Er hatte auf der letzten Station der Wüstenstraße am Kontor sein Malak durch ein Pferd ersetzt. In der heißen Wüstenlandschaft war ein Malak zu bevorzugen, aber da er jetzt tiefer nach Siruna eindrang war er auf dem Pferd schneller. Er wollte so schnell wie möglich zu seinem Elternhaus kommen. Alles in ihm drängte danach. Nachdem er klar vor Augen sah, was er zu tun hatte, wollte er keine Zeit mehr verschwenden. Er trieb sein Pferd an. Die Straße war noch matschig von der langen Regenzeit und Dreck spritzte auf, als das Tier über den Weg galoppierte. Das war alles egal! Sein Puls raste. Mit jedem Schlag kam er seinem Ziel ein Stück näher. Wörter und Bilder flogen durch seinen Kopf, doch nichts konnte für lange verweilen. Die meisten Bilder hatten etwas zu tun mit K’vara. Er dachte kurz an die kleinen Falten, die auf ihrer Stirn entstanden, wenn sie angestrengt einen Text las. Dann spürte er wieder ihre Schläge gegen seine Brust. Seine Hand fuhr zu seinem Hemd. In der Innentasche trug er K’varas Brief, das Wertvollste, was er besaß. Zumindest kam es ihm so vor. Immer wieder und wieder hatte er sich davon abhalten müssen ihn zu lesen, ihre Schrift zu sehen. Er wollte wissen, was sie ihren Eltern zu sagen hatte, welche Gefühle sie hegte. Er wollte sie verstehen, sie kennen lernen, wissen, was er tun musste, um ihr Herz zu gewinnen.
Sein Elternhaus war am Rand der Kleinstadt. Kiras zögerte kurz, als er es aus der Ferne sah. Widerwillig hielt das Pferd an. Es tänzelte kurz bevor es zur Ruhe kam. Kiras strich ihm über den Hals. Dabei hinterließen seine Finger eine Spur im flockigen Schweiß. Er seufzte. Seine Hände zogen an den Zügeln und er lenkte das Tier von der kleinen Zufahrtsstraße weg. Er würde noch genug Zeit haben seine Mutter zu begrüßen. Er ritt nur wenige Meter und wandte sich dann um. Das Verlangen nach einem langen Bad und duftender Kleidung war größer. Seine Füße trieben das Pferd selbst auf der letzten Strecke weiter an, bis er schließlich das Tor erreichte. Er machte sich nicht die Mühe ab zu steigen. Stattdessen beugte er sich über den Pferdehals zu dem Klopfgriff. Er erreichte ihn zuerst nicht. Seine Finger berührten gerade das Metall. Dann bekam er ihn doch zugreifen und ließ ihn wieder gegen das Tor fallen. Kurz glaubte Kiras das Übergewicht zu verlieren. Doch er fing sich. In seinem Gedanken sah er sich im Matsch und Dreck liegen und konnte K’varas Kichern hören. Doch vielleicht würde sie ihm doch nur vorhalten, dass er sich dreckig gemacht hatte. Das Tor schwang auf und vertrieb den Gedanken an K’vara.
Seine Mutter begrüßte ihn am Hauseingang. Er ließ es nicht zu, dass sie ihn umarmte. Wahrscheinlich hätte sie es sowieso nicht getan. Er war voller Dreck und Schmutz von der Reise. Sie nahm nur seine Hand und hielt sie eine Weile fest. „Es ist schön dich zu sehen. Ich hatte wirklich Angst um dich!“ Kiras schüttelte den Kopf. Er lächelte leicht. „Mach dir keine Sorgen! Alles was mir fehlt ist ein ordentliches Bad.“ Vantras Hand bewegte sich und eines der Mädchen wandte sich ab, um im Badezimmer Wasser heiß zu machen. Wahrscheinlich fühlte sie sich jetzt unendlich glücklich. Sein Blick schweifte über die anderen Frauen. Seine Mutter hatte einen Ersatz für K’vara gefunden. Das war auch langsam Zeit gewesen. Sie hatte sonst nie so lange gewartet. Das hieß wohl er konnte sich nicht mehr heimlich in K’varas altes Zimmer schleichen um den Rest ihres Duftes, den sie dort hinterlassen hatte ein zu saugen. „Willst du dann noch etwas zu essen?“ Vantra hängte sich bei ihm ein und führte ihn weiter. Irgendwer würde sich um sein Pferd kümmern. Davon war er überzeugt. „Später vielleicht! Ich muss dann noch zum Kontor.“ Seine Mutter strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. „Gönnst du dir nicht einmal Ruhe?“ Kiras schüttelte den Kopf. Er dachte, wie es wohl war seinen Kopf in K’varas Schoß zu betten, während sie sich in eine der Bücher vertiefte. Dort würde er Ruhe finden. „Du würdest das doch auch nicht tun!“

Mit kleinen Schritten lief sie die Mauer entlang. Die Sonne prallte vom Himmel herab. Sie versenkte alles. Selbst die Wachen hatten sich in die kleinen Wächterhäuser zurückgezogen. Die Stadt war still. Die Stadt lauerte auf die Schatten bringende Dämmerung. Sie zog die Tücher etwas tiefer ins Gesicht um sich von der Sonne zu schützen. Es war ihr egal ob man ihr Gesicht sehen konnte. Man erkannte sie doch sowieso. Alles an ihr strahlte eine Andersartigkeit aus. Sie war anders in jeder Beziehung. Sie kaute auf den Lippen. Sie hatte es gesehen. Sie folgte ihren Pfad, der für sie leuchtend in ihren Träumen hervorstach. Und sie machte keine unnötigen Halte.
Der Vorhang fiel hinter ihr wieder vor das Haus und sperrte die Sonne aus. Sie roch kurz. Es duftete nach Rosenöl. Mikulas liebte Rosenöl. Manchmal roch alles an ihr danach. Sie gab auch etwas davon auf ihre Finger. Dann rochen nach jeder Berührung auch ihre Hände danach. Der Vorhang des Schlafzimmers wurde zur Seite geschoben. Dahinter war ein abgedunkelter Raum, wo nur wenige Kerzen Licht spendeten. „Warst du draußen? Jetzt ist es viel zu heiß. Magst du Tee?“ Sie nickte leicht, war fast dankbar, als sie eintreten durfte.
Sie drehte die Tasche in ihren Händen, so als würde sie irgendeine Wahrheit darin finden können. Doch die Wahrheit war in ihren Träumen. Die Wahrheit war nicht so leicht greifbar. Mikulas stand auf, als die Stille greifbar schien. „Ich hole noch mehr Wasser für Tee!“ Sie lächelte breit. Sie konnte lächeln. Ihre Finger griffen nach der Teekanne. Sie beobachtete lieber das Gesicht. Sie wollte so viele Lächeln und Tränen sehen wie sie konnte. Das gab ihr irgendwie das Gefühl zu leben. Jetzt warf sie den Blick auf die andere Frau. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß. „Du bist schwanger, oder?“ Das Oder diente nur der Höflichkeit. Sie wusste es schon längst. Sie hatte es gewusst, bevor die Frau Chema betreten hatte. Der Vogel hatte sie im Traum heimgesucht und von der Ankunft der Prinzen erzählt. Die Frau blickte auf, zuerst schockiert und dann glücklich. Sie war so glücklich, dass es wehtat. Ihre Hand legte sich auf den Bauch. „Sieht man ihn den schon so sehr! Ich habe das Gefühl er ist noch gar nicht groß!“ Sie schüttelte den Kopf. Ihre Hände stellte die Tasse wie beiläufig ab. Sie rückte ein Stück näher. „Es ist eigentlich ein Geheimnis!“ Das Lächeln dieser glücklichen Mutter bohrte sich tief in ihren Körper. Wie es wohl sein mochte so ein Glück zu finden? „Ich habe dich gesehen. Ich kenne deine Augen.“ Die Frau blinzelte verwirrt. Diese Augen hatten sich oft in der Nacht heimgesucht, hatten sie manchmal um den Schlaf geraubt. Die Frau schluckte. „Du meinst in deinen Visionen? Kiras meinte, du kannst die Zukunft sehen!“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich sehe nur Wege und manchmal sehe ich ihre Ziele. Doch ich verstehe sie nicht immer!“ Für eine Weile war es still. „Du hast mein Kind gesehen?“ Sie nickte nicht, zeigte nicht die Aufregung in ihr. Die Frau streckte ihr eine Hand entgegen. „Vielleicht möchtest du es jetzt spüren!“ Unsicher blickte sie auf die ausgestreckte Hand. Doch dann überwand sie sich und griff nach ihr, so wie nach einem rettenden Anker.
Die Haut unter ihrer Hand war heiß. Viel war von dem Bauch noch nicht zu sehen, doch sie spürte das Leben darunter pulsieren. Sie dachte an das Geheimnis, das sie darunter verbarg. Der Bauch wurde immer heißer. Gleichzeitig schien ihre Hand wie festgeklebt. Dann begannen rote Strahlen unter ihr hervor zu kriechen. Er zauberte Erschrecken in ihre Gesichter. Sie hatte es geahnt, hatte es gesehen, hatte es gehofft. Das Leben reagierte auf sie. Sie zog die Hand weg. Rote Striche hüllten sie in rot. „Was ist das?“ Sie schüttelte den Kopf. Umständlich stand sie auf. „Das Zeichen!“

Vier Paar Augen starten ihn groß an. Das kleinste Mädchen legte den Kopf ein wenig schief. „Bitte, Onkel Nabo!“ Er seufzte leicht. Eines der Kinder hatte ihn einmal dabei beobachtet, wie er gezaubert hatte. Jetzt kamen sie ständig und wollten Vögel aus seinen Händen fliegen sehen, oder seine Finger in Flammen stehen sehen. Irgendwann hatten sie auch begonnen ihn Onkel Nabo zu nennen, so als wäre er gar nicht der absolute Fremde, der sich nur mit einem Schreiben von Kiras zum Kontor Zugang verschafft hatte. Aber solche Kleinigkeiten waren den Kindern offensichtlich egal. Ihr Herz war noch unverdorben. Deswegen konnte er scheinbar nicht anders, als ihren Bitten nach zu kommen. Seine Hand machte eine kleine Bewegung. Aus dem Körper des Mädchens drang ein leicht durchscheinender Vogel ans Tageslicht. Das Kind begann zu quieken. Die anderen stürzten sich auf die Illusion. Nabo grinste leicht. Aus dem Nichts kamen immer mehr Vögel. Unter die Schreie der Kinder mischte sich jetzt auch die Laute der Vögel. Schnell war die ganze Lagerhalle in Aufruhr. Er musste sich ein wenig zügeln, wollte er nicht, dass die Kinder, die säuberlich aufgeschichteten Güter wieder durch einander brachten. So ließ er einen der Vögel zum Phönix werden, der anfing alle anderen in Brand zu setzten. Die Kinder zuckten zurück. Schließlich konnte man nicht ganz sicher sein, dass diese Flammen vielleicht nicht doch brannten. Alle vier blieben stehen und staunten, wie die Vögel in einem Farbenspiel aufgingen und dabei die Asche wie goldener Staub herabfiel.
„Ich bewundere deine Fantasie!“ Nabo schreckte hoch. Hinter einen der Ballen war ein Mann mit langen schwarzen Haaren hervor getreten. Die Kinder blickten sich erschrocken an, nicht sicher, ob sie vielleicht doch etwas Verbotenes getan hatten. Doch Kiras verzog nicht das Gesicht. „Lasst mich und Nabo ein wenig allein!“, meinte er nur und schickte mit einer Handbewegung die Kinder fort. Nabo stand umständlich auf. Dann umarmte er Kiras. „Ich bin froh, dass es euch gut geht! Wo ist Miandra?“ Nabo ließ Kiras los. Er war froh ein Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenübers zu sehen. „Sie ist in der Stadt und tobt sich dort aus nach all den Jahren in der Einsamkeit!“ Kiras nickte wissend. Er deutete mit dem Kopf zum Ausgang. „Ich habe auch noch ein paar Sachen zu erledigen. Wollen wir gemeinsam gehen?“ Nabo griff nach seinem Umhang. Er hatte ihn in der letzten Zeit immer benutzt, damit seine verstümmelte Hand nicht auffiel. Er wusste nicht, ob die Leute in der Kaiserstadt ihn suchten. Sie hatten doch eine breitere Spur hinterlassen, der nicht so schwer zu folgen war. Nabo konnte nie vorsichtig genug sein.
„Ich werde nicht lange hier bleiben, wahrscheinlich nur bis morgen!“, begann Kiras. Nabo nickte schweigend. Er wusste natürlich, dass er dann auch aufbrechen musste. „Für wie lange?“ Kiras zuckte mit den Schultern. „Für immer! Zumindest für eine Weile!“ Nabo nickte auch diesmal. Kiras war gekommen, um endgültig die Nabelschnur zu zerschneiden. Sie kannten sich schon eine ganze Weile. Er war sich sicher, dass dieser Schritt für Kiras nicht so einfach war. Seine Hand fuhr zu seiner Brusttasche und dann ließ er sie doch wieder sinken. „Wollt ihr mitkommen in die rote Stadt?“ Kiras blieb jetzt stehen und blinzelte der untergehenden Sonne entgegen. Der Gedanke war verlockend. Die rote Stadt war einmalig, ein Ort voller Magie und Mysterien. Nabo schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube Miandra und ich, wir brauchen ein wenig Zeit für uns. Wir wollen uns ein wenig treiben lassen!“ Nabo zuckte mit den Schultern. Dann grinste er. „Was tut man nicht alles für eine Frau!“ Doch zu seiner Überraschung grinste Kiras nicht, sondern schien in seine Gedanken zu sinken. Damit begriff Nabo, dass auch ihm eine Frau das Herz gestohlen hatte. Liebe war nicht immer Eitel, Wonne und Sonnenschein. Allzu oft tat sie einfach nur weh. Es war wie Kroscha und Honig. Das eine konnte nicht ohne den anderen sein.
Er blickte dem Mann hinter her. Sie waren bei einen der großen Handelsfamilien stehen geblieben. Kiras hatte sich verabschiedet, nicht ohne einen Ort aus zu machen, wo sie sich wieder treffen konnten. Es war ein Gasthaus in der Wüste. Nabo hatte gewusst, welches er meinte, auch ohne große Beschreibung. Es war der Ort, wo er und Chesem Ba sich immer wieder getroffen hatten, der Ort, an dem sich alle Fäden kreuzten. Seine Hand schloss sich um den Beutel in seiner Hand. Kiras klopfte. Es war Zeit für Nabo zu gehen. Er wandte sich ab. Aus dem Augenwinkel sah er, dass die Tür geöffnet wurde. Er blieb noch einmal stehen und band den Beutel an seinen Gürtel. Hinter ihm hörte er Stimmen. Er schloss die Augen. Das ging ihm nichts an. Kiras Erledigungen waren ohne Bedeutung für ihn. Er holte tief Luft. Die Zeit, wo er sich in alles einmischen müssen hatte, war vorbei. Die Machtspielchen waren zu Ende. Die leblosen Augen blickten ihn an. Er seufzte resignierend. Miandra würde sich Sorgen machen, wenn sie zurück kam und er nicht auf sie wartete. Langsam humpelte er los.

Sie bemerkte ihn nicht gleich. Er stand eine Weile da und blickte in den mit Kerzen erleuchteten Essraum. Sie verlagerte das Gewicht. Dann kam sie einen Schritt auf ihn zu. Er blickte zu ihr auf. „Da bist du! Ich habe mich schon gefragt, wo du hin bist, dachte du würdest wieder über einen Buch hängen!“ Sie sagte nichts dazu sondern kam noch einen Schritt näher. Chesem Ba fuhr sich durch die Haare. „Hör mal! Wir sollten vielleicht schauen, dass wir uns in Zukunft besser vertragen!“ Sie runzelte die Stirn. Was sollte denn das werden? „Wie meinst du das?“ Er lächelte unsicher. „Wenn du und Kiras zusammen kommt…“ Sie runzelte die Stirn. „Wer hat das denn gesagt?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Er schüttelte den Kopf und blickte zu den Menschen im Raum. K’vara hasste das. „Was meinst du damit?“ Chesem Ba seufzte. „Kiras liebt dich über alles! Er hat mir schon Stunden lang die Ohren damit voll gejammert! Ihr passt doch perfekt zusammen.“ K’vara schüttelte den Kopf. „Du hast doch keine Ahnung. Wie willst du das beurteilen?“ K’vara wandte sich wütend ab. Wieso hatte sie überhaupt begonnen mit ihm zu reden? Sie wollte nicht an Kiras denken. Chesem Ba deutete mit der Hand neben sich. „Jetzt hör auf zu schmollen und setz dich her!“ Doch K’vara verschränkte die Arme und dachte gar nicht daran seinen Worten Folge zu leisten.
„Was hat er dir gesagt?“ K’vara hatte die Knie angezogen und das Kinn darauf gestützt. Sie beobachtete gemeinsam mit Chesem Ba die kleine Gesellschaft. Von diesem Punkt aus hatte man eine gute Sicht in den Palastraum. „Wie meinst du das?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Na über mich! Was hat Kiras über mich gesagt!“ Chesem Ba lachte leicht. „Wenn ich dir das alles aufzählen soll, dann säßen wir in einer Woche auch noch da!“ Sie runzelte die Stirn und ärgerte sich darüber, dass sie überhaupt gefragt hatte. Was änderte es überhaupt? Sie musste sich trotzdem über ihre Gefühle ins Klare kommen. „Wie ist es verliebt zu sein?“, murmelte sie vor sich hin. Chesem Ba zog jetzt auch die Knie an. „Wenn dein Herz vor Sehnsucht vergeht und du glücklich bist auch nur in ihrer Nähe zu sein. Wenn jede Faser in dir danach schreit sie zu berühren. Wenn jeder Teil deines Lebens aus ihr bestehen soll…“ K’vara wandte sich verdutzt zu Chesem Ba. Sie hätte nicht geglaubt eine Antwort darauf zu bekommen, schon gar nicht von jemandem, der noch nie eine feste Beziehung hatte. Chesem Ba stand auf. Er gähnte demonstrativ. „Ich sollte ins Bett gehen!“ Sie nickte ihm nur zu.
Sie hörte ihn nicht die Stiegen hinunter schleichen. Chesem Ba konnte mit den Schatten verschmelzen. Er war irgendwie wie ein Schatten. K’vara fragte sich, wie viel sie von ihm noch nicht wusste. Dann legte sie ihren Kopf auf die Seite. Chesem Bas Worte huschten noch einmal durch ihren Kopf. Sie klangen wie aus der Sorte Buch, die sie früher achtlos zur Seite gelegt hätte.

Er blickte aus dem Fenster in die dunkle Nacht. Plötzlich kamen ihm die Mauern wie ein Gefängnis vor. Er sehnte sich nach dem Burgwall von Chema, von dem man in die unendliche Weite schauen konnte. Bald wäre es so weit. Viel hielt ihn nicht mehr hier! Sein Blick fiel auf das Stück Papier am Schreibtisch. Er war noch nicht bereit es noch einmal zu lesen. Vielleicht würde er es auch so liegen lassen. Denn wenn er es noch einmal lesen würde, würde er es vielleicht nur zerreißen. Aber er durfte sich nicht mehr davor drücken. Er hatte die Verantwortung zu tragen. Er hätte das schon längst tun sollen. Dann schüttelte er den Kopf. Eigentlich hätte er schon viel früher seiner Mutter sagen sollen, was er von ihrem Verhalten hielt. Aber seine Mutter war stur. Sie war das Oberhaupt der Familie. Sie hatte das getan, was sie für das Beste hielt, das Beste für sich, das Beste für die Familie und vielleicht auch das Beste für Maska. Seine Hand legte sich auf das Zeichen auf seinem Arm. Er hatte auch nur das getan, was er für das Beste für Maska hielt. Doch hatte er sie jemals gefragt? Er schielte auf den Zettel. War er so viel besser? Er schüttelte den Kopf. Maska war keine Gefangene mehr. Sie konnte mit ihrer Freiheit tun und lassen, was sie wollte. Es war jetzt an der Zeit, dass er sich auch löste.
Der Dolch lag schwer in seiner Hand. Er starrte auf die scharfe Klinge. Sie war immer glatt poliert und sauber. Er atmete ein paar Mal tief durch. „Mutter, ich kann verstehen, wieso du so gehandelt hast!“ Seine Hand griff nach seinem Zopf. Dann schnitt er mit der anderen. Im ersten Moment war es zäh. Doch dann glitt die Klinge sauber hindurch. Er ließ seine Hände fallen. Haare fielen auf den Boden. Er stützte sich auf dem Tisch ab. Damit war jetzt also auch Schluss. Er wollte nicht mehr irgendetwas tun, weil seine Mutter es wollte oder eben nicht wollte. Seine Haare verstreuten sich auf das Papier. Sie waren der erste Schritt. Er hatte sie doch nur wachsen lassen, weil sie es nicht ausstehen konnte.
Er ließ sich auf das Bett fallen. Sein Mund riss weit auf zu einem Gähnen. Morgen war der Spuk vorbei. Er rollte sich zusammen. Mit geschlossenen Augen versuchte er sich in Erinnerung zu rufen, wie es sich anfühlte K’vara in den Armen zu halten. Doch es gelang ihm nicht. Seine Mutter ließ ihn keinen Frieden. Dabei war das alles doch lächerlich. Er wollte es vergessen. Plötzlich spürte er Tränen in den Augen. „Mutter, ich will dir doch verzeihen!“

Chema war in rotes Licht getaucht. Es war immer Abend, wenn er hier ankam. Er klopfte seinem Malak auf den Hals. Er kannte Chema nur, wenn sie im roten Licht der Abendsonne getaucht war. Kam daher die Bezeichnung „rote Stadt“? Früher hatte Kiras sich nie Gedanken darüber gemacht. Doch jetzt versuchte er sich mit solchen Banalitäten ab zu lenken. Er wollte nicht daran denken, wer ihn am Tor erwarten würde. Würden sie ihn überhaupt erwarten? Er war kein Monat weg gewesen. Trotzdem war ihm die Zeit noch nie so lange vorgekommen. K’vara hatte ihn auch noch nie so oft heimgesucht. Sie war wie ein Gespenst. Sobald man die Finger danach ausstreckte, schien es in der Luft zu verschwimmen.
Er blickte das große Tor hinauf. Die Feste in der Wüste empfing ihn. Die Wachen nickten ihm zu, schon vertraut mit seinem Anblick. Nur Chesem Ba war noch öfter als er in der letzten Zeit durch die Wüste gereist. Selbst wenn Chesem Ba ihm erklärt hatte, dass Chema offener der Welt gegenüber war, als früher, trat kaum jemand über die Stadtgrenzen. Jeder war glücklich hier. Das Draußen gebahr nur Gefahr. Er schwang sich von seinem Malak. Eine einsame Gestalt stand in der Mitte des Platzes. Plötzlich musste Kiras lächeln. Er kam auf die Frau zu. Sie hatte ihre Arme vor der Brust verschränkt. Als er abgereist war, war sie nicht gekommen. Doch jetzt blickte sie ihn schief an. „Du stinkst!“, begrüßte sie ihn. Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. „Jetzt stinkst du auch!“ Sie begann zu strampeln und gegen ihn mit den Fäusten zu bearbeiten. Er ließ los. Dann zwickte sie mit den Fingern die Nase zusammen. „Glaub ja nicht, dass ich hier alleine gewartet habe. Chesem Ba war auch da. Aber ist gleich wieder gegangen!“ Kiras lachte laut. „Es ist so schön dich zu sehen!“
In K’varas Stirn entstand eine Falte. „Was hast du mit deinen Haaren gemacht?“ Gedankenverloren fuhr er mit der Hand durch die kurzen Strähnen. Er hatte seinen Zopf abgeschnitten. „Den habe ich meiner Mutter geschenkt!“ In K’varas Stirn trat eine steilere Falte. „Ich habe ihn auf den Brief gelegt, wo alles drin stand, was bei der Entführung von Maska wirklich passiert ist!“ Langsam klappte K’varas Mund nach unten. „Was? Du, Idiot! Wieso hast du das getan?“ Seine Hand langte nach ihrer Wange, doch sie wich ihm aus. „Weil ich nicht wollte, dass sie glaubt, du warst es. Ich wollte nicht, dass sie Maska noch länger sucht. Ich wollte, dass dieser Spuck vorbei ist!“ K’vara schüttelte den Kopf. „Du wirst nicht mehr nach Hause können!“ Er zuckte mit den Schultern. „Irgendwann wird ihre Wut verrauchen. Ich bin ihr Sohn! Und für eine Weile bleibe ich einfach hier!“ K’vara schüttelte noch immer ungläubig den Kopf. Er seufzte leicht. „Ich habe es vor allem für dich getan und für deine Eltern!“ Sie trat einen Schritt zurück. Dann wischte sie sich eine Strähne aus dem Haar. „Ich habe auch hinein geschrieben, dass ich dich liebe und dich heimlich heiraten werde!“ Jetzt wurden K’varas Augen groß. Dann keuchte sie. „Was? Wie konntest du?“ Sie holte aus und schlug ihn auf die Wange. Dann drehte sie sich von ihm weg. Er rieb sich auf die Stelle. Es brannte. Scheinbar hatte sie mehr Kraft in den Armen, als man ihr zutrauen würde. Er merkte, wie sie zum Schluchzen begann. Gegen seine Vernunft umarmte er sie von hinten. Doch sie stieß ihn weg. „Ich weiß doch noch gar nicht so recht, ob ich dich liebe und du willst heiraten! Spinnst du?“ Er seufzte leicht. Sie drehte ihren Kopf zu ihm. „Außerdem stinkst du!“


© lerche


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