Miandra zog ihre Hand von seinem Bauch. Er hielt sie kurz fest, doch sie entzog sich ihm. „Was ist los?“ Sie schüttelte den Kopf. Dann lächelte sie. Ihre sanften Finger strichen über seine stoppelige Wange. „Irgendwer kommt!“ Er legte kurz die Stirn in Falten. Nabo brauchte nicht nachzufragen, ob sie jemanden von der Gruppe meinte. Der Tonfall, den Miandra benutzt hatte, sagte ihm, dass sie jemanden fühlte, der vorher noch nie da gewesen war. Sie griff nach einem Hemd. Bevor sie es überzog, ließ sie zu, dass er noch einen großzügigen Blick auf ihren Körper werfen konnte. Sie war wirklich ein Geschenk der Götter. Und doch hätte sie Nabo auch geliebt, wenn sie hässlich gewesen wäre. Er streckte seine Finger nach ihrem Bauch aus, aber sie schlug die Hand sanft weg. „Nicht jetzt!“ Nabo seufzte leicht. Er fand es wundervoll, dass sie ihm scheinbar so einfach wiederstehen konnte. „Dabei war es gerade so schön!“ Miandra beugte sich über ihn und küsste seine Lippen. „Ich möchte endlich wissen, was hier alles passiert! Manchmal habe ich das Gefühl, dass jeder vor den anderen so viele Geheimnisse hat, dass man sie in der Luft greifen kann. Man muss nur seine Hand ausstrecken.“ Nabos Lippen folgten ihren, doch er bekam keinen Kuss mehr. Stattdessen fielen ihre Haare in sein Gesicht. Er ließ sich enttäuscht fallen. „Ich habe keine Geheimnisse vor dir!“, murmelte er trotzig. Miandra legte ihren Kopf schief. Dann grinste sie. „Für wie dumm hältst du mich!“ Nabo verzog kurz sein Gesicht. Natürlich durchschaute sie ihn und er war irgendwo froh darüber. Genauso froh war er, dass sie ihn nicht danach fragte. „Du bist der Puppenspieler! Du hältst alle Fäden in der Hand. Diese Situationen sind doch deine zweite Natur.“ Miandras Hand griff nach der Zeltplane, die vor den Wagen gespannt war. Dann schlüpfte sie hindurch und hinterließ eine seltsame Leere im Wagen.
Er kam nicht aus dem Wagen hervor. Stattdessen saß er dicht neben der Zeltplane und späte nach draußen. Seine Finger schoben Stück für Stück die Eingangsplane zur Seite. Immer mehr Sonnenstrahlen drangen zu ihm durch. Gleichzeitig erschuf er die Illusion einer reglosen Plane im Loch. Von außen würde es so aussehen, als wäre niemand im verschlossenen Wagen. Der Zauber wirkte jedoch nur von einer Seite. So konnte ihn niemand bemerken, während sein Blick klar war. Er seufzte leise. Was tat er eigentlich hier? Er war nicht mehr in der Kaiserstadt und trotzdem war er noch immer paranoid. Das war er immer schon gewesen auch bevor ihn Kalo hatte bewachen lassen. Auf der anderen Seite hatte ihm diese Eigenschaft oft geholfen. Er fragte sich nur, ob er irgendwann einen Menschen treffen würde, dem er bedingungslos vertrauen konnte.
Sein Blick glitt schnell von den drei Menschen weg, die sich langsam dem Wagenkreis näherten. Stattdessen hatte er eine Gestalt bemerkt, die sich an die Wagenseite presste. So wie ihr Blick auf die Drei gerichtet war, war jetzt Nabos volle Aufmerksamkeit auf ihr. K’varas Hand, oder wie immer das Mädchen wirklich hieß, fuhr zu den Lippen. Kannte sie den Neuankömmling? Ihre Gestalt schien zu beben. Nabo war sich jetzt ganz sicher, dass sie ihn kannte. „Ein Teil von deinem Geheimnis!“, murmelte Nabo. „Ich würde zu gerne wissen, wer du wirklich bist!“ Sie rutschte zur Seite und lehnte jetzt gegen die Wagenwand. Dann glitt sie langsam hinunter, bis ihr Hintern am Boden ankam. Schließlich vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen. „Was ist los? Freust du dich oder hast du Angst?“

Er suchte nach dem Gesicht, das ihm so fremd war und doch vertraut. Damit hatte er einfach nicht gerechnet. Er hatte keine Ahnung, wie er reagieren sollte, was der andere von ihm erwartete. Dann blickte er auf das fremdländische Mädchen mit dem breiten Gesicht und den dicken, dunklen, geflochtenen Haaren. Sie war schön! Das war das erste, was ihm zu ihr einfiel. Sie strahlte wie die Wüstensonne. Vasa Rem wandte sich jetzt zu ihr. Er legte seine Hände auf ihre Schultern und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie schüttelte den Kopf. Dabei wackelte ihr Zopf hin und her. „Bitte, Goscha. Ich möchte allein mit ihm reden. Ich kann dir alles erklären, aber nicht jetzt!“ Er umarmte sie und küsste dann ihre Wange. Dann drehte er sich zu ihm. Goschas Hand griff noch einmal nach seiner. Doch der Griff war nicht fest und ihr entglitt die Hand. „Könntest du dich um Bal kümmern?“, fragte Chesem Ba schließlich. Er hatte ein schlechtes Gefühl dabei sein Reittier jemand anderem anzuvertrauen. Bal war schließlich sein engster Freund. Doch das Lächeln der Frau schien das Malak anzuziehen. Oder zog es ihn an? In jeden Fall hielt es sie beide ein wenig gefangen. Chesem Ba musste nur einmal kurz auf Bals Hals klopfen, damit das Tier lostrottete. Eine Woge von Eifersucht überfiel ihn. Doch er blieb nach außen hin unverändert. Als Krieger zeigte man seine Gefühle nicht, zumindest nicht solche Gefühle. Vasa Rem ging in Richtung Wüste zurück und Chesem Ba folgte ihm lautlos.
Noch immer wusste er nicht so recht, was er sagen sollte. Er hatte nicht damit gerechnet so schnell auf ihn zu stoßen, war sich nichteinmal sicher gewesen, überhaupt auf ihn zu stoßen. „Was gibt es Neues in Chema?“ Chesem Ba verzog jetzt doch das Gesicht. Vasa Rem hockte sich nieder. Seine Finger griffen nach dem Staub. „Wo soll ich anfangen? Du warst zwölf Jahre weg! Zwölf Jahre! Alles ist gleich und alles völlig verändert!“ Vasa Rem senkte den Kopf. „Die Magierausbildung dauert so lange!“ Chesem Ba spürte Wut in sich hoch steigen. Er verstand sie nicht ganz. Doch er fühlte sich auf seltsame Weise in Stich gelassen. „Du hättest trotzdem vorbei schauen können! Sie haben dich doch dort nicht eingesperrt.“ Vasa Rem seufzte tief. „Du doch auch! So wie ich dich kenne, hast du mehr Zeit hier draußen verbracht als in Chema!“ Natürlich hätte er, aber er hatte es immer so verstanden, dass Vasa Rem zurückkommen sollte, nicht umgekehrt. Er hatte Vasa Rem verehrt und der hatte ihn verraten, indem er weggegangen war. So fühlte es sich für ihn an. So leicht war das nicht wegzuwischen. Chesem Ba ließ sich jetzt auch in den Wüstenstaub sinken. Seine Knie berührten den heißen Untergrund. „Chem Bassa ist gestorben!“ Vasa Rem blickte abrupt auf. „Was? Wann?“ Chesem Ba schluckte. Er sah Tränen in Vasa Rems Augen. Er hätte da sein müssen. Er hätte nie Chema verlassen dürfen. Sie hatten ihn gebraucht. Chesem Ba biss die Lippen zusammen. „Vor drei Monaten etwa!“ Vasa Rem ließ den Kopf wieder fallen. Dann wischte er die Tränen aus dem Gesicht. Er weinte weiter lautlos und tränenleer. Chesem Ba wollte aufstehen und ihn alleine trauern lassen. Irgendwie war die Situation unangenehm. Doch plötzlich fing sich Vasa Rem wieder. Er legte für ein paar Sekunden seine Hand auf die Augen. Die Tränen schienen wie weggeblasen. Nicht einmal die Augen waren mehr gerötet. War es das für ihn? „Glaubst du an Wiedergeburt oder Schicksal?“ Chesem Ba schüttelte den Kopf. „Du weißt an was wir glauben!“ Vasa Rem nickte leicht. Dann lächelte er fast schon verlegen. „Ich war wohl zu lange in der Kaiserstadt!“ Das glaubte er auch langsam. Vasa Rem setzte sich langsam in Bewegung. Chesem Ba beobachtete ihn ein paar Meter lang. Dann rief er ihn zurück. „Wie machst du das?“ Vasa Rem lächelte verlegen. „Das nennt man Emotionskontrolle. Nabo hat mir den Zauber beigebracht. Die meisten Magier beschäftigen sich nicht damit. Sie empfinden ihn als minder.“ Chesem Ba ballte seine Hände zu Fäusten. „Wieso willst du nicht trauern, so wie wir alle? So wie es sich gehört?“ Vasa Rem seufzte leise. „Ich war zu lange in der Kaiserstadt“, meinte er nur wieder. Chesem Ba stampfte auf. Jetzt war er wirklich wütend. Er war zwölf Jahre nicht da gewesen, doch er war noch immer einer von ihnen. Es war seine Pflicht zu trauern und zu weinen. Er erkannte ihn nicht wieder. War er deswegen wütend? Vasa Rems Augen wurden schmaler. „Im Osten bricht die Welt zusammen und versinkt im Blut! Das Weltgefüge bricht zusammen. Menschen töten einander grundlos, nicht nur im Osten auch schon hier. Es ist sinnlos an solchen Sachen fest zu halten. Chem Bassa ist tot, egal wie viele Tränen ich jetzt vergieße.“ Chesem Ba wusste nicht, was er sagen sollte. Er spürte selbst, wie wieder Tränen in seine Augen stiegen. Irgendwie schien alles, seit er Vasa Rem getroffen hatte, ihm zu entgleiten.
Chesem Ba rief Vasa Rem noch einmal zurück. „Hast du Mikulas gesehen?“ Er merkte, wie sich kurz Vasa Rems Stirn runzelte, doch das war so schnell wieder vorbei, dass Chesem Ba sich nicht sicher war. „Mikulas? Ist sie nicht noch zu jung, um durch die Wüste zu reisen?“ Chesem Ba schüttelte den Kopf. „Sie ist inzwischen vierzehn!“ Er konnte sich zumindest an Mikulas erinnern. Vasa Rem schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich weiß nicht genau!“ Chesem Ba griff nach seiner Schulter. „Was heißt da, du weißt nicht genau?“ Vasa Rem schüttelte den Kopf. „Schau es dir einfach selber an!“ Chesem Bas Augen verengten sich. „Was?“ „Goscha und Miandra haben im Wald ein Mädchen aufgegriffen. Sie nannte sich K’vara, aber…“ „K’vara?“, unterbrach Chesem Ba. Das musste Mikulas sein! „Wo ist sie?“

Goscha fuhr durch das weiche Fell. Es war so weich wie Sins. Darunter spürte sie jedoch starke Muskeln, die sie an ihren Ochsen erinnerte. Sie hatte von solchen Tieren bisher nur gehört. Von der Ferne hatte sie auf ihrer Reise auch schon das eine oder andere gesehen. Doch Kiras Karawane bestand nur aus Pferden. Das Tier schnaubte leicht. Es musste einen weiten Weg gelaufen sein. Als Goscha den ersten Kübel aus dem kleinen Brunnen geholt hatte, hatte das Malak ihn in wenigen Sekunden restlos ausgetrunken gehabt. Die nächsten beiden Kübel waren genauso schnell leer. Sie staunte nur so über seinen gewaltigen Durst. Dann hatte das Malak sich geschüttelt und Staub war in alle Richtungen geflogen. Den nächsten Wasserkübel hatte Goscha schlichtweg über das ganze Tier geschüttet. Wieder schüttelte es sich. Doch diesmal spritzte Wasser in alle Richtungen. "Na, warte!" Dann hatten sie sich zu zweit eine wahre Wasserschlacht geliefert, wo beide am Schluss völlig nass waren. Aus Mangel an einer Bürste hatte Goscha das Tier nur notdürftig mit den Händen abgeschruppt und danach hatten sie sich beide in der Sonne, die immer noch stark vom Himmel herableuchtete, trocknen lassen. Jetzt war das Fell flauschig. Sie lehnte sich dagegen. „So könnte ich einschlafen!“ Wie als Antwort stupste sie das Tier an. Goscha seufzte. Sie fragte sich, was Sin gerade machte. Sie vermisste es den Misch ständig um sich zu haben. Aus Angst entdeckt zu werden, verbrachte er die meiste Zeit in Nabos Wagen. Sin hatte auch so ein weiches Fell. Doch er hätte nie zugelassen, dass Goscha ihn so behandelte. Er kümmerte sich um jedes Haar selber. Sie fuhr über die gesamte Breitseite des Tieres. „Ich hoffe, du fühlst dich jetzt auch wohler.“
Sie hatte bemerkt, dass sich das Malak gern hinterm Ohr kraulen ließ so wie Sin. Dann stieß es fast so ähnliche Worte des Wohlwollens aus wie der Misch. Außerdem ließ es sich gerne über die Schnauze streicheln. „Was ist das für ein Tier?“ Das Malak blickte auf und auch Goscha wandte sich um. Kiras war aus der Ortschaft zurückgekommen. Er holte jetzt weit aus und rannte schon fast auf sie zu. Das Malak stand langsam auf. Goscha lächelte verlegen. „Ein Gast hat es mitgebracht!“ Ihre Hand fuhr zu den Ohren des Malaks, aber sein Kopf war zu hoch. Eine steile Falte wurde auf Kiras Stirn sichtbar, als er das Malak betrachtete. Dann fiel sein Blick auf den Sattel, den Goscha in der Nähe einfach liegen gelassen hatte. Sie hätte ihn vielleicht auch ein wenig entstauben sollen. „Gast? Welcher Gast?“, fragte er nach. Goscha blinzelte. „Irgendein Bekannter von Vasa Rem!“ Wie war sein Name nochmal gewesen? Sie hatte es vergessen. Das Malak stupste gegen ihre Schulter. Das kam so unvorbereitet, dass sie einen Schritt nach vorne machen musste, um nicht um zu fallen. Erst jetzt wurde ihr wirklich bewusst, wie viel Kraft in diesem Tier steckte. „Ein Bekannter? Was für ein Bekannter?“ Goscha verstand nicht, auf was Kiras hinaus wollte. „Ich weiß doch auch nicht!“ Kiras blickte sie noch verwirrter an. Erst jetzt merkte sie, dass sie wieder in ihre Muttersprache gewechselt war. Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, rannte Kiras plötzlich los. Sie blickte ihm völlig perplex nach. „Wo ist er?“ Ihre Hand machte eine wage Bewegung. Sie wusste das doch auch nicht. Was war denn nur los? Sie hatte die beiden nicht zurückkommen gesehen.
Das Malak stieß sie noch mal an. Dann lief es auch los. Plötzlich überkam Goscha die Panik. Was würde passieren, wenn das Tier einfach weglief? Sie rannte ihm nach. Kiras Arbeiter blickten sie völlig verdutzt an. Goscha glaubte auch Kichern zu hören. Das Malak folgte Kiras und bog zwischen zwei Wägen ein. Goscha beschleunigte etwas und schaffte es ihre Hand auf das flauschige Fell zu legen, weil das Tier wieder in Trapp verfiel. Dann blieb es zum Glück ganz stehen. Goscha arbeitete sich nach vor zu seinem Hals und hielt es dort fest. Sie blickte auf in eine Versammlung verdutzter Gesichter. „Was in des Kaisers Namen ist hier los?“ Niemand antwortete. Trotzdem hatte Goscha das Gefühl, dass jeder etwas zu sagen hatte. Plötzlich hatte sie ein flaues Gefühl im Magen. Sie waren doch aus der Kaiserstadt weggegangen, weil die Situation dort untragbar geworden war. Aber in Wahrheit machten sie hier genau gleich weiter. Wie oft musste es noch Verletzte und Tote geben? Konnte sie einander wirklich nicht vertrauen? Gut, sie kannte einen Teil der Menschen hier nicht gut, aber keiner von ihnen war ihr Feind. So viel wusste sie doch. „Geheimnisse hier, Geheimnisse dort! Findet ihr das nicht furchtbar? Jeder versucht hier vor jedem alles Mögliche geheim zu halten und gleichzeitig den anderen aus zu spionieren. Es wird langsam Zeit wieder einander zu vertrauen!“ Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie nicht besser war, als die anderen. Sie hatte auch ihre Geheimnisse und sie hatte es so unendlich satt. Sie waren doch inzwischen so etwas wie Freunde. Zumindest hoffte sie das irgendwo. Schließlich war sie so lange einsam gewesen. Vasa Rem stand auf. „Du hast Recht, Goscha. Und ich werde den Anfang machen.“ Er holte tief Luft und lächelte ein wenig. Sie war so froh, dass er es war. Seine Hand deutete auf den Neuankömmling. „Chesem Ba ist mein Bruder!“ Das Mädchen K’vara sprang auf. „Dann… dann bist du auch mein Bruder! Das kann nicht sein!“ Vasa Rem nickte nur und Chesem Ba wiederholte die Geste. „Aber… aber…“ Das Mädchen ließ sich wieder fallen. „Du hast mir nie etwas von ihm erzählt“, murmelte jetzt auch Kiras. In Goschas Kopf begann es zu arbeiten. Wie war es möglich, dass so viele Leute sich hier zufällig trafen und sich auch noch irgendwie kannten. „Ich habe dir doch erzählt, dass meine Mutter die zweite Frau von meinem Vater war. Seine erste Frau starb bei der Geburt von Vasa Rem.“ Oder war es vielleicht kein Zufall? „Aber wieso kenne ich dich dann nicht?“ Vasa Rem seufzte. „Du warst noch nicht zwei als ich Chema verlassen habe und die zwei Jahre davor war ich viel unterwegs. Ich habe mich auch nicht mehr an dich erinnern können.“ Das Mädchen schien nicht glücklich über die Erklärung. „Es ist nur dein Gesicht. Es erinnert mich an deine Mutter!“ Sie schüttelte den Kopf. Goschas Hände vergruben sich in das Fell des Malaks. „Und woher kennt ihr euch?“ Sie deutete auf Kiras und Chesem Ba. Die zwei blickten sich an, so als müssten sie entscheiden, wer erzählen durfte. „Wir haben uns hier in einer Bar kennengelernt. Chesem Ba hat mich erst nach drei Jahren in seine Herkunft eingeweiht im Gegenzug zu…“ Er brach ab. „Seine Schwester hat seherische Kräfte. Seine Eltern hatten sie in ein Zimmer eingesperrt. Wir haben sie befreit und nach Chema gebracht.“ „Eine Frau und Sirunin: die schlechtesten Voraussetzungen um akzeptiert zu werden. “ Danach trat betretenes Schweigen ein. „Ich heiße nicht K’vara. Ich heiße Mikulas!“, sprudelte es plötzlich aus dem Mädchen heraus. „Kiras Schwester hat mich zu euch geschickt. Sie hat gesagt, ich solle meinen Bruder holen. Ich dachte, sie redet von Chesem Ba. Ich verstehe das noch immer nicht!“ Sie zog den Kopf ein wenig ein. Goscha atmete tief durch. Sie wartete ein paar Minuten, ob noch jemand etwas zu sagen hatte. Aber das Puzzle wirkte schon fast komplett. Sie stieß ein leises Trällern aus. Sie wusste nur nicht, wie ihre Teile in das Ganze passten. Etwas Weiches landete auf ihrer Schulter. Ganz kurz spürte sie den Griff von Klauen. Dann hatte Sin das Gleichgewicht gefunden. „Der Affe“, rief plötzlich Vasa Rems Schwester. „Das ist kein Affe. Das ist ein Misch!“, korrigierte Nabo. Obwohl Goscha sich sicher war, dass sie ihn vor ein paar Sekunden noch nicht am Wagen lehnen hatte sehen, glaubte sie, dass Nabo ihnen schon von Anfang an zugehört hatte.

Seine Hand tastete suchend nach ihrem Gesicht. Er zog sie näher zu sich. „Was ist?“, flüsterte sie leise. Er schüttelte den Kopf. „Ich brauche dich jetzt“, murmelte er. Sein Gesicht vergrub sich in ihre Brust. Dann endlich ließ er den Zauber los. Die Tränen überraschten ihn. Sie drängten schon den ganzen Tag hinaus. Jetzt öffneten sich endlich die unsichtbaren Schleusen und nichts konnte sie mehr aufhalten. Er heulte wie ein kleines Kind. Seine Brust schien unerträglich zu schmerzen. Es änderte nichts, dass er seinen Vater so lange nicht gesehen hatte. Goscha legte einen Arm um ihn. Ihre Finger fuhren durch seine Haare. Sein Körper bebte, während lautlos die Tränen rannen. Er hatte weder Kraft sie zurück zu halten noch zu Schluchzen. Sein Vater würde sie nicht mehr kennen lernen und auch nicht sein ungeborenes Kind, das vielleicht zum selben Zeitpunkt in Goschas Bauch entstanden war, wie er gestorben war. Lange lag Vasa Rem einfach so da und schob diesen Gedanken in seinen Kopf hin und her. Goscha fragte ihn nicht mehr, was los war. Sie vertraute ihm wohl, dass er es von selbst sagen würde. Er wollte keine Geheimnisse mehr vor ihr verbergen. Er wollte alles mit ihr teilen, auch seine Tränen.
„Willst du mich heiraten?“, murmelte er in ihr Gewand. „Was?“ Er blickte zu ihr auf. Ihr Gesicht war nicht viel mehr als ein Schatten. „Willst du mich heiraten?“ Sie lachte leise. „Sind wir das denn nicht schon?“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Er schüttelte überrascht den Kopf. „Ich meine richtig offiziell! Ich will, das du meine Braut bist, meine Familie.“ Ihre Hand begann wieder durch sein Haar zu fahren. Das war so ein angenehmes Gefühl. „Wenn du willst!“ Er runzelte die Stirn. Was war das denn für eine Antwort? „Müssen wir heiraten, um bei einander zu sein, um eine Familie zu sein? Ich brauche diesen Formalakt nicht. Das hat doch keine Bedeutung. Du bist für mich mein Mann, meine Familie, die einzige, die ich noch habe. Und das Kind in meinem Bauch ist auch unser Kind.“ Ein seltsames Gefühl der Enttäuschung stellte sich in ihm ein. Natürlich war auch sie seine Familie. Trotzdem war heiraten etwas anderes. „Aber…“ Sie lachte leise. „Wenn es bei euch so Brauch ist, dann können wir es ja machen. Dann heiraten wir. Bei uns gab es früher so etwas noch gar nicht.“ Vasa Rem griff nach ihren Wangen und küsste sie. „Du hast Recht. Wir drei und Sin, wir sind eine Familie, egal was passiert.“


© lerche


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