefallen. Sie tapste nach K’varas Gesicht. Goscha beobachtete sie so eine Weile, ohne dass irgendjemand etwas sagte. Es war fast ein erfürchtiger Moment. Vor ihr stand eine K’vara, die sie so noch nie erlebt hatte. Goscha räusperte sich. K’vara blickte nach kurzem Zögern auf. Dann war sie mit wenigen Schritten bei Goscha und wollte ihr Ascha zurückgeben. Doch Goscha schüttelte den Kopf. „Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du… ob du Aschas Patin werden willst. Es wird langsam Zeit.“ Goscha lächelte leicht. Ihr Finger fuhr zu Aschas Wange. „Ich glaube nicht, dass Vasa Rem etwas dagegen hat!“ K’vara schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht! Ich kann doch mit einem Kind nichts anfangen!“
Die Tür öffnete sich mit einem leichten Knirschen. Die zwei Frauen blickten von den Kindern in ihren Armen hoch. Vasa Rem lächelte Goscha breit an. Er war mit wenigen Schritten bei ihr und küsste ihre Stirn. Kiras blieb hingegen bei der Tür stehen. Er starrte unentwegt K’vara an. Sie gab Vasa Rem schnell Ascha in die Arme. „Ihr geht“, meinte sie zu Kiras. Schnell lief sie in die Küche und holte noch ihre Tasche. Sie winkte und wünschte eine schöne Nacht, bevor sie aus der Tür verschwand. Kiras nickte ihnen leicht zu. Dann bemühte er sich K’vara zu folgen.

Kiras Hand fuhr zu ihrem Gesicht. Seine Finger berührten ihre zarte Haut, während sie die Augen geschlossen hielt. Für einen Moment schloss er auch die Augen, um besser ihre Gegenwart genießen zu können. Manchmal war das Gefühl ihrer Nähe noch seltsam irreal. Er trat einen Schritt näher. Seine Hand rutschte weiter und fuhr durch ihre Haare. Seine Lippen berührten ihre Stirn. Er sog ihren Duft ein. Sie roch so gut. Das war kaum auszuhalten. Seine Hand packte jetzt ihre Taille. Er wollte sie, ihren Körper. Sie sollte ihm gehören. Seine Lippen küssten ihr Gesicht suchend nach den ihren. Gierig wühlte sich die Hand unter ihr Hemd um ihre zarte Haut zu berühren. K’vara spannte sich an. Er schob seine Zunge hervor und presste sie gegen ihre Lippen. Ihr Kopf rückte nach hinten. Er folgte ihr. Plötzlich hämmerten ihre Fäuste auf seinen Rücken ein. Erschrocken ließ er los. K’vara rückte noch ein Stück weg. Sie senkte den Kopf. Ihre Finger zupften an ihrem Hemd, um es wieder gleich zu richten. „Was ist los?“, keuchte Kiras. K’vara schüttelte den Kopf. „Ich will das nicht!“ Kiras schüttelte unverständlich den Kopf. „Was?“ K’vara blickte endlich hoch in sein Gesicht. Ihre Lippen waren rot angelaufen. Kiras konnte das selbst in dem schlechten Licht sehen. Sie presste die Lippen zusammen. „Das!“ Kiras Hand hob sich zu ihrem Gesicht. Sie schlug sie weg. „Genau das!“ Kiras nickte. Plötzlich kam er sich ziemlich blöd vor. Er drehte sich ein Stück und lehnte sich gegen die Wand. „Wieso? Was stört dich?“ K’vara seufzte. Auch sie drehte sich zur Wand. Gemeinsam rutschten sie zu Boden. Kiras legte seine Hand neben sie. „Ich weiß nicht. Es gehört sich nicht!“ Langsam suchten ihre Finger die seinen. „In Siruna gehört es sich nicht. Wir sind hier in Chema! Hier ist das völlig normal. Viele Liebespaar schländern durch die Stadt oder zum Nordtor.“ Er erinnerte sich daran, dass er noch an diesem Tag daran gedacht hatte mit K’vara dasselbe einmal zu tun. K’vara sog scharf die Luft ein. „Aber wir sind Sirunen! Ich bin eine O’vank und du bist aus einen der alten Häuser. Das kannst du nicht leugnen. Das kannst du nicht verstecken! Wie willst du deine dreizehn Flecken verstecken.“ Ihre Finger verkrallten sich in seine. Kiras blickte hinauf in den Himmel. „Das ist in uns drinnen und das geht nicht so leicht weg!“ Er starrte auf die Sterne und fragte sich, ob sie auch von seiner alten Heimat aus noch zu sehen waren. Er war immer schon lange von zuhause weg geblieben. Einige Monate waren nichts Ungewöhnliches. Trotzdem fühlte es sich jetzt anders an. Er lebte jetzt in Chema, aber gehörte er wirklich hier her? Er hatte es immer geglaubt. Siruna und Chema waren so anders. Sirunen weinten nicht, Sirunen liebten nicht und Sirunen lebten nicht. Sie kannten keinerlei Emotionen. Sein Kopf rollte zur Seite. Er versuchte K’varas Gesicht im wenigen Licht ausfindig zu machen. „Ich liebe dich!“
K’vara rappelte sich hoch. Sie schüttelte sich frei von seiner Hand. „Es ist spät. Ich gehe lieber nach Hause!“ Kiras wollte nach ihrer Hand greifen, doch sie zog sie schneller weg. Er blickte zu ihr hoch. „Was kann ich tun, damit du mit zu mir kommst? Was soll ich tun, damit du mir gehörst? Für diese eine Nacht!“ Die Sehnsucht ließ ihn das aussprechen, was er sich fast jede Nacht dachte. K’vara schüttelte den Kopf. Sie hockte sich zu ihm hin und küsste seine Lippen. „Ich mag dich auch, aber ich will das nicht. Ich kann nicht vergessen, was man mir in all den Kindheitsjahren eingebläut hat! Es fühlt sich für mich nicht richtig an.“ Kiras griff nach ihrem Gesicht. Er seufzte. Dann küsste er sie auf die Lippen. Wieso musste das alles so kompliziert sein? Vielleicht liebten Sirunen deswegen nicht. „Wenn du es so nicht willst, dann heirate mich!“ K’vara riss sich los und stand auf. „Heirate mich!“, wiederholte Kiras noch einmal fast sehnsüchtig. Er meinte das ernst, so wie all die anderen Male auch. Ihr Blick schien seltsam fern. „Ich will dich nicht heimlich heiraten!“ Kiras rappelte sich auf. Er griff nach ihren Armen. So schnell wollte er diesmal nicht das Thema fallen lassen. „Dann eben nicht. Du willst deine Eltern dabei haben? Dann holen wir sie eben hier her.“ K’vara schüttelte den Kopf. „Oder wir suchen uns eine Oase, einen Treffpunkt. Ich suche auch bei ihnen um deine Hand an. Ich mache alles nach den Regeln. Es ist mir gleich!“ Seine Hände sanken. Im Grunde würde er doch alles tun, nur um sie immer an seiner Seite zu wissen. So sehr hatte sie ihn schon gefangen. Sie trat einen Schritt von ihm weg. „Und deine Mutter!“ Er schüttelte den Kopf. Dieser bedrohliche Schatten, der sooft irgendwie unausgesprochen zwischen ihnen stand, tauchte jetzt völlig real vor ihnen auf. „Hast du Angst vor ihr?“ K’vara schüttelte den Kopf und nickte dann. „Ich habe Angst vor dem, wozu sie fähig ist. Schau, was sie mit deiner Schwester gemacht hat. Sie ist böse!“ Kiras legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Bitte! Hör auf so über sie zu denken. Du musst zumindest versuchen sie zu verstehen, sonst bist du nicht viel besser als sie.“ K’vara trat ein paar Schritte zurück. „Wie kannst du nach allem so über sie denken?“ Kiras presste die Lippen zusammen. Er seufzte tief. „Weil ich sie nicht hassen will!“

Mira hörte schnelle Schritte im Vorraum. Sie stand langsam auf und drehte sich zur Tür um. Keuchend blieb Meranaa in der Tür stehen. Ihr Gesicht war bleich. Mira trat vorsichtig auf sie zu. Sie strich die Haarsträhne aus ihrem Gesicht. „Was ist los?“ Meranaa holte tief Luft. „Es ist besser, wenn du zum Tor kommst. Es… es ist…“ Sie hustete. Mira drückte sie kurz an sich. „Schon gut, ich sehe selbst nach!“ Mira huschte durch die Tür. Sie hörte Meranaas protestierende Worte, als sie schon in die Gänge des Palastes bog.
Sie keuchte, als sie die Treppen hinunter lief. Nach und nach verfiel sie in einen Gehschritt. Schweiß trat bereits auf ihre Stirn. Trotzdem versuchte sie sich zu beeilen. Meranaas Aufregung hatte ihre Neugierde und gleichzeitig ihre Sorge geweckt. Sie hörte ihren Namen von den Treppen herunter schallen. Mira wandte sich um. Ganz oben stand Sine. Er rannte jetzt auch die Treppen hinunter. Irgendjemand musste ihn ebenfalls geholt haben. Wie automatisch glitt ihr Blick die Stadtmauer entlang. Auf ihren üblichen Platz stand Maska. Aus einem seltsamen Grund schien sie das ein wenig zu beruhigen. Maska war ein Fixplatz. Sine umarmte sie, so dass sie fast das Gleichgewicht verlor und drückte sie kurz an sich. „Hast du es auch gehört?“ Er ließ sie so abrupt los, wie er sie umarmt hatte und war schon die ersten Schritte Richtung Südtor gelaufen. Sie verneinte. Er blieb abrupt stehen. „Meranaa hat es nicht raus gebracht und ich dachte, ich sehe lieber selbst!“ Sine schluckte heftig. Plötzlich erfüllte Mira ein ungutes Gefühl. Ihre Hände begannen zu zittern. „Chesem Ba ist wieder da! Es sieht nicht gut aus!“ Mira stockte. Für eine Sekunde glaubte sie, dass ihr Blut gefrieren würde. „Was!“ Sine nickte. Sie ergriff seine Hand und gemeinsam liefen sie los.
Mira fiel vor der Barre in die Knie. Sie griff nach seiner Hand. Sie war erschreckend heiß. Sein ganzer Arm war voller Blut. Er lächelte schwach. Seine Hand fuhr zu ihrem Gesicht. Die Finger berührten ihre Mundwinkel. „Lächle… Schwester!“ Sie drückte seine Hand. Ihre Zunge berührte ihren Mundwinkel. Er schmeckte nach Blut. „Was machst du nur für Sachen?“ Chesem Ba setzte an zu einem Lachen. Doch sein Gesicht verzog sich. „Wüstenblume Mira, bitte lasst uns unsere Arbeit tun.“ Sie zuckte zurück, doch ließ sie seine Hand nicht los. Seine Hand wurde schwach. Er schloss die Augen, so als wäre es zu anstrengend sie offen zu halten. Miras Herz raste wie wild. Kurz hatte sie die Angst ihm könnte auch das Atmen zu schwer fallen. „Er hat sehr viel Blut verloren. Die Wunde muss dringend gereinigt und genäht werden!“ Mira nickte wie benommen. Das Bild vor ihr begann zu verschwimmen. Chesem Bas Hand rutschte aus ihren. Er wurde hoch gehoben. Unter Tränen sah sie zu, wie sie Chesem Ba weg trugen. Langsam fiel sie nach hinten und landete in den Armen von Sine.


© lerche


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