Mira schreckte hoch, als sie die Schritte hinter sich hörte. Doch als sie Maskas lächelndes Gesicht sah, war sie wieder beruhigt. Sie konnte sogar ein wenig lächeln. „Bist du auch gekommen, um ihn zu sehen?“, fragte sie, ohne eine Antwort darauf zu erwarten. Maska schüttelte leicht den Kopf. „Ich wollte dich sehen.“ Sie setzte sich neben ihr auf einen Stuhl. Mira war ein wenig verwirrt. Doch langsam würde sie sich an den Gedanken gewöhnen müssen. Maska hob ihre Hand und strich damit über ihre Wange. Das Gefühl von ihren Fingerspitzen auf ihrer Haut war seltsam. „Ich sehe dich!“, meinte Maska. Mira blickte schnell weg. Sie wollte solche Sachen gar nicht wissen. Sie wollte nichts über ihre Zukunft wissen, denn sie wusste, sie würde ihr nicht gefallen, zumindest nicht für diesen Augenblick. „Du brauchst dir keine Sorge machen, wegen der Bürde, die dein Vater dir geben wird. Er hat weise gewählt!“ Mira lachte ein wenig schrill. Maskas Hand zuckte zurück. „Wie willst du andere davon überzeugen, wenn du es selber nicht glaubst?“ Mira schüttelte den Kopf. Sie stand auf, weil sie nicht mehr ruhig sitzen konnte. Sie wollte jetzt nicht darüber sprechen, nicht in diesem Raum. „Ich will ihn doch einfach nicht verlieren!“ Plötzlich war der Raum viel zu eng und dunkel. Sie lief hinaus und es kam ihr vor wie eine Befreiung.
Noch immer hingen die Gerüche von Krankheit und Tod in der Luft. Doch schienen sie hier nicht ganz so greifbar und erdrückend. Maska legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte instinktiv zusammen. „Das war nicht abgemacht!“, schleuderte sie Maska entgegen. Die Frau blieb dabei völlig ruhig. Wieso konnte sie nicht so sein? Wieso konnte sie nicht alle Gefühle und Regungen von außen nach innen stülpen? Sie musste das Lernen. Sie wischte sich über ihre tränennassen Augen. Doch jetzt im Moment wollte sie noch einmal schwach sein. Dankbar nahm sie die Umarmung an, die Maska ihr anbot.

Goscha blickte auf, weil Sin plötzlich unruhig wurde. „Was ist los?“ Doch der Misch antwortete nicht. Dafür stand Miandra auf. Langsam ging sie zur Tür. Goscha ließ das Messer sinken mit dem sie gerade eben noch Obst für Marmelade geschnitten hatte. Sie merkte gar nicht, dass Sin sich schon wieder an einer Frucht vergriff. Miandra trat ein paar Schritte in die Dunkelheit hinaus. Goscha hatte es plötzlich eilig ihr zu folgen. „Sind… Kommen sie?“ Miandra zuckte mit den Schultern. „Ich glaube schon! Ich spüre etwas.“ Eine unbändige Vorfreude machte sich in Goscha breit. Die Früchte waren plötzlich vergessen. Wie lange war es her gewesen, dass sie Vasa Rem gesehen hatte? Es war eine Ewigkeit. Sie wünschte sich, dass sie auch spüren könnte, wenn er käme. Aber im Gegensatz zu den anderen, hatte sie offensichtlich keinerlei magische Kräfte. Sie hatte nur Sin. Der Misch stürzte sich plötzlich in die Dunkelheit. Kurz darauf hörte sie Vasa Rems Stimme, die den Misch freudig begrüßte.
Nabo rückte ein Stück vom Tisch weg und legte eine Hand auf seinen Bauch. „Ihr kocht viel zu gut. Ich hab viel zu viel gegessen.“ Goscha lächelte verlegen. Selbst wenn Nabo in der Mehrzahl gesprochen hatte, wusste sie, dass das Kompliment ihr galt. Er lächelte Miandra an und küsste ihre Wange. Goscha blickte automatisch weg. Wenn sie zusah, wie die beiden sich küssten, hatte sie immer das Gefühl, dass sie ein geheimes Gespräch belauschte. „Ich glaube, ein Spaziergang wäre jetzt genau das Richtige!“ Goscha spürte, wie Vasa Rem unter dem Tisch nach ihrer Hand griff. Nabo schob den Sessel zurück und stand mühsam auf. Miandra war schnell an seiner Seite. Sie lächelte glücklich. „Ich kann das alleine“, murmelte Nabo fast verärgert und doch ließ er sich trotzdem helfen. „Seit ihr sicher, dass ihr in die Dunkelheit hinaus wollt?“ Nabo nickte bestimmt. „Der Himmel ist heute klar. Man kann die Sterne sehen. Das wird sicher ganz romantisch!“ Er zwinkerte Miandra zu. Vasa Rem begann zu grinsen. Miandra ließ ihn einfach stehen und huschte zu ihren Schuhen. Nabo humpelte inzwischen zur Tür. Dann machte er eine lockere Handbewegung. Eine Flamme entstand über seiner flachen Hand. „Notfalls habe ich ja noch das hier: die Flamme unserer Liebe!“ „Alter Charmeur“, knurrte Miandra, während sie ihm die Stiefel hinschob. Dann schob sie den einen auf seinen kaputten Fuß.
Goscha blickte eine ganze Weile auf die verschlossene Tür. „Habt viel Spaß gemeinsam! Wir kommen sicher nicht so schnell wieder zurück!“, hatte Miandra noch gerufen, bevor sie die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Schließlich stand sie auf und begann das Geschirr zusammen zu stellen. Vasa Rem legte eine Hand auf ihren Arm. „Lass das! Das kann ich auch machen!“ Sie nickte leicht, während ihre Hände hinab sanken. Sie kam sich irgendwie hilflos vor. Vorsichtig strich Vasa Rem über ihre Wange. Dann küsste er ihren Mund. Goscha zuckte ein wenig zurück. Sie löste sich schnell von Vasa Rem und lief zum Regal. Dort kramte sie zwei Marmeladegläser hervor. „Ich habe noch was für dich! Das hatte ich fast vergessen!“ War die kleine Falte auf Vasa Rems Stirn schon immer da gewesen? Vorsichtig griff er nach einem Glas. „Ist das… ist das Marmelade!“ Sie nickte fast stolz. Sie liebte diese Freude in seiner Stimme. Er lächelte leicht und stellte dann die Gläser auf den Tisch ab.
Plötzlich schlossen sich seine Arme um sie. Ihre Hände tasteten nach seinem Oberkörper. Sie drückte sich fest an ihn. Dann begann sie zu schluchzen, ohne es wirklich zu wollen. Was wollte sie überhaupt? Manchmal konnte sie es einfach nicht sagen. „Wann wirst du für immer bleiben?“ Plötzlich begann auch er zu weinen. Sein Oberkörper bebte heftig, doch als sich Goscha zu lösen versuchte, hielt er sie nur noch fester, so wie ein Ertrinkender, der sich an ein Stück Holz klammerte, dass sich langsam mit Wasser tränkte. „Ich hoffe… ich hoffe bald, aber … aber ich glaube es nicht!“ Durfte sie ihm einen Vorwurf machen? Er spürte den Schmerz doch auch. Er musste die Wut spüren. Die Welt hatte Regel, die sie nicht mehr verstand. Alles hatte sich seltsam verzerrt. „Lass uns irgendwo hingehen, wo wir zusammen sein können!“ Vasa Rem schüttelte den Kopf. „Wir sind hier zusammen!“ Sie drückte sich jetzt doch weg und Vasa Rem ließ locker. Er stolperte ein Stück nach hinten. Seine Hand ergriff den Stuhl. Polternd ließ er sich darauf sinken. „Ich würde nichts lieber als das. Und… und ich glaube, ich kenne einen Ort, wo wir hingehen können. Aber nicht jetzt! Ich kann nicht…“ Goschas Hände griffen nach der Stuhllehne. Sie wusste nicht, was sie mit dieser Information anfangen sollte. „Wie meinst du das?“ Sie spürte das sanfte Gewicht von Sin auf ihrer Schulter. Vasa Rem vergrub sein Gesicht in den Händen. Goscha wurde plötzlich neugierig. „Wie meinst du das?“, fragte sie noch einmal nach. Vasa Rem seufzte. „Ich muss meine Ausbildung zu Ende bringen. Das habe ich versprochen!“ Doch damit wollte sich Goscha plötzlich nicht mehr zufrieden geben. Was verschwieg er ihr? „Wem versprochen?“ Vasa Rem schüttelte den Kopf. „Meinem Vater! Er hat gesagt, ich soll ihm erst wieder unter die Augen treten, wenn ich ein vollwertiger Magier bin.“

Sie tastete nach seiner Hand. Sie fühlte sich warm und weich an. In dem Moment glaubte sie das absolute Glück gefunden zu haben. Trotzdem musste sie es jetzt zerstören. Sie versuchte ein paar Mal das Wort zu ergreifen. Satzfragmente huschten durch ihren Kopf, während sie Bilder in den Sternen so weit über ihnen suchte. „Ich muss mit dir reden!“ Nabo nickte. Sie erahnte mehr, dass sich sein Kopf bewegt haben musste. „Ich glaube, ich weiß, was du mir sagen willst!“ Miandra wandte sich von ihm ab und blickte jetzt in den dunklen Wald hinein. Für eine Zeit lang war die Luft nur von den seltsamen Geräuschen des Waldes erfüllt, von dem sanften Rascheln der Blätter und den leisen Rufen der Nachttiere. „Wieso kannst du nicht damit aufhören?“ Nabo lachte leise. Er lehnte sich zurück und ließ seinen Oberkörper ins Gras sinken. „Das wäre so, als würde ich dich darum bitten aufzuhören eine Frau zu sein!“ Sie presste ihre Lippen zusammen. „Ich kann nicht mein Wesen verleugnen!“, fügte Nabo hinzu. Dann hörte sie ihn seufzen. Ihre Hand tastete zu seinem Oberkörper. Ihre Finger fuhren über seine Brust. „Irgendwann musst du dich entscheiden, zwischen der Stadt und mir!“ Nabo seufzte wieder. „Der Tag, an dem ich dich verliere, werde ich sterben. Ich bin noch nicht bereit zu sterben, nicht so!“ Miandra blinzelte Tränen weg. Sie hoffte, dass er es nicht sehen konnte. Nabo sagte immer solche Sachen. Sie wollte sich nicht mehr davon bewegen lassen. Trotzdem füllten sich ihre Augen mit salzigen Tränen.
„Ich weiß nicht, wie lange ich noch in der Stadt bleiben kann!“ Miandra schreckte aus ihren trüben Gedanken hoch. „Wie bitte?“ Sie spürte seine Hand auf ihrem Oberschenkel. Ihre Finger begannen wie automatisch über seinen Rücken zu streicheln. „Es ist wegen Kalo. Der Krieg rückt immer näher. Die Stadt hat schon lange zum Prodeln begonnen. Das Attentat auf den Kaiser hat die Situation nicht besser gemacht. Kalo möchte uns alle in die Erlösung führen!“ Sie hörte ein verächtliches Lachen. Miandra kannte Kalo nur aus Nabos Erzählungen. Doch bei denen kam er selten gut weg. „Kalo fürchtet meine Machenschaften. Hat er mich vor zwei Jahren noch für einen exzentrischen Krüppel gehalten, sieht er vielleicht jetzt die wahre Gefahr, die von mir ausgehen könnte.“ Sie merkte, dass Nabo mit den Schultern zuckte. Dann begann er plötzlich zu lachen. „WAS?“ Nabo verstummte nach einer Weile. Er stemmte sich hoch und küsste sie auf die Stirn. „Dabei bin ich doch wirklich nur ein exzentrischer Krüppel!“
Seine Küsse waren süß und sanft. Doch es blieb bei den Küssen. Miandra hatte das Gefühl, dass sein Geist irgendwo abseits wanderte. Sie fragte sich, ob es sich auszahlte wütend zu werden. „Du machst mich eifersüchtig!“ Er ließ sich wieder ins Gras sinken und sie legte sich neben ihn. Beide blickten hinauf in den sternenklaren Himmel. „Wieso?“ Seine Finger verkrallten sich mit ihren. „Weil du ganz woanders bist!“ Sie spürte wie er leicht nickte. „Mir geht etwas nicht aus den Kopf!“ Sie küsste seine Wange. „Es ist die magische Aura, die ich hier spüre!“ Miandra rollte zur Seite und stützte ihren Oberkörper am Arm auf. „Du meinst dieses magische Wesen, dass Goscha auf den Fuß folgt.“ Sie runzelte die Stirn, als Nabo kryptisch den Kopf schüttelte. „Nicht nur, das ist ja das Seltsame!“ „Wie meinst du das?“ Nabo stemmte sich hoch. Er zog sein kaputtes Bein an und stemmte sich dann mühsam hoch. „Wir sollten wieder zurück! Die beiden machen sich vielleicht schon Sorgen.“ Sie war in wenigen Sekunden auf den Beinen und stemmte die Hände in die Hüften. „Verdammt Nabo, das kannst du nicht machen?“ Er schien nicht zu begreifen, was sie meinte, oder wollte ihr nicht zeigen, dass er begriff. So war er oft. „Du kannst mich nicht rauslocken und dann im Regen stehen lassen!“ Er stampfte langsam weg. „Nabo!“, rief sie drohend. Er erstarrte. „So viele sind ja nicht mehr übrig!“, murmelte er.

Er fröstelte. Seine Hand fuhr neben sich. Doch der zweite Teil vom Lager war leer. Er zog die Füße an sich und setzte sich auf. Es war noch dunkel. Die Dämmerung würde erst in ein paar Stunden einsetzen. Er hatte ein gutes Zeitgefühl. Vorsichtig erhob er sich und zog dabei die Decke über seine Schultern. Dann schlich er zur Tür. Mit einer flüchtigen Handbewegung brachte er die Tür dazu zu schweigen, wenn er sich hinaus schlich und in das taunasse Gras trat.
Goscha sagte nichts, als er sich an sie schmiegte. Ihr Blick war starr gegen den Himmel gerichtet. Seine Hand fuhr unter der Decke hervor und griff nach ihrer. Sie war eiskalt. „Komm her, lass dich wärmen!“, murmelte er. Sie reagierte nicht wirklich. Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Er spürte ihr Herz heftig schlagen. Sein Kopf legte sich auf ihre Schulter. Er sog ihren Duft ein. „Sie haben die Leichen verbrannt“, meinte sie plötzlich. Er nickte leicht. Er wusste, dass diese Sachen herausmussten, besser früher als später. Sie blickte ihn noch immer nicht an. „Riesige Scheiterhaufen aus Leichen und Holz. Man konnte sie nicht vergraben. Es waren so viele so viele Tote!“ Sie griff nach seinem Arm und drückte zu. Es war ein starker Griff. „Manche ließ man auch einfach liegen! Niemand hat sich um sie gekümmert.“ „Schon gut! Das ist jetzt weit weg!“ Doch Vasa Rem hatte plötzlich Angst, dass diese Bilder für Goscha näher sein könnten, als die wirkliche Welt. Sie schüttelte leicht den Kopf. „Ich verstehe das nicht! Ich verstehe das nicht!“
Er küsste ihr Gesicht. Langsam kam wieder Wärme in ihre Wange. Sie ließ alles mit einer erschreckenden Gleichgültigkeit über sich ergehen. Es tat ihm weh sie so zu sehen. Er fragte sich, wie oft sie alleine mitten in der Nacht hier draußen saß und ins Nichts starrte. Er strich über ihr Haar. „Ich liebe dich Goscha! Ich halte dich fest. Ich lasse nicht zu, dass du in diesen Abgrund versinkst!“ Er blinzelte Tränen weg. „Sieh mich an Goscha!“ Er musste den Satz ein paar Mal wiederholen, bevor sie reagierte. Dann nahm er ihr Gesicht und küsste ihren Mund. Es war so entsetzlich schön sie zu küssen. Vasa Rem hatte sich nie so richtig viel aus Frauen gemacht. Er hatte nie weiter darüber nachgedacht, was es bedeutete Magier zu sein. Manche hatten sich heimlich aus der Gilde geschlichen und sich mit Frauen getroffen, die sich leicht hergaben. Manche hatten auch daraus eine Religion gemacht. Es gab immer die einen oder die anderen. Vasa Rem war es immer egal gewesen. Doch jetzt war alles anders. Goscha war anders. Die anderen Frauen waren ihm noch immer egal. Er wollte nur sie lieben. Er wollte sie, so wie Nabo Miandra wollte. Er drückte sie fest an seine Brust, so dass sie sein Herz für sie schlagen hören musste.
Er küsste ihren Hals. Seine Hand griff nach ihrer Wange. Sie drehte sich zu ihm. Sie küssten sich auf die Lippen. Dann zog sie langsam ihre Füße aus dem Bach. Er konnte nicht aufhören sie zu küssen. Ihre Haut war so weich. Irgendwann begann sie zu zittern. Er hielt abrupt inne. „Hast du Angst?“ Sie schüttelte den Kopf. Er wollte seine Hand wegziehen, doch sie hielt ihn fest. „Ich bin eine Frau, kein Mädchen mehr, das davor Angst haben müsste. Hör nicht auf damit!“ Sie kroch ein Stück näher zu ihm heran, so dass ihre Bäuche sich fast berührten. „Bitte!“ Dann drückte sie sich an ihn. Doch er hielt trotzdem inne. „Wenn ich dich jetzt hier liebe, dann werde ich vor Sehnsucht vergehen!“ Goscha lächelte leicht. In der Dunkelheit konnte man es kaum erkennen. „Das heißt doch, dass du bald wiederkommst!“ Er schluckte und nickte dann. „Das ist gut! Denn ich warte auf dich. Ich kann nicht ohne dich sein! Ich kann nicht… Ich bin durch das Feuer gegangen und durch Blut gewatet, nur um hier her zu kommen, zu dir. In unser Paradies! … Küss mich!“

Sie schreckte hoch. „Wieso versteckst du dich in der Dunkelheit!“ Mira lächelte, als sie Maskas Stimme erkannte. „Sie gibt mir Sicherheit!“ Maska trat ein wenig näher. Mira zog ihre Knie an. Sie griff nicht nach der Öllampe und den Zündern. Maska würde sie auch so in die Dunkelheit folgen. Sie stützte ihr Kinn auf. Maska setzte sich neben sie. Sie redeten nicht. Mira dachte an den schönen Abend, den sie gemeinsam verbracht hatten, als wären sie eine normale Familie. Die Löcher hatte man kaum gemerkt. Doch jetzt erschienen sie Mira wieder riesengroß. Ihre Finger griffen zu dem Stein, der um ihren Hals hing. Kiras hatte ihn ihr gegeben. Sie hatte ihn aus Höflichkeit gleich angelegt. Doch seine Schwester hätte eher so ein schönes Geschenk verdient. Sie war doch eigentlich nichts für ihn. „Du wirst bald ins Licht treten müssen!“ Mira blinzelte verwirrt. Sie spürte, wie sich Maskas Hände um die ihren schlossen. „Du wirst das Licht sein!“ Mira wollte sich für eine Sekunde aus dem Griff lösen, doch zögerte sie dann. „Du wirst das Licht für alle sein. Das Licht ist immer in Dunkelheit getränkt.“ Mira löste sich jetzt doch. Sie stand auf. Eine Unruhe erfüllte sie. „Was ist, wenn ich nicht hell genug bin? Wenn die Dunkelheit mich auffrisst?“ Sie glaubte zu erkennen, wie Maskas Schatten den Kopf schüttelte. „Wenn ich die Augen schließe, bin ich hell erfüllt von dir!“ Mira schluckte. Sie fuhr sich mit der Hand zum Mund. Für einen Augenblick blinkte eine Erkenntnis in ihr auf, die genauso schnell wieder verschwand. Hatte sie wirklich das gedacht? „Du solltest gehen. Ein Stern beginnt zu erlischen! Im Morgengrauen wird er verschwunden sein.“ Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Plötzlich war ihr Kopf nur von einem Gedanken erfüllt: Mein Vater stirbt!
Als sie keuchend in das Krankenzimmer kam, sah sie, wie Mikulas am Bett ihres Vaters kniete und den Kopf auf das Leinen gelegt hatte. Sie schlief. Sonst saß nur noch Sine in der Ecke. Sie wechselten einen schnellen Blick. Sine stand vorsichtig auf und schlich zu ihr zu Tür. Sie hatten beide beschlossen Mikulas schlafen zu lassen. „Du weinst und bist völlig außer Atem!“ Die Feststellung verbarg eine Frage. Mira nickte. Auf einmal musste sie ihren Bruder umarmen. Er erwiderte ihren Griff. Dann lösten sie sich von einander. „Er wird sterben!“ Sine nickte nur. Natürlich wussten alle, dass er sterben würde. „Diese Nacht!“, fügte sie hinzu. Sine runzelte leicht die Stirn. „Maska hat es mir gesagt! Im Morgengrauen wird sein Stern erlöschen.“ Sine zuckte zurück. Er hob die Hand vor den Mund. Dann warfen beide einen verstohlenen Blick in das Krankenzimmer. Mira konnte jetzt den Gestank nach Krankheit noch stärker wahrnehmen. Die Duftkräuter schienen auf einmal nicht mehr zu wirken. „Sag ihr nichts!“ Mira nickte. Für Mikulas würde schon früh genug die Welt zusammen brechen. Es würde für sie alle die Welt zusammen brechen. „Ich hole Chesem Ba!“ Sine stürzte ohne auf eine Antwort zu warten aus dem Haus. Mira nickte nur. Sie fühlte sich jetzt völlig ausgelaugt. Kurz hatte sie das Gefühl keinen Schritt mehr tun zu können. Die Schwäche verging nur langsam. Dann stolperte sie in das Krankenzimmer. Vorsichtig ließ sie sich neben Mikulas nieder. Die Trauerfrauen waren schon gekommen. Eine Weile beobachtete sie Mikulas Gesicht in den flackernden Schein der Kerzen. Nie wieder würde es so unschuldig aussehen. Sie durfte nicht so negativ denken, gerade sie nicht. Dazu wog die Verantwortung zu schwer auf ihren Schultern. Schließlich wandte sie sich ihrem Vater zu. Suchend tasteten ihre Finger nach seiner heißen Hand. Die Haut spannte trocken über die Knochen. Ein innerer Feuersturm schien ihn zu verzerren. Das Feuer der Wüste war gekommen. Irgendwann würde es alle holen. In ihrem Inneren revoltierte etwas. Es war zu früh.
Die Finger ihres Vaters begannen sich zu bewegen. Sie schlossen sich um Miras Hand. Sie blickte auf zu seinem Gesicht. Die Augen waren weit offen. Was sahen sie? Für eine Ewigkeit schien sie dieser Blick zu fesseln. Dann löste er sich von ihr und glitt zu Mikulas. Mira stemmte sich ein wenig hoch und legte ihre Knie zu seinem Ohr. „Sine und Chesem Ba werden gleich da sein! Wir alle sind da!“ Seine trockenen Lippen bewegten sich, doch sie konnte das leise Krächzen nicht als Worte identifizieren. Sie drehte sich um. Ihre freie Hand griff nach einer Wasserschüssel, die immer bereit stand. Ihre Finger fuhren hinein. Vorsichtig benetzte sie seine Lippen mit wenigen Tropfen. Er lächelte. Vielleicht war es sein letztes Lächeln.
Die beiden Jungs kamen keuchend herein gestürzt. Für einen Moment konnte Mira nicht sagen welcher welcher war. Chesem Ba und Sine waren eineiige Zwillinge. Selbst wenn man als Schwester gelernt hatte die zwei zu unterscheiden, war sie sich manchmal nicht sicher. Mikulas schreckte hoch von dem Lärm, den die zwei machten, als sie sich keuchend zum Bett bewegten. „Was ist denn los?“, fragte Mikulas träge. Mira schüttelte den Kopf. Chesem Ba und Sine blickten steif auf ihren Vater. Mikulas schien auf eine seltsame Art und Weise zu verstehen. Eine Träne löste sich von ihren Augen. Ihre Finger krallten sich um die Hand ihres Vaters. „Ich will nicht, dass du gehst!“
Das Feuer erstarb mit den ersten Strahlen der Sonne. Es schwebte noch wie ein Seufzer durch die Luft, eine letzte Botschaft an alle, die zurück geblieben waren. Der Wüstenwind würde ihn wegblasen. Mira sank zurück. Lange, so kam es ihr vor, sprach niemand etwas. Mira stand mit einem Ruck auf. Sie starrte auf die seltsame Gestalt hinab, die sie alle für Stunden umkreist hatten. Das sollte ihr Vater gewesen sein? Irgendwie hatte dieser Körper alles Menschliche verloren. Ihr Vater hatte sich heimlich davongestohlen. Sie hätte erwartet, dass er ihr zumindest eine Botschaft hinterlassen würde. Aber da war nichts, was die Leere, die in ihr entstand, füllen könnte. Sie wischte sich über die Augen. Jetzt war sie das Licht. „Ich… ich sage den Priestern…“ Sie schaffte es nicht, den Satz zu Ende zu sagen. Sine sprang auf. „Ich kann das machen!“ Doch Mira schüttelte den Kopf. „Nein, das kann nur einer!“ Sie wusste nicht, woher sie die Stärke nahm, so mit ihrem Bruder zu sprechen. „Nur der Wüstenvogel kann der Bevölkerung die Nachricht überbringen. Das war immer schon so!“ Chesem Ba blickte auf. „Aber du bist noch immer unsere Schwester!“ Sie lächelte leicht. „Heute Abend bin ich eure Schwester und dann werde ich euch brauchen, aber jetzt…“ Sie wandte sich zum Gehen und niemand hielt sie auf.
Sie stand stock steif auf der Tribüne, als die Glocken läuteten. Es war noch so früh, dass die Sonne noch nicht über die Stadtmauern gekrochen war. Sie wartete. Es war eine entsetzliche Zeit. Wie hatte sich ihr Vater gefühlt, als er genau an diesen Platz stehen hatte müssen, um genau das zu tun, was sie jetzt tun musste. War er stark gewesen? Sie blinzelte die Tränen aus den Augen. Irgendwo glaubte sie, dass sie froh sein sollte. Sein Leiden war jetzt vorbei. Er hatte nach all den Jahren den Weg ihrer Mutter genommen. Ihre Finger schlossen sich um den langen Holzstab. Diesmal hielt sie ihn nicht, sondern er hielt sie. Sie fröstelte und sehnte sich nach der Sonne. Die ersten Menschen begannen sich zu versammeln. Sie vermied es in ihre Gesichter zu sehen. Viele musste sie kennen. Chema war keine große Stadt, gerade groß genug. Chema war die rote Stadt. Sie wollte ihre Stirn gegen den Stab lehnen, doch durfte sie das nicht. Was sollte sie tun, wenn die Trauer sie überwältigte? Was sollte sie jetzt tun? Sie hatte so viel Angst. Die war auch heimlich in ihr Herz gekrochen. Nach einer Ewigkeit ertönten die Glocken zum zweiten Mal. Das war ihr Zeichen. Sie öffnete ihre Augen und ließ zum ersten Mal ihren Blick über die Menge schweifen. Sie schluckte. Dann setzte sie den Satz an. Doch ihre Stimme war leise und brüchig. „Ich… stehe hier als euer… als der Wüstenvogel.“ Sie stockte. Wie lange hätte sie sich auf diesen Moment vorbereiten können. Bedeutungslose Erinnerungsfetzen schwebten durch ihren Kopf. „Chem Bassa ist tot!“ Das Wort „tot“ hallte immer wieder und wieder nach. Es war ein Unding. Ihre Knöchel traten weiß hervor. Plötzlich konnten ihre Füße sie nicht mehr länger tragen.


© lerche


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