K’vara starrte auf das Buch. Die Zeilen schienen vor ihr in einander zu rutschen. Sie spürte Tränen in den Augen. Wütend wischte sie mit dem Arm über ihr Gesicht. Eigentlich konnte ihr das alles egal sein. Sie dachte an Mira, die vor ihren Augen zusammen gebrochen war. Es war nicht ihr eigener Vater. Eigentlich hatte sie diesen Mann kaum gekannt, diesen freundlichen, älterlichen Mann. Trotzdem hatte sie sich von der allgemeinen Trauer anstecken lassen. Sie hörte ein Geräusch hinter ihr und schreckte hoch. Dann atmete sie ein paar Mal durch und fühlte sich so wie immer. Sie hatte noch nicht verlernt ihre Gefühle zu verstecken. Ihre Fassade würde halten. Vorsichtig drehte sie sich herum. Kiras lehnte mit dem Arm lässig gegen ein Bücherregal. Für eine Weile blickten sie sich wortlos an. Sie beobachtete eine lästige Haarsträhne, die sich gelöst hatte und jetzt immer wieder in sein Gesicht fiel. „Du willst also schon gehen!“, murmelte sie schließlich. Sonst würde er nie im Leben zu ihr in die Bibliothek kommen. Er hatte ihr ja nichteinmal ein Geschenk mitgebracht. Außerdem hatte er und Mikulas sich am Vorabend gestritten. Sie musste zugeben, dass ihr auch nicht ganz egal war, dass er jetzt das Weite suchte. Kiras war inzwischen ihr Bruder geworden. Zumindest fühlte sie so. Manchmal hatte sie das Gefühl, er war der einzige in dieser ganzen Stadt, der sie verstehen konnte. Sie hatten dieselben Wurzeln. Sie schluckte leicht. Mit Maska war es immer anders gewesen. Maska war einfach ... anders. Dann legte sie die Hand auf das Zeichen auf ihrem Arm. Es waren nur noch dünne Linien. „Ich bin schon zu lange der Hauptstadt fern“, meinte Kiras schließlich. „Es sind dort Zeiten des Umbruchs angebrochen. Der Krieg macht sich auch dort bemerkbar!“ Er holte tief Luft. K’vara nickte nur. Krieg war für sie ein fernes Wort. Aber er schien immer als Ausrede herhalten zu können. Sie ballte leicht die Hände zusammen und öffnete sie dann wieder. Es war so schwer vorstellbar, dass irgendwo anders Leute starben, die sie nicht kannte und die nichts mit ihr zu tun hatten. „Willst du nicht noch bleiben bis…“ Ihr fehlten die Worte, doch Kiras wusste auch so, was sie meinte. Er schüttelte den Kopf. „Es ist nicht meine Familie, nicht mein König. Ich habe das Gefühl, dass das Begräbnis zu intim ist, dass es mir nicht zusteht.“ Er schüttelte wieder den Kopf. Diesmal nickte K’vara. Sie kam sich plötzlich so unendlich einsam vor. Dachte er kein einziges Mal daran, wie sie sich fühlte? „Ich versteh schon. Ich kann mich hier verkriechen und vergessen. Hier lässt man mich in Ruhe. Du verkriechst dich woanders!“
Plötzlich hatte sie das Gefühl, sie hätte ihn der Feigheit bezichtigt. Doch Kiras war nie feige. Sie wusste, dass er regelmäßig in den Osten reiste, um den Krieg ins Auge zu sehen. Dort war er sicher schon oft dem Tod begegnet. Zumindest stellte sie sich das manchmal vor. Sie wusste doch gar nichts über das Grenzland. „Weißt du, wann du wiederkommen kannst?“ Kiras zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe bald. Ich möchte Mira und Chesem Ba beistehen! Selbst wenn ich nicht so recht weiß wie.“ Sie wollte er nicht sehen. Was hatte sie auch erwartet? Kiras breitete seine Hände aus, so als wollte er zeigen, dass sie leer waren. K’vara biss sich auf die Lippen bei den Gedanken an Chesem Ba. Sie hatte es noch immer nicht geschafft, mit ihm ein Gespräch zu führen, dass nicht in einem Streit geendet hatte. Sie wollte nicht daran denken. „Wann besuchst du deine Mutter?“ Kiras Blick wanderte zum Boden. Schließlich seufzte er. „Ich weiß nicht wann, aber ich werde nach deinen Eltern Ausschau halten. Ich bringe dir das nächste Mal Neuigkeiten von ihnen mit“, versprach er mit leicht brüchiger Stimme. Sie nickte dankbar. Ganz langsam begann die Schuld ihre Brust zuzuschnüren. Sie hoffte, dass Kiras das nicht bemerkte. Die Schuld schlich sich immer aus dem Hinterhalt an. Plötzlich war sie da und erfüllte ihren Körper. Langsam erhob sie sich vom Stuhl und kam auf ihn zu. Zwischen ihnen schien so etwas wie ein Vakuum zu entstehen, was lange niemand zu füllen wagte. „Ich werde dann gehen müssen! Die Sonne geht bald auf und ich möchte ein Stück hinter mich gebracht haben, bevor es richtig heiß wird!“ Er seufzte leicht. K’vara stockte. „Bis zum nächsten Mal!“ Ihre Worte klangen so hohl. Aber was sollte sie sonst sagen? Er nickte steif. Kurz blieb er noch stehen und dann drehte er sich doch um.
K’vara war noch nie so sehr aufgefallen, wie still es wirklich in der Bibliothek war. Ihre Finger ballten sich zu Fäusten und öffneten sich wieder. Die Einsamkeit kroch langsam in ihr hoch. Was machte sie nur hier tagein tagaus? Ihr Leben kam ihr irgendwie sinnlos vor. Dann hatte sie plötzlich das Gefühl, sie hätte Kiras noch mehr sagen müssen. Schließlich konnte auch dieser Abschied wieder der letzte sein. Wer wusste schon, ob die Wüste ihn wieder hergeben wollte? Sie war eine gierige Frau. Manche Männer gab sie nie wieder her. K’vara spürte Tränen in ihren Augen. Kiras war der einzige, der außer ihr nicht von der Trauer niedergedrückt worden war. Er war ihr Bruder. Jetzt fühlte sie sich unendlich einsam.
Sie begann zu rennen. Als sie keuchend vor der Bibliothek zu stehen kam, war die Gruppe vorm Tor schon zerstreut. Kiras verschwand langsam in der roten Wüste. K’vara keuchte ein paar Mal und lief dann zur langen Treppe. Sie hastete die 53 Stufen hinauf. Oben stürzte sie zur Mauer. Von dort aus konnte sie Kiras noch sehen. Sie zählte die Sekunden, die sie ihm nachschaute. Doch er wandte sich nicht um.

Vasa Rem fuhr durch seine Haare, während seine Augen die Buchstaben in den Seiten vor ihm verfolgten. Es kam ihm vor, als las er schon seit Stunden. Er schloss für ein paar Sekunden die Augen. Seine Hände verschränkten sich im Nacken. Noch wollte er sich keine Pause gönnen. In nur einer Woche würde seine letzte Prüfung sein. Dann würde er offiziell Zauberer sein. Dann hätte er es endlich auf Papier, was er seinen Vater unter die Nase halten konnte. Seine Finger begannen seine Kopfhaut zu massieren. Er hatte ein wenig Angst vor dieser Prüfung. Normalerweise sollte es für ihn kein Problem sein. Er hatte schon Zauber zusammen gebracht, die manchen erfahreneren Zauberer Probleme bereitet hätten. Er hoffte zumindest, dass es keine Probleme geben würde. Er schluckte leicht. Die Buchstaben begannen zu springen. Er schloss wieder die Augen. Er brauchte wirklich eine Pause.
Seine Gedanken drifteten ab in alle Richtungen und landeten dann doch bei ihrem Gesicht. Er dachte an ihr Lächeln. Zuerst hatte er gedacht, dass diese Liebe seinem Magierdasein ein jähes Ende bereiten würde. Wegen ihr hätte er alles hin geschmissen, würde es auch tun, sobald er das Papier in den Händen hielt. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er es noch nicht gekonnt, war der Gedanke plötzlich nichts mehr zu sein unerträglich gewesen. Aber in den letzten Monaten war etwas Seltsames passiert. Bei dem Gedanken an ihr Lächeln bündelte sich all seine Konzentration. Dieses Lächeln war eine unerschöpfliche Kraftquelle. Wie sehr sehnte er sich nach Goscha? Er konnte es nicht sagen, konnte seine Gefühle nicht im Entferntesten beschreiben. Sie glitt wie Nebel durch seine tastetenden Fühler, sobald er versuchte sie in Worte zu fassen. Durch sie hatte er seine Magie zurückgefunden, die ihn von ihr trennte. Es war ungerecht und absurd. Eigentlich war es grausam.
Er war aufgestanden und ging jetzt in der kleinen Küche auf und ab. Er hatte einmal mit Nabo darüber gesprochen. Der hatte zuerst nur geheimnisvoll gelächelt. Das konnte er gut. Er hatte immer einen Blick, als würde er tausende Sachen verheimlichen. Vielleicht tat er es auch. Vasa Rem war sich sogar fast sicher, dass er es tat. Wie sehr vertraute ihm Nabo wirklich? Wie sehr vertraute er Nabo? Vasa Rem konnte es nicht sagen. Das machte ihm ein wenig Angst. Angst war schlecht. Das würde ihn ablenken. Jetzt blieb er stehen und presste seine Finger gegen die Stirn. Er wollte nur noch an Goscha denken. Er wollte bei ihr sein. Sie vertraute darauf, dass alles funktionieren würde. Er hatte ihr davon abgeraten, doch sie hat nur gemeint, dass man manchmal etwas riskieren musste.
Gedanke für Gedanke vertrieb er aus seinem Kopf bis nur noch ihr Lächeln übrig war. Er glaubte ihre weichen Lippen auf seinen zu spüren. Dann umschloss ihn der warme Körper. Er fühlte, wie seine Finger ihren Rücken entlang glitten. Ein leises Stöhnen glitt über seine Lippen. Wie hatte er jemals glauben können ohne diesem Gefühl leben zu können? Das Lächeln erfüllte ihn. Es war, als würde er in hellem Glanz erstrahlen.
Die Welt um ihn herum begann sich wieder zu materialisieren. Wie viel Zeit war vergangen? Seine Hände tasteten nach der Stuhllehne ganz in der Nähe. Er fühlte sich ein wenig wackelig, so als hätte er etwas furchtbar Anstrengendes gemacht, ohne es zu merken. Nur sein Geist war wieder vollkommen klar. Er atmete ein paar Mal tief durch. Jemand stellte ein Glas mit Wasser neben ihm auf den Tisch. Er zuckte zusammen. Doch als er aufblickte, sah er nur Nabo. Fast gierig blickte er auf das Glas und trank ein paar Schlucke. „Die Tür war offen!“, meinte Nabo. Vasa Rem war sich nicht sicher, ob es eine Entschuldigung von seiner Seite sein sollte. Nabos Worte klangen mehr wie ein Vorwurf. Er kümmerte sich zu wenig um Sicherheit. Er glaubte einfach nicht an die ganzen Verschwörungstheorien, die derzeit durch die Kaiserstadt zogen. Er war doch viel zu unwichtig. Träge ließ er sich auf den Stuhl fallen. „Wie geht es dir mit dem Lernen?“ Vasa Rem schüttelte den Kopf. Die Seite, die er zuletzt gelesen hatte, war verblättert. Er klappte das Buch zu. Nabo lächelte sein undefinierbares Lächeln. „Es ist so viel“, murmelte Vasa Rem schließlich. Er war jetzt schon über eine Woche nicht mehr bei Goscha gewesen, weil er Angst hatte, nicht fertig zu werden. Kalo nahm seine Prüfung ab. Selbst wenn die Prüfung vor einem Prüfungssenat gehalten wurde, hatte Nabo Angst, dass Kalo eine Schwachstelle finden würde. Irgendetwas konnte man fast immer finden, wenn man nur tief genug bohrte. Er griff wieder nach dem Wasser. Nabos Hand verschwand kurz in seiner Tasche. Dann schob er etwas über den Tisch zu ihm. Vasa Rem griff danach. Es war ein Glas, was mit einem gewachsten Tuch verschlossen war. Langsam drehte er das Ding in seinen Händen. Dann blickte er zu Nabo auf. „Das ist eine neue!“ Nabo nickte. Vasa Rems Finger schlossen sich um das Glas. Seine Augen füllten sich mit Tränen, doch er schaffte es sich unter Kontrolle zu halten. „Ich fühle mich so unendlich schäbig!“, murmelte er stattdessen. Er schluckte einmal heftig. Es war nicht leicht die Tränen zurück zu halten. Selbst wenn er wusste, dass Goscha vorm Krieg geflüchtet war, kamen ihn manchmal Zweifel, ob sie ihre Heimat hatte verlassen sollen. „Du hast gerade sehr stark an sie gedacht!“, meinte Nabo. Vasa Rem brauchte ein paar Sekunden, bis er Begriff, was der Satz bedeutete. Dann nickte er. „Du solltest damit aufpassen. Sie ist vorhin durch den Raum geschwebt!“ Vasa Rem blinzelte. Wie konnte Goscha, die… „Eine Illusion? Ich habe eine Illusion gewirkt?“ Nabo nickte. Illusionen, die mehr waren, als eine einfache Flamme, waren starke Zauber. Mühsam erhob sich Vasa Rem. „Du solltest nie vergessen, dass dein Können ganz allein von ihr kommt. Ich vergesse so etwas niemals! Ich sehe immer ihr Gesicht, wenn ich die Augen schließe.“ Ohne ein weiteres Wort hinkte Nabo aus der kleinen Wohnung. Vasa Rem ging ihm nach und schloss hinter ihm ab. Dann wandte er sich wieder dem Tisch zu. Dort stand noch immer das einsame Marmeladeglas. Er sank an Ort und Stelle zusammen. Sein Gesicht vergrub er in seine Arme. Er war gar nichts ohne sie.

Sie hörte laute Stimmen vor ihrem Zimmer. Verwundert zog sie ihre Füße aus der Decke und ließ sie dann über die Bettkante gleiten. Sie griff nach der dünnen Decke, als sie aufstand. Kurz war ihr noch schwindlig. Sie wickelte den Stoff um ihren Körper. Im Raum war es fast dunkel. Die Fenster waren abgedichtet und nur vereinzelte Strahlen drangen durch die Spalten. Wie lange hatte sie wohl geschlafen? Sie hatte die letzten zwei Tage im Bett verbracht und sich dabei unendlich feige vorgekommen. Den ersten Tag hatte sie in ihre Kissen geheult, wie ein kleines Kind. Dann war langsam kriechend die Angst gekommen und schließlich die Erschöpfung. Jetzt fühlte sie sich nur noch leicht erschlagen. Sie versuchte sich wieder einmal verzweifelt daran zu erinnern, wie ihr Vater reagiert hatte, als er an ihrer Stelle gewesen war. Aber sie wusste es einfach nicht mehr. Sie war damals nur ein paar Jahre alt gewesen und hatte nicht begreifen wollen, wieso ihr Großvater nicht mehr an ihr Bett gekommen war, um ihr Geschichten vorzutragen. Ihr Blick glitt zu ihren Füßen. Ein Lächeln glitt auf ihre Lippen. Vorsichtig bückte sie sich. Ihre Finger streckten sich nach Maskas Schulter aus. Sie schreckte hoch. Mira sank auf die Bettkante. Dumpf erinnerte sie sich daran, dass sie auch schon da gewesen war, als Mira eingeschlafen war. Kurz überlegte sie sich, ob sie Maska nach Hause schicken sollte, doch dann drangen wieder die lauten Stimmen in ihr Bewusstsein. Sie richtete sich wieder auf. Es war Zeit, dass sie aus ihrem Schneckenhaus herauskam.
Ihr Blick fiel auf ihre Geschwister. Sine hockte auf einen Stuhl. Seine Knie waren angezogen und die Fersen stützten an der Sitzfläche ab. Er war immer unbeeindruckt von Chesem Bas Streitereien. Doch anstatt K’vara war diesmal Mikulas seine Kontrahentin. „Was ist los?“ Sofort waren die beiden still. Mikulas setzte einen flehenden Blick auf. Sie wollte etwas. „Es geht um Vaters Asche!“, meinte Sine trocken. Mira spürte schon wieder Tränen in den Augen. Sie blinzelte sie fort. Sie wusste, dass Chesem Ba einen Scheiterhaufen errichten hatte lassen. Er war jetzt der Wüstenvogel, solange niemand von ihnen Kinder haben würde und sie aus ihnen ihren Nachfolger wählen konnte. Plötzlich wurde ihr flau im Magen. Sie sollte Kinder bekommen! Sie wusste nicht einmal mit wem. Alles war jetzt so anders. „Ich will mitkommen!“, verlangte Mikulas. Mira runzelte die Stirn. „Das ist ausgeschlossen!“, erwiderte Chesem Ba streng. Mikulas stemmte die Hände in die Hüften. „Ich bin kein Kind mehr!“ Mira hatte das Gefühl, dass sie genau jetzt mehr denn je, wie eines wirkte. Sie waren doch alle noch Kinder. „Ich werde Vaters Asche in die Wüste tragen!“, behauptete Chesem Ba. Mira seufzte. „Kura Sin und Meranaa dürfen auch mit. Dabei sind die nur Höflinge. Das war schließlich unser Vater!“ Sine warf ihr einen flehentlichen Blick zu. Sie musste ein Machtwort sprechen. Sie wollte nicht über ihre Geschwister herrschen. Aber genau das war jetzt ihre Position. „Am besten wir bilden eine lange Karawane durch die Wüste, wo die ganze Stadt mitpilgert“, murrte Chesem Ba. Mira fuhr sich durch die Haare. Alle Augen waren jetzt auf sie gerichtet. Ihr Kopf begann zu pochen. Sie seufzte. „Es werden nur vier sein, so wie es die Tradition verlangt“, murmelte sie. Sie konnte sehen, wie sich die Enttäuschung in Mikulas Gesicht spiegelte. „Mikulas, du gehst statt mir!“

Er zitterte. Seine Finger bohrten sich in Bals Fell. Das Reittier schien es zu ignorieren. Er zerrieb die Haare zwischen seine Fingerspitzen. Noch einmal sah er das Feuer vor sich, das ihm Tränen in die Augen getrieben hatte, die sowieso geflossen wären. Der Scheiterhaufen war überwältigen gewesen. Die ganze Nacht hatte Feuer gebrannt. Er und Sine waren all die Zeit dort gestanden. Auch Mira hatte versucht wach zu bleiben. Doch irgendwann war sie heimlich verschwunden, um in ihr Bett zu sinken. Sie hatten zu zweit die Asche zusammen geklaubt. Es war erschreckend wie wenig übrig geblieben war. Das Bisschen war einmal ihr Vater gewesen. Er würde auch nicht mehr sein, wenn das Feuer ihn verschlang. Stumm hatten sie die Urne gefüllt. Chesem Ba hatte sich nicht nach reden gefühlt und Sine war es scheinbar ähnlich gegangen. Chesem Ba hatte sich lange eingeredet, dass es eine Arbeit war, die nun mal getan werden musste. Doch er konnte lange nicht verdrängen, dass diese Asche ein Teil seines Vaters war. Sein Vater klebte noch in seinen Haaren und pickte auf seinen Kleidern. Er hatte sich in seine Haare festgesetzt. Chesem Ba schluckte. Später würde er ihn mit dem Staub der Wüste abspülen.
Die Sonne brannte heiß auf sie herunter. Zusammen mit Kura Sin hob er das schwere Gefäß hinunter. Sie trugen es zum Rand der Klippe. Jetzt blickte er zu Mikulas auf, die ihnen gefolgt war. Nur Meranaa hielt ein wenig Abstand. Chesem Ba zog seine Klinge. Sie war heiß von der Sonne. Zu dieser Tageszeit sollte man nicht in der Wüste sein. Chesem Ba dachte an den Abend, an das kühlende Bad und an das Wasser, dass über seine sonnenverbrannte Haut gleiten würde. Dann war es endgültig vorbei. Dann würde ein neues Leben anfangen. Er schnitt die Schnüre, die den Deckel an dem Gefäß befestigten entzwei. Kura Sin trat ein paar Schritte zurück. Es gab keine fixe Regel, nach der dieses Ritual abgehalten werden musste. Niemand würde über diese Minuten reden. Niemand würde von den Tränen in seinen Augen berichten oder von den Ekel, den Meranaa wohl empfunden musste. Nach einer Weile griff Mikulas nach dem Deckel und hob ihn an. Sie musste wohl allen beweisen wie stark sie war, wie wenig ihr das alles ausmachte. Sie stockte kurz, weil sie nicht erwartet, hatte, dass der Deckel so schwer war. Schnell ließ sie ihn auf den Stein sinken. Eine lange Zeit blickten sie auf die graue, fettige Asche. Mikulas begann an ihren Lippen zu kauen. Sie pustete in das Gefäß. Ein Teil der Asche flog auf. Dann musste sie husten.
Chesem Ba war durstig. Die lange Zeit in der Sonne hatte ihn ausgetrocknet, hatte jeden entbehrlichen Tropfen aus seinem Körper gezogen. Trotzdem blieb er reglos neben dem Gefäß stehen. Mikulas hatte stumm zu weinen begonnen. Doch die Tränen trockneten sofort auf ihrer Wange. Schließlich trat Kura Sin vor. Seine Hände umklammerten den Vasenrand. Er versetzte der Vase einen Stoß. Sie zerbrach, als sie auf den Boden auftrat. Asche entleerte sich auf den Fels. Er musste husten, weil ein Teil aufgewirbelt wurde. Kura Sin stieß die Scherben weiter, bis sie über den Klippen Rand fielen. Kurz darauf hörten sie, wie die Reste auf den Boden zerschellten. Dann versuchte Kura Sin einen Großteil der Asche nachfolgen zu lassen. Im Fall verteilte sich die Asche. Sie erfüllte die Luft. Chem Bassa würde eins werden mit dem Wüstensand. Sein Vater war zu der Geliebten des Wüstenvolkes zurückgekehrt. Die Wüste hatte ihn aufgenommen. Sie war die geduldigste aller Geliebten gewesen. Auch er würde diesen Weg einmal gehen. Ein dicker Kloß begann sich in Chesem Bas Hals zu bilden. „Lass das, gefälligst! Den Rest wird der Wind vertragen!“, rief Meranaa entnervt. Kura Sin stockte. Er atmete schwer. Dann wirbelte er herum und eilte zurück zu den Reittieren. Chesem Ba legte eine Hand auf Mikulas Schulter. Nach ein paar Sekunden ließ er sie wieder sinken und ging zurück zu Bal. Mikulas würde kommen, wenn sie bereit war.


© lerche


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