Das Mädchen blickte nur kurz vom Essen auf. Es lächelte leicht. „Du hast wohl schon länger nichts mehr gegessen!“, bemerkte Miandra. Fast unschuldig zuckte das Mädchen mit den Schultern. Dann beugte sie sich wieder über die Suppe, die Goscha aufgewärmt hatte. Sie löffelte schnell und geschickt. Gleichzeitig hatte sie auch eine gewisse Eleganz. „Ich glaube, du bleibst die Nacht einmal hier!“, meinte Miandra. Goscha spürte Sin, der sich an ihre Füße klammerte. Wahrscheinlich war das die einzige Möglichkeit, um heraus zu finden, was das Mädchen wirklich wollte. Sie blickte auf. Irgendetwas wie Überraschung war in ihr Gesicht geschrieben. „Darf ich wirklich?“ Goscha wusste nicht, wie sie das Mädchen einordnen sollte. Sie war doch noch so jung. Konnte sie wirklich böse Absichten haben? Ihr Lächeln nahm Goscha irgendwie gefangen. Es erinnerte sie an etwas Unbestimmtes. Fast konnte sie glauben, dass die Welt noch in Ordnung war, wenn sie dem Mädchen zusah. „Du hast uns noch gar nicht verraten, wie du heißt!“, meinte Miandra beiläufig. Doch Goscha merkte, dass ihr Körper angespannt war. Ihr Fuß begann auf und ab zu wippen. Das Mädchen schluckte die Suppe, die sie im Mund hatte, hinunter. „Ich heiße K’vara!“ Goscha wiederholte den seltsamen Namen. Das Mädchen begann zu lachen. „Das klang absolut komisch!“ Wieder lachte das Mädchen. Dann schob es sich eine Strähne aus dem Gesicht.
Miandra sprang auf, so dass der Sessel umkippte. Goscha und K’vara zuckten zusammen. Miandra zwang sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Ich möchte kurz hinaus.“ In dem Moment drehte sie schon auf der Stelle um und rannte durch die Tür. Goscha blickte ihr verstört nach. Auch das Mädchen hatte ihre Suppe vergessen. „Was war das denn?“, fragte sie. Goscha schüttelte den Kopf, als Zeichen, dass sie auch keine Ahnung hatte. Dann stand sie vorsichtig auf. „Ich gehe lieber nachschauen!“
Sie fand Miandra vorn übergebeugt, halb im Gebüsch versteckt. Goscha hockte sich neben sie. Etwas Sauresdrang an ihre Nase. Sofort kam die Erinnerung an stickige Zelte, verletzte Menschen und Blut hoch. Kurz wurde ihr schwindlig. Aber sie kämpfte das Gefühl tapfer hinunter. Dann fuhr ihre Hand zu Miandras Haaren. Sie schob sie teilweise aus dem Gesicht. „Was ist los?“ Miandra schüttelte den Kopf. Sie richtete sich ein Stück auf. Im nächsten Moment beugte sie sich wieder vorn über und kotzte. Goscha sah, dass ihr Mageninhalt bereits auf dem Boden lag. Jetzt kam nur noch eine schleimige Flüssigkeit hervor. Miandra stöhnte. „Nabo…“, stieß sie mühsam hervor. Goscha nahm hilflos ihre Hand. Miandra schluckte heftig. Tränen rannten ungehindert über ihr Gesicht. „Nabo… Es ist…“ Sie presste die Lippen zusammen. Doch eine neue Welle von Übelkeit überwältigte sie. „Notruf!“ Sie keuchte schwer. „Er sendet einen Notruf!“

Etwas tropfte auf den Boden. In seinen Gedanken sah er eine Wasserlacke auf dem Tisch. War ein Glas umgefallen. Dann musste er an Wein denken. War es nicht immer der Wein, der von der Tischkante rann? Nach jedem Streit wurde Wein verschüttet. Er hörte Schritte und weiter dieses Tropfen. Es wurde ihm klar, dass er aufwachen sollte. Er riss seine Augen auf, als er langsam aus der Meditation heraus kam. Zunächst war das Bild verschwommen. Ein roter Fleck vor seinen Augen breitete sich kontinuierlich aus. Es war wirklich der Wein. Langsam wurde das Bild klar. Er schreckte zurück. Seine Hand fuhr zu seinem Mund. Doch in der nächsten Minute hatte er sich gefangen. „Du bist voller Blut! Ich muss dich verbinden!“
Vasa Rem zog ein Leintuch aus dem Kasten. Er fing an, es in Streifen zu reißen. Mit dem Stoff lief er zurück in die Küche. Nabo hatte sich inzwischen auf einen Stuhl fallen gelassen. Seine Augen waren glasig. Wie viel Blut hatte er schon verloren? Vasa Rem war nicht gut im Heilen. Was sollte er nur tun? Er fluchte innerlich. Dann hockte er sich vor Nabo hin. Blutiger Stoff war um seinen Arm gewickelt. Er schmatzte leicht, als Vasa Rem vorsichtig daran zog. Für einen Moment kämpfte Vasa Rem mit der Übelkeit. Dann nahm er einen Streifen und wickelte ihn so stark er konnte um den Arm. Erst jetzt wagte er es weiter an dem Stoff zu zupfen. Schließlich holte er ein Messer und schnitt den dürftigen Verband hinunter. Nabo gab dabei keinen Laut von sich. Vasa Rem war es nur recht. So konnte er vergessen, dass er hier einen Teil eines menschlichen Körpers vor sich hatte. Mit einem schmatzenden Laut klatschte der Verband auf den Boden. Vasa Rem schluckte heftig. Er kämpfte gegen seine Übelkeit an. Schließlich sprang er hoch und übergab sich in die Waschschüssel.
Mit einem Schwamm wusch er den Großteil des Blutes ab. Es rann noch immer aus der großen Wunde nach. Das Wasser in der Schüssel war tief rot wie Wein. Er verdrängte das Bild. Seine Finger griffen nach der ersten Stoffbahn. Dann begann er den Stoff straff über die Wunde zu wickeln. Nabo hatte einen breiten Schnitt über den ganzen Unterarm. Es sah aus, als hätte ihn ein Schwert gestreift. Was war nur passiert? Wie hatte er sich nach all dem Blutverlust noch hier her schleppen können? Der Stoff begann sich schon wieder rot zu färben, bevor Vasa Rem noch am Handgelenk angekommen war. Trotzdem machte er weiter und versuchte dabei krampfhaft an etwas anderes zu denken.
Dann war er bei der Hand angekommen. Wieder wurde ihm übel. Mit zittrigen Fingern hüllte er die drei Stummel ein, die einmal Finger gewesen sein mussten. Aus ihnen tropfte das meiste Blut. Doch je fester Vasa Rem band, desto weniger Blut kam mehr hervor. Schließlich gab er vorläufig auf. Besser konnte er die Wunde nicht versorgen. In wenigen Stunden würde auch dieser Verband wieder mit Blut getränkt sein. Davon war er überzeugt. Vielleicht würde es etwas helfen, wenn er Nabo in ein Krankenhaus brachte. Doch irgendetwas sagte ihm, dass das keine gute Idee war. Er holte einen Becher. Dann suchte er noch eine Flasche Wein heraus. Er brauchte zwei Anläufe um sie zu öffnen, so stark zitterten seine Hände. Schließlich füllte er den Becher und brachte ihn zu Nabo. Als er merkte, dass Nabo nicht mehr die Kraft hatte den Becher zu halten, führte er ihn selbst an seine Lippen. Schluck für Schluck flößte er Nabo das Getränkt ein. Der Alkohol würde sicher schnell wirken. Außerdem musste er den Flüssigkeitsverlust ausgleichen. Was tat man nur in so einem Fall? Vasa Rem wusste es nicht. Er hoffte nur, dass Nabo lang genug überleben würde, damit er Hilfe holen konnte. Doch er hatte nicht einmal Ahnung bei wem er suchen sollte.
Nabo war eingeschlafen. Vasa Rem wusste nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Zumindest floss das Blut nur mehr langsam. Der Verband hielt länger, als er gedacht hatte. Vasa Rem holte seine Decke und legte sie vorsichtig über den Schlafenden. Dann stahl er sich vorsichtig in die kleine Küche zurück. Erst jetzt sah er, dass dort alles voll Blut war. Er schluckte heftig. Dann ließ er sich erschöpft auf einen Sessel fallen. Er versuchte nach zu vollziehen, was wohl passiert war. Es gab nur einen Menschen, der so etwas tun konnte. Vasa Rem schüttelte den Kopf. Sie mussten weg hier! Das war ihm mehr als alles andere klar. Er musste mit Kiras reden. Doch gleichzeitig konnte Vasa Rem Nabo in diesem Zustand nicht allein lassen. Vielleicht war er nach ein paar Stunden Schlaf wieder fähig zu gehen. Er würde es sicher können. Schließlich hatte er es trotz des Blutverlustes geschafft zu ihm zu gehen. Vasa Rem bewunderte seine Willenskraft.
Er hatte seine Sachen gepackt und die Küche notdürftig gesäubert. Dann hatte er lange neben Nabo gesessen und darauf gewartet, dass er ein Lebenszeichen von sich gab. Nur sehr langsam erwachte Nabo wieder zum Leben. Er lächelte schwach. „Wie fühlst du dich?“ Nabo schloss wieder die Augen. „Völlig erschlagen!“, flüsterte er. Vasa Rem stand auf und holte ihm einen Becher mit Wein. Nabo hatte sich inzwischen ein wenig aufgerichtet. Er nahm wortlos den Becher und leerte ihn mit kleinen Schlucken. „Wir sollten so bald wie möglich aufbrechen!“, meinte Vasa Rem. Nabo nickte nur. Er hielt die Augen noch immer geschlossen. Wie sollte er diesen Mann durch die Stadt tragen? Langsam öffnete er sie wieder und blickte dann seinen Arm hinunter. Er schluckte einmal heftig. Dann begann er vorsichtig die Hand zu drehen. „Damit gehe ich wohl endgültig als Krüppel durch!“, seufzte er. Er lehnte sich zurück. Schließlich fluchte er leise. „Was ist passiert?“ Nabo schüttelte den Kopf. „Kalo ist… tot!“ Vasa Rem schluckte. Bei all den Vorstellungen, die er sich in der Nacht gemacht hatte, war diese nicht untergekommen. Er legte seine Hände auf seine Knie, damit Nabo nicht sah, wie sie zitterten. „Sie waren zu dritt! Sie wollten nicht reden! Ich… hasse… Ich hasse so etwas!“ Nabo schloss wieder die Augen, so als wären sie zu schwer. Doch Vasa Rem glaubte so etwas, wie Tränen darunter zu erkennen. Nabo trauerte um seinen größten Feind. „Geh zu Kiras!“, meinte er schließlich. „Ich… ich kann nicht!“ Nabo rollte sich wieder im Bett zusammen. Er war schnell eingeschlafen. Vasa Rem stand auf. Er schulterte seinen Rucksack und nahm dann auch den von Nabo mit. Noch einmal blickte er auf den schlafenden Nabo. Dann verschloss er die Wohnungstür hinter sich. Er war einer der ersten auf der Straße. Es war ihm egal. Alles, was jetzt zählte, war Zeit. Er lief los.

Es war eine schwüle Nacht. Man konnte fast glauben, dass es noch Sommer war und nicht schon in Richtung Herbst ging. Seine Finger spielten mit der Feder. Sein Kopf war nach hinten gelehnt und seine Haare fielen frei herab. Es war jetzt drei Monate her, seitdem er das letzte Mal in Chema war. Trotzdem schien sein Liebeskummer frisch wie eh und je. Die Sehnsucht nach dem Gesicht, das langsam in seiner Erinnerung verblasste, war ungebrochen Er musste etwas tun. So konnte es nicht weitergehen. Die Zeit der Taten war angebrochen. Kiras schüttelte seine langen Haare. Er musste sie schneiden, kam es ihn in den Sinn. Seine Mutter würde sich darüber aufregen. Für einen Mann von Rang gehörte es sich nicht die Haare länger als bis zu seinen Schulter zu tragen. Manchmal wünschte sich Kiras einen perfekten Bruder, der all das war, was seine Mutter von ihm wünschte. Dann würde vielleicht der Druck auf ihn ein wenig nachlassen. Er strich mit den Fingern über die Innenseite seines rechten Handgelenks. Doch gleichzeitig wusste Kiras, dass ein Bruder alles nur noch schlimmer machen würde. Er wollte nicht ständig mit jemandem verglichen werden, den er nie erreichen konnte. So blieb ihm nichts anderes übrig als von zu Hause fern zu bleiben. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Aber wo sollte er dann sonst bleiben. Die Kaiserstadt war nicht mehr sicher für ihn. Die Wüste schmerzte ihn zu sehr. Er konnte nicht in Chema sein, ohne sie ständig zu sehen. Das letzte Mal hatte er in den Nächten nicht schlafen können, weil ihn die Sehnsucht nach ihr überwältigt hatte.
Er setzte sich wieder auf. Das Papier vor ihm war fast leer. „Liebe K’vara!“, prangte ihm entgegen. Er hoffte sie damit erreichen zu können. Wie sollte man diese Frau sonst erreichen außer über Buchstaben? Manchmal fragte er sich, wovor sie sich hinter den Büchern versteckte. Er gähnte. Resignierend stand er auf und ging in seinem Zimmer auf und ab, um wieder wach zu werden. Er wollte jetzt nicht schlafen. Seine Hände fuhren durch seine Haare. Die Nächte gehörten ihr und seinem Selbstmitleid. Sonst musste er den noblen Adeligen aus Siruna spielen. Er musste ein ausgefuchster Geschäftsmann sein, der allen anderen mit Planung und Durchblick überlegen war. Da gab es keine Möglichkeit sich von seinen Gefühlen die Füße wegschwemmen zu lassen. Er ließ sie auf sein Bett fallen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. In der Nacht musste er nicht daran denken, wie unmöglich seine Wahl war. K’vara würde nie im Leben die gut bürgerliche Frau abgeben, die man in seiner Gesellschaft erwarten würde. Aber er liebte sie nun mal. Er litt unermessliche Qualen. Sein Oberkörper fiel zurück auf die Matratze. Er wollte die ganze Nacht an seinem Liebeskummer leiden.
Er schreckte von der Matratze hoch. Leichtes Dämmerlicht fiel bereits durch das unverhangene Fenster. Irgendwann musste er doch eingeschlafen sein. Er rappelte sie träge auf. Sein Arm fuhr über die Augen. Nach einem herzhaften Gähnen blickte er auf das Papier, was noch immer auf seinen Schreibtisch lag. Kein einziger Buchstabe war hinzugekommen. Das war doch lächerlich. War er ein großartiger Poet, dass er es mit einem Liebesbrief versuchte? Seine Hand schloss sich um das Papier und er knüllte es zusammen. Dann warf er es in den Mistkübel. Außerdem interessierte sich K’vara sicherlich nicht für Poesie.

Kiras starrte auf den Magier hinunter. Das sah unschön aus. „Wir sollten den Verband wieder wechseln!“, meinte er tonlos. Vasa Rem nickte nur. Er war ein wenig blass um die Nase. Kiras stand auf und holte Stoff aus einen der Kästen. Den drückte er Vasa Rem in die Hand und befahl ihm Streifen zu reißen. Dann kramte er in seiner Schreibtischlade. Dort hatte er ein kleines Nähbesteck von Mira. Er schluckte leicht, als er die kleine Ledertasche aufklappte. Kurz verweilten seine Gedanken in der Wüstenstadt. Dann schüttelte er sich davon frei. Seine Rechte umfasste das Täschchen, während die Linke nach dem Kronleuchter griff. Mit beidem kam er zurück in das Gästezimmer, wo sie Nabo inzwischen auf das Bett gelegt hatten. Einer seiner Bediensteten hatte Wein gebracht. Die drei Becher standen noch unberührt auf den Nachtisch. Er bedankte sich stumm, dass nicht nur Nabo einen bekommen hatte. Nach dem Anblick würde er sicher auch einen brauchen und Vasa Rem sah sowieso danach aus.
Vasa Rem beobachtete skeptisch sein Tun. Unbeeindruckt zündete Kiras eine Kerze an. Er dachte an die Ordensschwestern, die verzweifelt versucht hatten abgeschnittene Körperteile wieder zu retten. Der Krieg war blutig. Die Erinnerung war wie ein Schlag und ließ kurz seine Finger zittern. Er hatte den Rauch der vielen Scheiterhaufen gesehen. Er griff nach seinem Becher und leerte den Inhalt in einem Zug. Dann ging es besser. Er zog sein Messer und drückte es Vasa Rem in die Hand. „Schneide die Verbände auf. Ich möchte mir die Wunde ansehen!“ Vasa Rem blickte ihn verständnislos an. Kiras grinste böse. „Ich bin vielleicht nur ein Händler, aber ich habe schon genug von diesen hässlichen Wunden gesehen. Jeder von uns wird das früher oder später!“ So, als wäre er routiniert, fuhr Kiras mit der Nadel kurz durch das Feuer. Vasa Rem schluckte einmal. Doch dann begann er so, wie ihm geheißen den Verband auf zu schneiden. „Du hast den Krieg gesehen! Du warst einmal dort.“ Kiras nickte nur. Er war schon dreimal nach Osten gereist. Jedes Mal war der Weg kürzer gewesen. Die östliche Provinz war komplett dem Feind verfallen. Für Kiras war es nur eine Frage der Zeit, bis der Krieg auch hier her kommen würde. Der Verband brach wie eine Wunde auf. Darunter sah Kiras nur Blut. Er legte die Nadel noch einmal hin und holte die Wasserschüssel, die sein Bediensteter voraussehend auch bereitgestellt hatte. „Hör da auf. Ich möchte stückweise nähen!“ Vasa Rem zuckte erschrocken zusammen. „Nähen?“ Kiras setzte ein überhebliches Lächeln auf. Vasa Rem hatte gemeint, dass sich der Schnitt über den ganzen Arm zog. Er musste sicher genäht werden.
Es war ein Ekel erregendes Gefühl, als die Nadel gegen die elastische Haut drückte. Vorsichtig zog der den Faden durch das so entstandene Loch. Dann bohrte er noch eines. Der Schnitt ging über den ganzen Unterarm. Er dachte daran, wie er Akaris zugesehen hatte, wie sie ähnliche Wunden so versorgt hatten. Hier oder in seiner Heimat kannte man diese Technik nicht. Nabo war zwischendurch wach geworden. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Doch Kiras konnte in seinen Augen sehen, wie sehr er litt. Kiras hasste es jemanden so Schmerzen zuzufügen. Seine Gedanken drifteten ab zu Mira. Hätte sie gedacht, dass er ihr Geschenk jemals so einsetzen würde. Dann sah er wieder seinen Bücherwurm vor sich. Dabei konnte er bei weitem noch nicht dieses Eigenschaftswort benutzen. Er wollte so sehr, dass sie ihm gehörte. Aber K’vara würde sicher nie jemanden gehören. Wenn dann würde er ihr gehören. Er holte tief Luft, als er wieder einen Faden verknotete. „Jetzt die Hand“, murmelte er. Nabo schüttelte den Kopf. Plötzlich stand Vasa Rem auf und ging ans Fenster. „Du musst nicht dableiben!“, meinte Nabo freundlich. Vasa Rem drehte sich um. Die Blicke der Zauberer trafen sich. Vasa Rem presste die Lippen zusammen. Nabo schloss kurz die Augen. Doch er wurde nicht ohnmächtig. „Du musst zu ihr, zu ihnen! Sie wird wissen, was passiert ist!“ Kiras runzelte die Stirn. „Notruf…“, glitt es über Vasa Rems Lippen. Nabo nickte leicht. „Ich… ich glaube schon!“ Nabo zog seine Hand ein Stück an. „Du musst allein gehen. Wir treffen uns an der Stelle! Kiras kümmert sich um mich.“
Kiras hatte den ganzen Arm wieder neu verbunden. An den Fingern hatte er nicht viel tun können. Er stand auf und schob die Waschschüssel beiseite. Das Wasser war rot vom Blut. Auch auf seinen Händen war Blut. Er wusch sie grob im Wasser und wischte dann das Blut mit dem übrigen Stoff von seinen Händen. „Du fragst dich, wohin ich Vasa Rem geschickt habe!“ Kiras nickte nur. Nabo lächelte seltsam in sich hinein. Seine Augen lagen tief und die Erschöpfung war ihm deutlich an zu sehen. „Bald wirst du die andere Seite von Nabo kennen lernen, die nicht viel mit dem Zauberer zu tun hat!“

„Lebt ihr immer schon hier?“ Das Mädchen hatte seine Füße untergeschlagen und blickte in das Wasser des Baches. Goscha ließ sich neben sie sinken. „Nein, ich bin eigentlich erst seit etwas über einem Jahr hier!“ Das Mädchen schaute zu ihr auf. „Und wo warst du vorher?“ Goscha zog die Beine an und legte ihren Kopf auf ihre Knie. Sie dachte an ihren Bauernhof. Beinahe hatte sie ihn vergessen können. „Ich komme aus dem Osten!“ Doch die Bilder von Blut würde sie wohl nie vergessen. Sie weckten Goscha noch immer in der Nacht. Manchmal tat es richtig weh. Das Mädchen wirkte plötzlich sehr betroffen. „Ich… Ein Bekannter… Ich habe gehört, was passiert sein soll!“ Goscha nickte nur. Eigentlich wusste niemand so genau, was wirklich alles passiert war. Die fremden Truppen hatten die Provinz überrollt, ihre Heimat. Es war so schnell gegangen, dass kaum jemand Nachricht darüber bringen hatte können. Die Flüchtlinge erzählten meistens nur unzusammenhängende Details. Zumindest hatte das Vasa Rem behauptet. Es war gut, dass ihr Vater vor der Katastrophe gestorben war. So hatte er in Frieden dieses Leben verlassen können.
„Geht es Miandra besser?“, wechselte K’vara das Thema. Goscha nickte nur. Sie hatte sicherlich nicht viel in der Nacht geschlafen, wenn sie überhaupt eingenickt war. Goscha suchte nach einer Blume in der Wiese, die sie fixieren konnte. Sie hatte auch lange wach gelegen. Wenn Nabo etwas passiert war, dann konnte auch Vasa Rem betroffen sein. Als sie wieder aufblickte, sah sie K’vara lächeln. Das war irgendwie tröstlich. Solange es auf dieser Welt noch Menschen gab, die so lächeln konnten, konnte es noch nicht so schlimm sein. Solange gab es noch Hoffnung. „Wieso bist du hier?“ Das Mädchen blickte sie lange an. Dann stand sie auf. „Es gibt da jemanden, der mir sehr viel bedeutet.“ Goscha nickte nur. Das war Grund genug, das wusste sie. Fast bedauerte sie diese junge Frau. Goscha war genauso gewesen. Das Mädchen wandte sich vom Wasser ab und ging zurück zur Hütte. Goscha glaubte die Sehnsucht in ihrem Blick gesehen zu haben. Sin kroch unter ihrem Rock hervor. Wie automatisch begann sie seinen Hals zu kraulen. Fast konnte Goscha vergessen, welche Angst ihr ihre erste Begegnung gemacht hatte.


© lerche


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