Sie wartete auf ihn mit zitternden Händen. Wie lange hatte sie schon gespürt, dass er kam? Wann hatte sie begriffen, dass er alleine kam? Hatte sie vielleicht schon die ganze Zeit darauf gewartet? Ihr Haar hing in wilden Strähnen herab. Ihre Augen waren rot. Sie erinnerte ihn an die Weinenden auf den Hauptstraßen von Mesana. Er blieb einen Meter vor ihr stehen. Sie presste die Lippen zusammen. Dann stürzte sie ihr Gesicht in die Hände. Er hasste solche Situationen. Doch es half nichts. Ihr Körper wurde geschüttelt. Vorsichtig trat er einen Schritt vorwärts. Dann hob er die Hand an ihre Schulter. „Es geht ihm gut!“, flüsterte er in ihr Ohr. Sie zuckte zusammen, wie unter Schläge. „Das wird wieder. Es geht ihm gut!“
Es brauchte eine Weile, bis diese Information in ihren Kopf drang. Fast verblüfft blickte sie zu ihm auf. „Aber… aber…“ Sie brach ab. Er lächelte. Dann nahm er sie in die Arme und hielt sie kurz fest. „Er hat seine halbe Hand verloren und in der Nacht hatte ich wirklich Angst um ihn. Aber jetzt geht es ihm gut! Das wird wieder“, murmelte er. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Doch er glaubte so etwas wie Erleichterung zu sehen. Sie wischte sich die Tränen weg und wollte wieder stark sein. „Er muss weg aus dieser verdammten Stadt!“ Er nickte nur. Sie hätten schon viel früher aufbrechen sollen. Doch ein naiver Glaube an das Gute und der Unwillen Bekanntes zu verlassen, hatte sie wohl fast schon zu lange zurückgehalten. Diese Stadt war verdammt zum Untergang. Sie würden sich alle gegenseitig zerfleischen, wenn sie so weiter machten. Plötzlich wurde er von einer unbestimmten Angst erfüllt. Seine Arme legten sich um seinen Körper. „Ich möchte Goscha sehen!“

Seine Schritte hallten seltsam in den leeren Hallen. Das ganze Haus war leer. Er hatte alles, was irgendwie von Wert war in drei Wägen gepackt und seine drei Bedienstete, den Karavanenführer und noch zwei Angestellte zum Aufbruch gerufen. Natürlich hatte er aus Tarnung noch Luxusgüter erstanden, die er nach Siruna mitnehmen wollte. Er war schließlich Händler. Er blieb im Gang stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Das war also das Ende. „So kehre ich dir also den Rücken, Perle des Staates. Unter deiner glänzenden Oberfläche hast du mehr Flecken, als ich gedacht hätte!“ Das Leben hatte viele Flecken. Sirunen trugen ihre Flecken außerhalb. Doch deswegen waren sie noch lange nicht klar. Wer konnte wirklich wissen, was im Inneren eines Menschen vorging. Er dachte an die Zauberer. Ihre Gegenwart war ihm unheimlich. Doch Nabo hatte ihm eine große Summe Geld bezahlt, als ob es wirklich nötig gewesen wäre. Auf die Frage, woher er das Geld hatte, hatte er nur geantwortet, dass man nur reich wurde von nichts ausgeben und nicht von viel verdienen. Genau so eine undeutliche Antwort hatte er von ihm erwartet.
Er drehte am Absatz um. Sie würden nun aufbrechen. Es war sinnlos sich jetzt Sorgen zu machen. In zwei Monaten konnte er schon in der Wüste sein, fern ab von Intrige und Verrat. Dort konnte ihm das alles egal sein. Er brachte dort nicht mehr an seine Mutter denken, oder an die Magier. Dort konnte er Unterschlupf suchen und vielleicht auch genug Mut finden, K’vara endlich gegenüber zu treten. Jetzt würden sie einfach ihren Weg folgen. Was anderes konnte er sowieso nicht machen.
Es war die Stelle des ursprünglichen Treffpunktes, eine Tagesreise von der Kaiserstadt entfernt. Kiras ließ das Lager aufschlagen. Die Männer wussten schon alleine, wie sie die Wagen hinstellen sollten. Kiras wusste, dass er sie nur stören würde, wenn er ihnen eine helfende Hand anbot. So ließ er sich in das Gras sinken gegenüber von Nabo, der inzwischen schon vorsichtig versucht hatte auf zu stehen. Er lächelte abwesend. Kiras versuchte irgendetwas in seinem Gesicht zu erkennen. Nabo machte es ihm nicht leicht. Er musste Jahre lang Erfahrung damit haben, nicht zu zeigen, was in ihm vorging. Normalerweise konnten das nur Sirunen. „Werden die Männer, die das getan haben, uns verfolgen?“ Nabo lächelte leicht und schüttelte dann den Kopf. Kiras deutete mit der Hand an, dass er Nabos Wunde sehen wollte. Doch dieser ignorierte ihn. „Es ist schon seltsam!“, murmelte er dann. Kiras sagte nichts dazu. Nabo würde schon von selbst reden und wenn er nicht reden wollte, konnte Kiras nichts tun, damit er etwas sagte. Er kannte Nabo schon lange, aber nicht sehr gut. Er fragte sich, ob es überhaupt irgendjemanden gab, der Nabo wirklich gut kannte. „Kalo hat immer alles getan, um die Magiergilde zusammen zu halten. Er hatte immer befürchtet, dass Magier gegen einander arbeiten. Es gab eine klare Hierarchie. Es gab keine Machtkämpfe.“ Nabo fuhr sich mit der gesunden Hand durch die Haare. „Mit einem Schlag hat er die ganze Gilde kopflos gemacht.“ Kiras nickte. Das war nur ein weiterer Schritt zum Untergang. Die Kaiserstadt brach langsam in sich zusammen, noch bevor ein Feind auch nur in seine Nähe kam. „Hatte es nicht so kommen müssen?“ Nabo schüttelte den Kopf. Plötzlich wirkte er unglücklich. „Ich habe zu lange gezögert. Ich habe es gewusst und wollte es nicht wahr haben. Es musste kommen.“ Er zuckte mit den Schultern, so als ginge ihm das alles eigentlich gar nichts an. Dann stand er auf. Kiras spannte sich. Doch gegen seiner Erwartung schwankte Nabo nicht. „Vasa Rem wird sicher bald da sein!“, murmelte er. Doch etwas in seiner Stimme sagte Kiras, dass es nicht Vasa Rem war, auf den Nabo wartete.
Die Sonne war schon untergegangen und spendete kaum noch Licht, als wieder Bewegung in Nabo kam. „Sie kommen“, murmelte er. Kiras fragte nicht nach, woher Nabo das wusste. Seine magischen Kräfte mussten seine Sinne geschärft haben, oder er hatte irgendeinen sechsten Sinn, mit dem er nähernde Menschen erkennen konnte. Kiras kannte sich da nicht aus. Die Magier waren immer sehr zurückhaltend, wenn sie über ihre Macht sprachen. Nabo stand schwankend auf und ging ein paar Schritte in eine für Kiras willkürlich gewählte Richtung. Dabei begann er für ihn Unverständliches zu murmeln. Kiras war auch nicht entgangen, dass Nabo in der Mehrzahl geredet hatte. Würde sich jetzt der Schleier einer seiner Geheimnisse lüften. Langsam baute sich die Spannung in ihm auf. Er stand jetzt auch auf und folgte Nabo. Dieser ging unbeirrbar auf den Wald zu. Sie hörten einen Ruf aus den Blättern. Jemand brach durch die Schatten. Mit weiten Armen kam er auf Nabo zu. Kiras konnte nur das lange Haar erkennen. Dann prallte die Gestalt gegen Nabo. Die zwei taumelten kurz, doch irgendwie hielten sie das Gleichgewicht. „Was fällt dir eigentlich ein?“ Nabo begann zu lachen. Es war ein helles und glückliches Lachen, ein Lachen, das Kiras noch nie von ihm gehört hatte. Er nahm das Gesicht der Frau und küsste sie. Kiras spürte einen Stich in der Brust. Unverzüglich musste er an K’vara denken. Wie sehr sehnte er sich nach dem Glück, das diese zwei Menschen verband.
Erst nach einer Weile erkannte er auch die drei anderen Gestalten, die aus dem Wald getreten waren, doch sich nicht näher getraut hatten. Kiras ging auf sie zu. Er erkannte schnell die Silhouette von Vasa Rem. Seine Hand umklammerte die Hand einer Frau neben ihm, die Kiras noch nie gesehen hatte. Doch ihr rundes, braun gebranntes Gesicht und das dunkle Haar, deuteten an, dass sie wahrscheinlich aus dem Osten stammte. Neben der Frau stand noch jemand. Kiras brauchte ein paar Sekunden, bis er im Dämmerlicht die Züge erkannte. Ihm stockte kurz der Atem. Seine Schritte verzögerten sich. Schnell brachte er sich wieder unter Kontrolle und schob die Überraschung in sein Inneres. Gleichzeitig merkte er, wie es hinter seinem ruhigen Gesicht heftig zu arbeiten begann. Was hatte das alles zu bedeuten? Kiras musste einfach daran glauben, dass es kein Zufall war. Sein Blick kreuzte das des Mädchens. Er konnte Freude und Überraschung darin erkennen. Es musste ihr so gehen, wie ihm.

Sie schlich sich in der Nacht zum richtigen Waagen. Er war sicher noch wach, denn er war genauso neugierig wie sie. Außerdem hatte sie die Überraschung in seinem Gesicht gesehen. Es war nur ein kurzer Augenblick gewesen. Sie klopfte leicht an der Tür. Ihr Blick huschte nach rechts und links. Früher war sie nicht so gewesen. Doch seit sie die Wüstenstadt verlassen hatte, hatte sie gemerkt, dass überall jemand lauern konnte. Kiras öffnete mit einem Ruck die Tür. Er blickte auf sie herab und machte dann Platz, damit sie in den Waagen schlüpfen konnte. Dann schloss er die Waagentür vorsichtig hinter ihr. Vorher warf er noch einen Blick nach draußen. „Vertraust du den anderen nicht?“ Kiras wandte sich zu ihr. „Ich vertraue hier niemandem. Das gewöhnt man sich an, wenn man länger in der Kaiserstadt wohnt.“ Sie ließ sich auf eine Kiste sinken und versteckte ihre Hände zwischen den Knien. Kiras musterte sie eine Weile schweigend. Dann seufzte er. „Wieso bist du hier?“ Sie senkte den Blick. „Das wollte ich dich auch fragen?“ Er lächelte jetzt fast. Dann verscheuchte er sie von der Kiste und holte zwei Gläser aus ihr hervor. Anschließend zauberte er noch einen leichten Wein hervor. „Erzähl einfach!“
Sie begann das Glas in ihren Händen zu drehen. „Maska ist mitten in der Nacht aufgetaucht. Ich glaube, sie hatte wieder eine Vision!“ Kiras begann großzügig ein zu schenken. „Sie sagte, ich solle meinen Bruder suchen gehen!“ Eine kleine Falte entstand auf Kiras Stirn. „Chesem Ba? Meinst du Chesem Ba?“ Sie nickte leicht. „Maska wird da nie deutlich. Aber ich habe doch keinen anderen Bruder in dieser Welt. Chesem Ba ist zwei Wochen nach dir aufgebrochen. Wir haben seitdem nichts mehr von ihm gehört. Das ist nicht so ungewöhnlich. Schließlich bleibt er oft mehrere Monate aus.“ Sie nahm einen kräftigen Schluck. Kiras Falte hatte sich ein wenig geglättet. Trotzdem glaubte sie, dass die Besorgnis nicht ganz aus seinem Gesicht gewichen war. „Ich habe Mira nicht gesagt, was ich vorhabe oder wieso. Sie wäre nur krank vor Sorge gewesen!“ Kiras nickte. „Sie hätte dich nie im Leben alleine in die Wüste geschickt. Du bist noch zu jung!“ Sie stellte das Glas auf den Boden, so dass die rote Flüssigkeit darin schwankte. „Ich bin bereits vierzehn! Chesem Ba war mit vierzehn schon zwei Mal durch die Wüste gereist!“ Kiras seufzte. Alle glaubten immer, sie sei so klein, weil sie nun mal die Jüngste war. „Außerdem hatte ich das erste Stück Begleitung. Ich bin nicht so verrückt die Wüste das erste Mal alleine zu durchquerren.“ Sie ließ sich wieder auf Kiras Bett fallen. Schmollend griff sie nach dem Glas und nippte daran. „Wie hast du dann die anderen getroffen?“ Sie biss die Lippen an einander. Maska hatte ihr eingetrichtert, dass sie niemanden davon erzählen durfte. Doch vor ihr saß Kiras. Er war schließlich der beste Freund der Familie. Er war Maskas Bruder. „Sie hat mir den Ort genau beschrieben, wo ich ihn finden konnte. Sie gab mir genaue Details von der Hütte und den zwei Frauen. Außerdem sprach sie von einem Affen oder soetwas in der Art!“ Kiras stutzte. Sie hatte sich die längste Zeit gefragt, was das alles mit Chesem Ba zu tun hatte. Sie hatte gehofft, dass Kiras ihr da weiterhelfen konnte, doch der schien genauso ratlos wie sie selbst. Sie streckte ihre Arme mit der Unterseite nach oben aus. Wieder bekam Kiras Stirn Falten. „Ich versteh das alles nicht!“, meinte sie. Kiras starte auf ihren Arm. Sie folgte seinem Blick und zog ihn dann zurück. „Gib mir den Arm!“ Sie schüttelte leicht den Kopf. Fordernd streckte er die Hand aus. Sie erinnerte sich, dass vor ihr nur Kiras saß. Trotzdem zitterte sie ein wenig, als sie ihre Hand ausstreckte. „Woher hast du diese Kratzer? Hat sie das gemacht?“ Sie schluckte. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. „Das ist wichtig, Mikulas!“ Sie nickte. „Ja, das war Maska!“ Kiras ließ ihren Arm los. Sie zog ihn unwillkürlich an sich. Dann streckte Kiras seinen eigenen Arm aus. Sie zuckte zusammen. Die weißen Narben schienen seltsam zu leuchten. „Was hat sie gesagt, als sie dir dieses Zeichen eingeritzt hat?“ Sie schüttelte den Kopf. „Gar nichts!“ Kiras stand auf. Er ging ein paar Schritte auf und ab. Dann setzte er sich wieder. Sein Gesicht war jetzt ruhiger. Doch Sie war noch immer seltsam aufgekratzt. „Ich versteh sie nicht! Ich weiß nicht, was sie damit will, aber es hat eine Bedeutung!“ Er griff jetzt zum ersten Mal nach seinem eigenen Glas und leerte es in einem Zug. „Chesem Ba hat es auch, doch ich weiß nicht woher er es hat. Meines hat mir Maska gemacht. Und K’vara…“ Er stockte kurz. „Sie hat es auch in K’varas Hand geritzt.“ Er griff nach der Flasche und füllte beide Gläser wieder an. „Seher kann man nicht immer verstehen“, murmelte sie. Kiras schüttelte den Kopf. Dann stieß er einen langen Seufzer aus. „Wie geht es euch in Chema?“ Mikulas blickte auf den Boden. „Es geht irgendwie weiter. Die Leere beginnt sich zu füllen. Das macht mir ein wenig Angst!“ Kiras lächelte jetzt. Er legte eine Hand auf ihre Schulter. „Du kannst nicht jedes Detail von ihm behalten. Jeder Mensch bleibt nur zum Teil hier auf der Erde.“ Sie nickte nur. Dann versuchte sie zu lächeln. Sie hatte vergessen, dass Kiras vor nicht allzu langer Zeit auch in so einer Situation war. Ihr Verhalten musste ihm lächerlich vorkommen. „Es ist doch blödsinnig, wenn plötzlich alles stehen bleibt, nur weil ein Mensch gestorben ist!“ Trotzdem fühlte sie sich manchmal danach. Sie fragte sich, ob es den anderen auch so ging. Sie stand auf. „Ich gehe jetzt lieber!“ Kiras nickte. Er griff noch einmal nach ihrer Hand. „Es ist besser, wenn niemand weiß, dass wir uns kennen, solange ich nicht weiß, wie sehr ich den andern vertrauen kann!“ Sie nickte. Der Kloß in ihrem Hals machte sich wieder bemerkbar. Ihre Hand streckte sich nach der Tür aus. Doch sie blieb noch einmal stehen. „Ich habe ihnen gesagt, dass ich K’vara heiße!“ Kiras fuhr hoch. „K’vara, wieso…“ Er verstummte. Sie blickte ihm in die Augen. Also hatte Maska auch da Recht behalten. In dem Moment las er ihr die Gedanken von den Augen ab. Er ließ sich seufzend wieder auf das Bett fallen. Mikulas lächelte. „Du musst es ihr einfach sagen, wenn du wieder in Chema bist. Das wird sie schon hinter ihren Büchern hervorholen! Irgendwie…“ Mikulas stellte sich vor ihm und legte ihre Hand auf seine Wange. „Menschen leben solange an einander vorbei, weil sie nicht mit einander reden. An dem Tag, als du uns verlassen hast, ist sie lange auf der Mauer gewesen und hat dir nachgeblickt. Ich glaube nicht, dass sie für dich nichts empfindet!“ Er senkte seinen Blick. Sie kniete sich vor ihm hin. „Keine Angst, Bruder!“

Er ging auf der Wiese auf und ab. Sie hatten spät ihr Nachtlager aufgeschlagen und nur noch eine Kleinigkeit gemeinsam gegessen. Dann war jeder in sein Zelt oder seinen Schlafsack verschwunden. Mit Sonnenaufgang würde die kleine Karawane bereits weiterziehen. Goscha beobachtete seinen wandernden Schatten. Ihre Hand begann den Misch in ihrem Schoß zu kraulen. Sin stieß ein leichtes Knurren aus, das an das Schnurren einer Katze erinnerte. „Was ist los?“ Mit einem Seufzer ließ sich Vasa Rem ins Gras sinken. Doch richtig ruhig schien er auch jetzt nicht. „Das macht mich alles nervös!“ Ihre zweite Hand griff nach seiner, während die andere nicht aufhörte den Misch zu kraulen. Vasa Rem setzte fast einen gequälten Gesichtsausdruck auf. Seine Hand bewegte sich ein wenig und eine kleine kalte Lichtkugel breitete sich auf seiner Hand aus. „Ich möchte dein Gesicht sehen!“, murmelte er. Sin streckte seine langen Finger nach der Kugel aus. Früher hatte Goscha Angst deswegen gehabt. Doch Vasa Rem hatte ihr oft genug demonstriert, dass dieses kalte Licht keine Gefahr barg. Sie beobachtete die mit Krallen besetzen schwarzen Finger, die das Leuchtding fast liebkosten. „Ständig habe ich das Gefühl, alle verheimlichen etwas vor mir“, beklagte sich Vasa Rem, ohne auf den Misch zu achten. „Selbst du“, fügte er noch hinzu. Goscha blinzelte. Dann schluckte sie und nickte. Es hatte ja doch keinen Sinn und es war ja auch nichts Schlimmes. Doch Vasa Rem schien es nicht weiter zu beachten. „Das Mädchen, ich kenne es. Ich kenne ihr Gesicht, doch ich kann es nicht zuordnen!“ Goscha deutete auf den Schlafsack neben sich. „Leg dich hin. Es wird dir schon wieder einfallen. Du bist viel gereist, du hast viele Leute in der Kaiserstadt gesehen. Es ist normal, dass du viele Menschen kennst.“ Unwillig schüttelte Vasa Rem den Kopf. Seine Hand drückte kurz Goschas. „Ich weiß nicht, ich weiß nicht…“
Die kleine bläuliche Lichtkugel fuhr langsam über ihr Gesicht. Vasa Rems andere Hand hatte sich um ihren Bauch gelegt. Lange betrachtete er ihr Gesicht. Goscha hatte inzwischen die Augen geschlossen. So wie sie an dem leichten Kribbeln, das die Kugel erzeugte, erkannte, wo sein Blick lag, musste er auch wissen, dass sie noch wach war. Sein Kopf lag jetzt ganz dicht an ihrem Ohr. Sie spürte seinen Atem, auf ihrer Wange. „Was ist dein Geheimnis?“, flüsterte er. Sie schüttelte den Kopf. Seine Nase drückte dabei gegen ihre Wange. „Das sag ich dir noch nicht!“ Die Kugel fuhr über ihre Stirn. Dann erlosch sie. „Wieso?“ Goscha seufzte leicht. Sie bekam plötzlich Angst. Wie würde Vasa Rem reagieren, wenn sie es ihm erzählte? Ihr Kopf drehte sich zu ihm um. „Das ist Teil des Geheimnisses!“ Sie küsste seine Lippen. „Wir sollten schlafen!“ Seine Lippen berührten ihre Stirn. Seine Finger tasteten nach ihrer Wange. Ihre Augen öffneten sich wieder und sie blickte in den Sternenhimmel. Dabei wollte sie es ihm doch erzählen. Sie lächelte über sich selbst. Sie musste sich in Geduld üben. „Ich sage es dir, wenn wir die ersten Palmen sehen!“ Vasa Rem rutschte ein Stück näher an sie heran, so dass er ihre ganze Seite berührte. „Bis dahin sind es ja noch fast zwei Wochen!“ Goscha lächelte. „Eben!“
Wolken waren aufgezogen und färbten den Himmel grauschwarz. Kaum noch Sterne waren zu sehen. Wie viel Zeit war vergangen? Sie würden morgen tot müde sein. Ihre Hand streckte sich nach seinen Haaren aus. „Wann wirst du mir dein Geheimnis erzählen!“, murmelte sie halblaut. Sie wusste schon von Anfang an, dass es Teile von ihm gab, die er vor allen verborgen hielt. Manches hatte er ja bereits angedeutet. „Wenn wir die ersten Palmen sehen!“, murmelte er in ihr Ohr.


© lerche


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