Mikulas fingerte nach der Spitze. Sie zupfte sie ein wenig hin und her. Dann griff sie nach einer Haarnadel und befestigte das Tuch an Goschas Haaren. Goscha runzelte ein wenig die Stirn. „Findest du das nicht ein wenig übertrieben?“ Mikulas trat einen Schritt zurück und betrachtete das Gesamtkunstwerk. „Du heiratest! Das soll einer der schönsten Tage deines Lebens sein!“ Goscha biss sich auf die Lippen. „Du bist wunderschön! Eine Braut muss wunderschön sein!“ Alle schienen von dieser Krankheit angesteckt zu sein. Die Aufregung schien durch jeden hindurch zu fluten. Selbst Vasa Rem war völlig aufgekratzt. Doch sie wusste nicht so recht, was sie damit anfangen sollte. Mikulas trat wieder heran und zog eine der Nadeln aus den Haaren, um sie neu zu positionieren. Goscha fuhr mit der Hand zu ihrem Bauch, der sich mittlerweile wie eine Kugel über sie hinweg wölbte. „Ich finde das aufregend! Ich wünsche mir auch so ein Kleid, wenn ich heirate.“ Goscha sagte nichts dazu. Sie konnte sich gut an den Tag erinnern, wo Chesem Ba plötzlich in der Tür aufgetaucht war. Er war gerade erst von einen seiner Reisen zurückgekommen und hatte ein Paket in den Händen, was er fast wie ein Heiligtum betrachtete. Als es Goscha mit der entsprechenden Sorgfalt geöffnet hatte, war der rote Stoff hervor gequollen. Goscha war fast der Atem weg geblieben. Stoff von so einer Qualität hatte sie bisher nur von weitem gesehen. Chesem Ba hatte in dem Moment sehr verlegen ausgeschaut. „Das ist für dein Kleid!“, hatte er gestammelt. Goscha hatte zuerst gar nicht begriffen, was er gemeint hatte. Doch Vasa Rem hatte ihn umarmt und fast vor Rührung geweint. Jetzt schmiegte sich dieser Stoff sanft um ihren Körper. Und sie kam sich völlig deplaziert vor. Wozu war das Ganze gut? Sie blickte in Mikulas glühendes Gesicht. Offensichtlich war das etwas, was sie nicht verstand.
Das Warten war bisher das Schlimmste. In Chema gab es ein strenges Protokoll über den Ablauf einer Hochzeit und da Vasa Rem Teil der regierenden Familie war, musste man sich besonders daran halten. Mikulas und Mira waren das Ganze mit ihr mehrfach durchgegangen. Am Anfang hatte es sie noch amüsiert, aber inzwischen empfnad sie vor allem Unverständnis für dieses komplexe Ritual. Goscha fuhr zu ihrem Gesicht, doch wagte sie nicht, ihre Haare oder die Spitze ihres Tuchs, auch ein Geschenk von Chesem Ba, zu berühren. Mikulas hatte sich so viel Mühe damit gegeben, um sie perfekt zu machen. Sie würde sich schämen, wenn sie das alles mit einen Griff kaputt machen würde. Unsicher legte sie wieder ihre Hand auf den Bauch. Sie hatte nachgezählt. Es konnten keine zwei Monate mehr sein, bis sich dieses Kind, ihr Kind, in ihr Leben drängen würde. Sie versuchte bei dem Gedanken zu lächeln, doch ganz wollte es nicht gelingen. Was machte sie hier? Plötzlich war ihr die Gegenwart von all diesen Menschen zu wider. Sie sehnte sich nach der einsamen Hütte. Sie wollte für einen Moment überall sein, nur nicht in Mitten all der Aufmerksamkeit.
Sanft legte Mikulas das Tuch vor ihre Augen. „Keine Sorge, das wird alles glatt gehen!“; flüsterte sie Goscha aufmunternd zu. Doch Goscha verstand nicht ganz, was Mikulas ihr damit sagen wollte. Sie hatte fast Lust zu fragen, wie oft bei einer Hochzeit schon etwas schief gelaufen war. Mikulas verknotete das Tuch. Goscha unterdrückte den Impuls danach zu greifen. Sie würden sich blind vor dem Altar treffen. Das sollte etwas mit Vertrauen zu tun haben. Mikulas ergriff ihre Hände und zog leicht daran, um ihr an zu deuten, dass sie aufstehen sollte. Goscha wünschte sich das sanfte Fell von Sin an ihren Beinen. Sie hatte ihm verboten näher zu kommen, solange sie diesen Stoff trug. Sie hatte wirklich Angst um dieses kostbare Kleid. Aber jetzt bereute sie es fast. Sin war so oft in den letzten Jahren an ihrer Seite gewesen. Sie wäre verzweifelt ohne ihn. Er gehörte zu ihr. Sie setzte ihre Füße langsam in Bewegung. Es war ein wenig ungewohnt durch die Dunkelheit zu tappen. Dabei war sie den Weg schon viele Male mit offenen Augen gegangen. Jetzt schien alles seltsam verzerrt. Die Wege schienen keine fixe Länge mehr zu haben. Nur das leichte Ziehen an ihrer Hand führte sie immer weiter und weiter. Sie dachte an den Geruch von Blut. Es gab viele Gerüche von Blut. Das eingetrocknete Blut auf den Kleidern roch nur wenig und das frische Blut, das aus einer Wunde quoll war wieder anders. Am ekeligsten war es, wenn eine Blutlake langsam eintrocknete und nur noch blutige Paste übrig war. Sie schüttelte leicht den Kopf. Wieso dachte sie zu ihrer Hochzeit an Blut?

K'vara war bei Sonnenaufgang aufgebrochen. Die Luft war noch klar und kühl. Erst am Vormittag würde die Sonne die Wüste wie einen Backofen aufheizen. Sie zog ihre Kapuze etwas tiefer. Die Sonne war ihr egal, doch sie wollte nicht unbedingt von irgendwelchen Frühaufstehern erkannt werden. Sie legte ihre Arme um ihren Körper und stapfte zügig weiter. Das Marschieren und Laufen war sie gar nicht mehr richtig gewöhnt. Die letzte Zeit hatte sie schließlich fast ausschließlich in der Bibliothek verbracht. Sie nahm sich vor öfter am Abend eine Runde auf den Burgmauern zu gehen. Bei Kerzenlicht war es sowieso schwer zu lesen und sie merkte immer mehr, dass ihre Augen nach einer Weile zu brennen anfingen. Ihre Gedanken begannen ihm Kreis zu laufen. Immer wieder huschten Teile des Textes in ihrem Kopf hin und her, den sie gerade erst am Vortag in der völlig leer gefegten Bibliothek gelesen hatte. Dann dachte sie an Kiras, an sein Gesicht, an die Art und Weise, wie seine Flecken am Hals angeordnet waren. Es waren genau dreizehn kleine schwarze Flecken. Sie waren dunkel und von feiner Linie, nicht so netzartig, wie ihre eigenen und es waren genau dreizehn. Die letzten beiden waren schwer zu erkennen gewesen. Sie versteckten sich ganz hinten knapp unter dem Haaransatz. Dann dachte sie an das Fest vom Vortag. Quasi die ganze Stadt war anwesend gewesen. Der Tempel war gesteckt voll. Die Braut hatte ein rotes Kleid getragen. Es sah aus, wie die Farbe des Steines, der von der Sonne beschienen würde. In ihrem Inneren gab es einen Stich. Kiras würde ihr sicher auch so ein Kleid machen lassen, wenn sie nur wollte. Aber sie wollte nicht. Sie wäre sowieso nur hässlich darin gewesen. Wie konnte man nicht in so einem Kleid hässlich aussehen? Es war einfach viel zu schön an sich. Doch Goscha hatte irgendwie nicht hässlich gewirkt. K’vara wusste nicht wieso. Vielleicht lag es auch daran, dass Goscha so völlig anders war, als jeder Mensch, den sie vorher gekannt hatte. Keiner der Händler, die ihren Vater besucht hatten, hatte so ein rundes Gesicht gehabt.
Sie lief den Feldweg entlang. Das Getreide auf den Feldern war grün und hatte gerade erst begonnen zu sprießen. Vor wenigen Wochen hatten sie den anderen Teil geerntet. K’vara zählte die grünen Felder und dann die braunen Flächen. Sie waren identisch. K’vara wusste, dass sie genau identisch sein mussten. K’vara hatte die Fruchtabfolge genau studiert. Sie kannte sie in und auswendig, wie so viele andere Sachen auch. Sie blieb stehen und starrte das Tal hinunter, das sich auf Grund der großen Felsen, immer enger wurde. Ihre Füße wollten sie nicht weiter tragen. Langsam begann das schlechte Gewissen an ihr zu nagen. Würden sie ihren Besuch verstehen? Hatten sie ihre Abwesenheit überhaupt bemerkt? Es waren so viele Menschen da gewesen. Was machte es da für einen Unterschied, wenn einer mehr oder weniger war? Hätte sie nicht vielleicht etwas mitnehmen sollen?
Leise flossen die 158 Verhaltensregeln über ihre Lippen. Sie konnte das Haus schon sehen, doch wollte sie nicht daran denken. Man musste sich entschuldigen, wenn man zu einem Fest nicht erschienen war. Sie wollte sich bei Goscha entschuldigen. Sie hatte irgendwie das Gefühl Goscha war in einer ähnlichen Situation wie sie selbst. Irgendwie war sie hier herein gerutscht. Außerdem glaubte K’vara, dass sie von ihr viel lernen konnte, wenn sie die Frau nur zum Reden bringen konnte. Der Osten war immer schon unter sich geblieben, eine elitäre Region im Kaiserreich. Kaum Handel und kaum Informationen waren aus diesen Gebieten hier her gedrungen. Trotzdem hatte dieses Land viel zu bieten. Davon war K’vara einfach überzeugt.
K’vara klopfte noch einmal. Jetzt glaubte sie Geräusche aus dem Inneren zu hören. Sie runzelte leicht die Stirn. Ihre Hand fuhr zu der Schnalle, doch dann zuckte sie zurück. Jetzt konnte sie eindeutig einen unterdrückten Schrei ausmachen. Sie drückte die Tür auf. Der große Hauptraum war leer. Davon führten zwei Türen weg. Durch die eine kam man in die Küche und Waschraum. Die andere führte ins Schlafzimmer. Alle Häuser von Chema waren gleich aufgebaut. K’vara schlich durch den Raum. Sie hörte wieder einen Schrei. Diesmal war er deutlicher. Ohne darüber nach zu denken lief sie zum Schlafzimmer. Sie schob den Vorhang beiseite.
Goscha lag in Vasa Rems Armen. Schweiß war auf ihrer Stirn. Ihre Hände hielten ihren Bauch. Sie schnappte nach Luft. „Was...?“ Erst jetzt schienen die beiden sie zu bemerken. Goscha biss die Zähne zusammen. „K’vara… was…?“ „Du bekommst dein Kind!“ Goscha nickte. Ihr Gesichtsausdruck wechselte zwischen Freude und Sorge. K’varas Gehirn begann fieberhaft zu werken. Was hatte sie alles zu dem Thema gelesen? Ihre Gedanken überschlugen sich. „Ist das nicht zu früh!“, brachte sie als erstes hervor. Goscha nickte nur. Vasa Rem küsste ihre Wange. K’vara blickte instinktiv weg. „Es wird alles gut!“, flüsterte er immer wieder. K’vara nickte nur. Sie spürte Panik in sich hoch steigen. Was sollte sie tun? Sie hatte das alles doch nur in der Theorie gehört! „Ich… ich… ich hole die Nachbarn!“ Sie drehte sich um und begann zu laufen, fast so als hinge ihr Leben davon ab.

Vasa Rem begann einen Trampelpfad in der Küche auf und ab zu gehen. Sehnsüchtig warf er einen Blick zu der Schlafzimmertür. Er hörte Goschas dumpfen Schrei und zuckte dabei zusammen. Er wäre gerne an ihrer Seite gewesen, aber man hatte ihn verband. Seine Nervosität mache alles nur noch schlimmer. Er fuhr sich durch die Haare. Nur das zustimmende Nicken von Goscha hatte ihn schlussendlich dazu gebracht wirklich zu verschwinden. Er ließ sich auf den Sessel in der Küche fallen. Seine Hände gruben sich in die Haare. Sein Atem ging tief. Er begann sich auf einen Punkt in der Luft unter sich zu konzentrieren. Langsam verschwand das Haus um ihn herum. Ruhe kehrte in seinen schnellen Atem. Seine Hände zitterten nicht mehr. Vor seinen Augen sah er Goschas lächelndes Gesicht. Sie hatte immer so glücklich ausgesehen, als sie ihre Hand auf den Bauch gelegt hatte. Er war auch glücklich gewesen. Sie waren eine richtige Familie. Schleichend kamen auf Umwegen wieder die Sorgen. Wie viele Mütter starben bei der Geburt? Er konnte nicht ohne Goscha sein. Dauerte das immer so lange? „Vater“, murmelte er. Wie hatte er es nur ausgehalten, als seine eigene Mutter gestorben war? Wie schlimm mussten dann für ihn die anderen Geburten gewesen sein? Immer wieder musste er daran gedacht haben, wie flüchtig ein Leben war. Er konnte sich noch gut an Mikulas Geburt erinnern. Das war mitten in der Nacht gewesen. Sein Vater hatte mit ihm in Ruhe Tee getrunken, während sie gewartet haben. Doch er konnte nicht ruhig sein. Sein Kind kam zu früh. Wieso? Er verstand das nicht.
Das Gras unter seinen nackten Füßen war noch ein wenig feucht. Er atmete tief die frische Luft des Morgens ein. Langsam kamen wieder die klaren Gedanken in den Kopf. Er hob seine Hand. Vor seinem geistigen Auge sah er das Gesicht von Chesem Ba. Niemand hatte sich die Mühe gemacht in die Stadt zu laufen. Das würde wahrscheinlich eine Stunde dauern. Es war besser jede Hand, die hier gebraucht wurde zu behalten. Nur er selbst war untätig und konnte gleichzeitig Goscha nicht verlassen. Alle Bauern hier draußen hatten ihre Kinder selbst auf die Welt gebracht. So war es immer schon gewesen. Er fühlte, wie die Luft sich langsam zu einem kleinen Vogel formte. Der Vogel spreizte sein Gefieder. Kurz fuhr sein Schnabel zwischen die Federn, um sie gerade zu richten. Vasa Rem hob die Hand mit dem Vogel vor den Mund. Dann blies er ihn ein wenig an. Der Vogel flatterte sofort los. Er schloss die Augen und seufzte tief.
Das sanfte Geräusch der sich öffnenden Haustür ließ ihn zusammenschrecken. Es war so ruhig. Langsam wandte er sich um. Er schluckte heftig. K’vara stemmte sich durch die Tür. Fast ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem kleinen Bündel in ihren Armen. Sie schob die Stofflaken aus einander. Dann erst blickte sie hoch und schien ihn zu bemerken. Sie lächelte unsicher. Vasa Rem wusste nicht, was er sagen sollte. Vorsichtig streckte sie ihm das Kind entgegen. Vasa Rem hatte nicht zum ersten Mal ein Baby in der Hand. Er hatte seine Geschwister oft gehalten. Doch die waren dann immer schon größer gewesen, nicht so ein Winzling. Eine Träne löste sich von seinen Augen. „Es… es ist ein Mädchen!“ Vasa Rem lächelte schüchtern. Das Ding in seinen Armen lebte. Es war sein Kind! Er konnte es nicht so recht glauben. Die Augen in seinem verrunzelten Gesicht konnten ihn noch nicht sehen. Mit Gewalt riss er seinen Blick von dem kleinen Wesen los. „Wie geht es Goscha? Kann ich rein kommen! Geht es ihr gut?“ K’vara biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. „Besser nicht! Besser du wartest noch, bis das Zweite draußen ist!“ Vasa Rem blinzelte. „Was?“ Plötzlich grinste K’vara. „Es sind Zwillinge! Es sind zwei! Deswegen wollten sie schon so früh heraus: kein Platz mehr für beide.“ Vasa Rem blickte perplex in K’varas Gesicht und dann wieder auf seine kleine runzelige Tochter. Er wusste nicht, was er sagen sollte. K’varas Finger fuhr zu dem roten Gesicht des Mädchens und streichelte ihre Wange. Dann zuckte sie zurück. Ihr Gesicht wurde plötzlich ernst. „Da ist noch etwas!“ Vasa Rem schüttelte ungläubig den Kopf. Der Tag war schon so voller Überraschungen gewesen. „Es ist wegen ihr! Ich glaube… wir glauben… wir glauben, sie ist stumm!“ Vasa Rem drückte instinktiv das kleine Wesen beschützerisch an sich. „Aber…“ K’vara nickte. „Ich meine, sie hat bisher noch keinen Laut von sich gegeben. Aber ansonsten ist sie normal! Sie atmet normal.“ Vasa Rem nickte langsam. Er ließ sich langsam in das Gras sinken. Noch langsamer begann er das kleine Etwas hin und her zu wiegen. Diese ganze Information überstieg ihn einfach. Er wusste nicht, ob er sich freuen sollte, oder wütend sein sollte. War es nicht unfair, dass gerade seine Tochter nicht sprechen können würde? Der Gedanke machte ihn wütend. Sein Finger fuhr zum dem winzigen Gesicht. Er glaubte so etwas wie ein Lächeln in ihrem Gesicht zu sehen. Plötzlich war ihm das alles egal. Er hatte eine Tochter. Sie lebte! Und er hatte ein zweites Kind und eine wundervolle Frau. Er hatte eine Familie. Er blickte zur Sonne hinauf. Musste er nicht in diesem Moment der glücklichste Mensch unter ihren sengenden Strahlen sein?

Chesem Ba rieb sich träge die Augen. Sie waren am Vortag noch lange bei Vasa Rem geblieben und erst sehr spät zurück geschwankt. Träge erinnerte er sich daran, dass er noch mit Kiras zusammen gesessen war. Chesem Ba schloss die Augen. Er war es gewöhnt jeden Tag früh auf zu stehen. Wenn man in der Wüste unterwegs war, war das unerlässlich. Er fühlte sich wie erschlagen. Dann seufzte er. Schließlich gab es ja nicht jeden Tag eine Hochzeit in der Familie. Er lächelte bei dem Gedanken. Goscha war eine wunderschöne Prinzessin gewesen, fast ein Wesen, das nicht auf diese Welt gehörte. Sie war die schönste Braut gewesen, die er jemals gesehen hatte. Er war so stolz auf dieses Gewandt gewesen, als hätte er es selbst gemacht. Irgendwie war er auch neidisch auf seinen Bruder gewesen. Eigentlich war er es immer noch. Er wandte sich von seinem Fenster ab und blickte auf den Lehnsessel. Manchmal sehnte er sich danach eine wunderschöne Frau wie Goscha in diesem Sessel vor zu finden. Doch stattdessen schlief Kiras mit offenen Mund und zerzaustem Gewand dort. Chesem Ba schlich sich zu ihm. Dann fuhr er mit dem Finger zu seiner Wange. Kiras hob widerwillig die Hand und versuchte ihm Halbschlaf das lästige Wesen weg zu bekommen, was in seinem Gesicht Platz genommen hatte. „Aufwachen“, säuselte er Kiras ins Ohr. Kiras begann seltsame Laute von sich zu geben. Chesem Ba glaubte ein paar Mal K’varas Namen zu hören. Er stand seufzend auf. Kiras brauchte ein anständiges Frühstück.
Chesem Ba gähnte ausufernd. Er starrte auf die Früchte, die er auf dem Tablett hergerichtet hatte, ohne sie wirklich zu sehen. In seinen Händen hielt er die Teekanne, die darauf wartete befüllt zu werden. Kurz überlegte er, ob er nicht schnell zu Mikulas und Mira laufen sollte, um sie zum Frühstück ein zu laden. Doch dann entschied er sich dagegen. Träge griff er nach den Teeblättern und steckte eine Nase hinein. Er sog ihren Duft ein, der sanfte Geruch von Orangenblüten. Danach ging es ein wenig besser.
Er tippte Kiras sanft auf die Schulter. Kiras grunzte, machte aber keine Anstalten auf zu wachen. Chesem Ba wurde ein wenig unsanfter. „Was willst du“, knurrte er, drehte sich ein Stück im Sessel. „Frühstück ist fertig“, säuselte Chesem Ba ihm ins Ohr. „Was…“ Kiras Wort endeten in einem Gähnen. Dann streckte er sich und schüttelte den Kopf. „Ich habe das Gefühl mir tut alles weh!“ Chesem Ba streckte ihm eine Tasse Tee entgegen. „Der Sessel ist nicht wirklich bequem!“ Kommentarlos hob Kiras die Tasse zu seinen Lippen. Er kostete nicht gleich, sonder blies zuerst sanft über die Oberfläche. Chesem Ba lehnte sich zurück. „Auf K’vara liegt es sich sicher bequemer!“ Kiras ließ die Tasse sinken. „Woher soll ich das wissen?“, knurrte er zurück.
Kiras stand auf und fuhr sich durch die Haare. „Was hast du eigentlich für ein Problem damit, dass ich K’vara treffe?“ Chesem Ba runzelte die Stirn. „Wieso sollte ich ein Problem haben?“ Kiras zuckte mit den Schultern. Dann seufzte er. „Bist du vielleicht eifersüchtig?“ Chesem Ba schüttelte vehement den Kopf. „Glaubst ja wohl nicht ernsthaft, dass ich auf den Bücherwurm stehe? Ich leide doch nicht an Geschmacksverwirrungen, so wie du!“ Kiras schüttelte den Kopf. Er beugte sich hinunter zu seiner Jacke. „Das habe ich nicht gemeint.“ Jetzt ließ auch Chesem Ba die Überreste seines Frühstücks stehen und stand auf. „Was?“ Kiras schüttelte den Kopf, so als täte ihm leid, dass er überhaupt damit angefangen hatte. Dann seufzte er wieder. „Dein Bruder hat geheiratet, dein bester Freund ist bis über allen Ohren verliebt und du hast niemanden!“ Chesem Ba blickte zu Boden. Dann begann er unmerklich an seinen Lippen zu kauen. „Mira hat auch niemanden! Oder Mikulas!“ Kiras legte ihm eine Hand auf seine Schulter. „Mira ist mit dieser Stadt verheiratet und Mikulas ist noch zu jung. Die Wüste ist keine gute Liebhaberin. Es wird Zeit, dass du dir eine richtige Frau suchst!“
Chesem Ba starrte lange aus dem Fenster und dachte über Kiras Worte nach. War er wirklich einsam? Beneidete er seinen Bruder? Er beneidete seinen Bruder. Er wollte auch gerne wissen, wo sein Platz in dieser Welt war. Seine Augen wanderten suchend den Himmel hinauf. Er würde sich doch eine Frau suchen, wenn er sicher wüsste, dass er das wollte. Aber er wusste nicht einmal das sicher. War das der Grund, wieso er immer durch die Wüste pendelte. Er blinzelte. Was war das für ein seltsamer Vogel? Er versuchte in der flirrenden Luft mehr zu erkennen. Der Vogel kam langsam auf ihn zu geflattert. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Hatte er jetzt Illusionen? Er schloss die Augen und zählte langsam bis zehn. Als er sie wieder öffnete, hatte sich der kleine weiße Vogel auf das Fensterbrett gesetzt. „Was machst du hier?“ Der Vogel tschirpte. Er flatterte einmal auf und zerstob in kleine Federn, die langsam zu Boden sanken und dort zu Nichts zerschmolzen. Chesem Ba blinzelte noch einmal. Plötzlich schoss ihn die Erkenntnis. „Vasa Rem! Goscha!“ Irgendetwas musste passiert sein. Er drehte um und rannte zur Tür.
Chesem Ba stockte bei der Stalltür. Langsam öffnete er sie. „Weiße Vögel!“ Er brauchte nur wenige Sekunden, um bei Bal zu sein. Das Tier schnaubte fröhlich und stupste ihn mit der Schnauze an. Er öffnete die Tür. In Gedanken versunken fuhr seine Hand zu Bals Hals. Weiße Vögel bedeuteten die Geburt eines Königskinds. Aber Goscha war doch erst im siebenten Monat! War das Kind zu früh gekommen? Vasa Rem hatte ein Kind bekommen. Chesem Bas Hand vergrub sich in Bals Fell. Kurz lehnte er die Stirn gegen ihn. Er blinzelte die Tränen fort. „Wieso… wieso?“ Er wollte plötzlich, dass es sein Kind sei, dass Goscha ihm gehöre. Er wollte den Platz seines Bruders, zu dem er immer aufgesehen hatte und den er gleichzeitig auch verachtet hatte, weil er Chema scheinbar für immer verlassen hatte. Schnell fing er sich wieder und vertrieb diese geheimen Gedanken. Er griff nach den Zügeln, die neben der Kobel hingen und zäumte Bal auf. Auf den Sattel verzichtete er. Bal folgte ihm von selbst aus dem Stall. Am großen Platz schwang er sich auf seinen Rücken und trieb das Tier an.
Als er am Palast vorbei kam, blieb er kurz stehen. Er sah, Mira die Treppen herunter laufen. „Chesem Ba, Gott sei Dank! Hast du auch...“ Sie brach ab, als er nickte. Er streckte seine Hand aus und fasste die seiner Schwester. Mit einem Ruck schwang er sie auch auf Bals Rücken. Dann ritten sie los in Richtung des Nordtores, hinter dem sich die Felder befanden.


© lerche


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