Es dämmerte noch, als Jean und ich uns auf den Weg machten. Selbst als ich den mir viel zu großen, schwarzen Sportanzug anzog, den Jean mir gegeben hatte und mein Haar unter der schwarzen Kappe versteckte, hatte ich nicht einmal eine Vermutung, wohin Jean mich bringen wollte. Den ganzen Morgen hatte er kein Wort gesagt. Lediglich die Tatsache, dass er seine Stirn in Falten legte, verriet, dass er strengstens über einen Plan nachdachte.

Wir stiegen in den geräumigen Fahrstuhl.
„Cainwis? Bring uns zur Endstation! Vermeide alle belebten Wege und schalte alle Kameras aus, die sich auf dem Weg befinden und die du greifen kannst. Vermeide sämtliche GN5 Drohnen – ausnahmslos.“ Es war das erste Mal, dass Jean an dem Tag sprach.
„Jawohl, Sir“, antwortete Cainwis in seiner gewohnten, gutgelaunten Stimme.

Der Fahrstuhl setze sich in Bewegung, doch er beförderte uns nicht zu dem Eingang, aus dem ich den Abend davor gekommen war. Stattdessen fuhr er weiter nach Hinten an der Wand entlang und stieg danach an einem Turm empor, nur um über ein weiteres Gebäude zu kommen. Danach fuhren wir hinunter. Durch das Glas konnte ich erkennen, dass wir an einer Seitenstraße in der Nähe des Eingangs zum Einkaufszentrum fuhren. Auch wenn die Straße so dicht am überfüllten und lebhaften Viertel lag, war sie vollkommen leer.

Ein paar Lichtstrahlen hatten sich durch die Wolkenkratzer der Innenstadt gekämpft und ließen symmetrische Figuren auf dem gegenüberliegenden Gebäude aufleuchten, wie ein futuristisches Design. Es war faszinierend, wie etwas künstlich Erschaffenes, etwas so Schönes projizieren konnte. In Wirklichkeit gab es keine Strahlen. Die Kontinente mit ihren künstlichen Ummantelungen, die wie Kuppeln über der noch verbliebenen Erdoberfläche lagen, kannten keine Sonne, keinen Himmel, keine Sterne und auch kein Wetter. All das wurde an den gigantischen Bildschirmen, die an der Decke unseres Wohnraumes angebracht wurden, lediglich projiziert. Es entstand der Eindruck, als ob die Welt unversehrt und nicht am Rande der Zerstörung wäre.

Ich fand es absurd, dass ich gerade in einem solchen Augenblick daran dachte, wie die Menschheit sich selbst vorspielte, dass alles in Ordnung sei.

Der Fahrstuhl näherte sich einer großen Asphaltplatte auf dem Boden, doch kurz bevor er drohte auf ihr aufzuprallen, öffnete sich diese und wir fuhren in die Dunkelheit. Obwohl der Fahrstuhl mit eine Glasbeleuchtung ausgestattet war und Cainwis‘ Stimme visuell durch ein Lichtspiel dargestellt wurde, konnten wir nicht sehen, was sich außerhalb des Fahrstuhls befand.

Schließlich kamen wir in einem äußerst kleinen Raum zum Stehen. Die Türen glitten auf und wir stiegen aus.

Der Raum war mit einer grellen Lampe beleuchtet, die weder einen Lampenschirm, noch irgendeine andere Art von Verkleidung trug. Nicht nur, dass er dadurch sehr unheimlich erschien, er regte auch zu einem klaustrophobischen Anfall an.

Ich war so in Gedanken über der kleinen Raum vertieft, dass mir gar nicht auffiel, wie sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte und wieder an die Erdoberfläche verschwand.
Der einzige Weg aus diesem Raum führte durch eine verschlossene Tür, die jedoch eigenartig aussah. An ihr war kein Daumenscanner und auch keine Leiste zur Eingabe eines Codes. Stattdessen befand sich neben der Tür ein Schalter. Er sah aus wie die alten Lichtschalter, die es heutzutage nicht mehr gab. Neben der Tür, in der linken Ecke, befand sich eine Überwachungskamera. Auch diese hatte nichts mit den aktuell üblichen Kameras gemeinsam. Ich kam mir vor, als wäre ich in eine andere Zeit gereist.

Jean, der hier sichtlich nicht zum ersten Mal war, betätigte den Schalter. Ein gedämpftes Klingeln ertönte, scheinbar auf der anderen Seite der Tür. Die Kamera richtete sich plötzlich mit einem zischenden Geräusch auf uns.

„Bitte, identifizieren Sie sich mit Ihrem Namen, Ihrer Personalnummer oder Ihrem Geburtsdatum.“, forderte eine freundliche Stimme uns auf. Mein Körper verkrampfte. Ich wurde vom gesamten Kontinent gesucht und durfte mich nirgendwo identifizieren oder scannen lassen. Wo hatte Jean mich hingebracht?

„Lass den Scheiß, Phil. Mach die Tür auf!“, sagte Jean und ich verstand, dass die zuvor gemachte Aufforderung nicht ernst zu nehmen war – ein einfacher Scherz unter Freunden.

„Aber, Sir“, sagte die Stimme,„ ich muss Sie bitten der Aufforderung nachzugehen. Dies sind die Standardvorkehrungen in diesem Haus. Sie haben doch sicher Verständnis.“

„Ich hab keine Zeit für diesen Scheiß, Phil. Mach auf, verdammt!“
Jean wurde zunehmend gereizter und seine Stimme etwas lauter. Gleichzeit lag eine gewisse Verzweiflung darin.

„Sir, bitte bewahren Sie Ruhe..“, setzte die Stimme wieder an, doch sie wurde daraufhin unterbrochen.

„Master Phil, machen Sie bitte die Tür auf!“, meldete sich Cainwis zu Worte. Ruckartig blickte ich um mich. Warum war Cainwis immer noch hier?

„Ja ja, schon ok, Cainwis.“, sagte die Stimme und ein schrilles Summen ertönte.
Jean lehnte sich gegen die Tür und sie gab unter seinem Gewicht nach. Ich folgte ihm in einen langen, hell beleuchteten, weißen Gang. Wir bogen rechts ab und folgten ihm, bis dieser nach links führte. Schließlich kamen wir an eine weitere Tür, die genauso aussah, wie die, die wir zuvor betreten hatten. Jean öffnete sie und wir traten in ein exorbitantes Laboratorium.


© Ronia Tading


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