K’varas Hände klammerten sich fest um ihre Knie. Sie hatte ihr Gesicht verhüllt, so wie es sich für ein anständiges Mädchen gehörte. Doch eigentlich hatte sie es gemacht, damit man ihr nicht zu sehr ansah, wie nervös sie eigentlich war. Hunderte Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Wäre es nicht besser gewesen, sie wäre gleich mit dem Fremden mitgegangen. Sie wusste nicht einmal, wie er hieß. Wahrscheinlich würde er sich gar nicht an das Versprechen halten, was sie ihm am Ende unter vielen Flüchen abgerungen hatte. Sie begann an ihren Lippen zu kauen. Sie war ja doch unfähig und naiv. Kiras Blick schien auf ihr zu brennen. Es hatte noch ein paar Stunden gedauert, bis jemand die niedergeschlagene Wache bemerkt hatte. Das war K’varas Glück gewesen. Offensichtlich hatte auch niemand bemerkt, dass sie kurz nicht da gewesen war. Kiras hatte lange geredet.
„Wie heißt du?“ K’vara schreckte hoch. Sie blickte ein kleines Stück hoch und sah in Kiras lächelndes Gesicht. Sie stotterte ihren Namen hervor. Er musste von der Frau gewusst haben. Sie war seine Schwester! Am liebsten hätte sie ihm das ins Gesicht geschleudert. Das war alles so unbegreiflich. „Du warst noch nicht da, als ich das letzte Mal hier war!“ K’vara beeilte sich zu nicken. Seine Freundlichkeit konnte sie nicht beruhigen. So waren doch die Sirunen: äußerlich eine lächelnde Maske und innen drinnen komplett verdorben. Kiras und Vantra waren von einem alten Geschlecht. Da galt das doch noch viel mehr. Aber sie wusste, wie sich eine gute O’vank zu benehmen hatte. Sie trug ihre Maske genauso perfekt wie jeder andere hier. „Hast du Angst vor mir?“ Sie nickte und schüttelte dann gleich darauf den Kopf. Ihre Finger bohrten sich in ihre Knie. „Das brauchst du nicht!“ Er hatte ja keine Ahnung! „Weißt du, was in dem Zimmer im ersten Stock ist?“ K’vara versuchte so verwirrt wie möglich zu wirken. „Welches Zimmer?“ Kiras stand auf und kam ein Stück näher. Irgendwie war es ja absurd. Sie hatte wirklich gehofft, dass sie mit ihm reden könnte. Sie hatte sich alle möglichen Fragen ausgedacht. Aber jetzt stand er vor ihr und in ihrem Kopf drehte sich nur immer wieder eine einzelne Frage, wie sie noch ihren Kopf aus der Schlinge ziehen konnte. „Du weißt sicher welches Zimmer ich meine. Es steht meistens eine Wache davor! Jeder hier weiß doch von diesem Zimmer. Du kannst es ruhig zugeben.“ K’vara blickte mit großen Augen auf. Diese Augen hatten bei ihrem Vater immer sehr geholfen. „Das Zimmer…“ Sie schüttelte schließlich den Kopf. „Was… was ist denn drin?“ Kiras lächelte breit. „Netter Versuch!“ War es zu offensichtlich gewesen? Er lehnte sich gegen den breiten Schreibtisch und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. Langsam begann die Angst in ihr hoch zu steigen. Sie konnte lügen. Alle Sirunen konnten das. Doch gleichzeitig konnten sie Lügen viel besser erkennen als andere und Kiras Blick schien durch alles hindurch zu gehen. Wie lang würde sie dem standhalten? „Du weißt, dass uns etwas gestohlen worden ist!“ K’vara nickte leicht. Die Aufregung war nicht zu übersehen gewesen. Jeder Dummkopf hätte das mitbekommen. Zu leugnen wäre nur verdächtig gewesen. Vantra hatte alle durch das ganze Haus geschickt. „War es etwas aus dem Zimmer?“ Doch sie beantwortete ihre Frage selbst mit einem Kopfschütteln. „Nein, das kann nicht sein… Du hast doch selbst gesagt, dass es bewacht wurde!“ Kiras lächelte verschmitzt. Doch seine Augen wurden schmal. „Du bist nicht dumm!“ Er kam einen Schritt näher. Spätestens jetzt war K’vara davon überzeugt, dass er sie durchschauen musste. Würde er sie auch einsperren, jetzt wo er wusste, dass sie das Geheimnis kannte, so wie sie es mit Maska getan hatten? Für was hielten sie sich eigentlich? Diese Menschen waren echt das letzte! Ihr Herz hämmerte wie wild. Es musste meilenweit zu hören sein. „Du bist fast zu klug für ein einfaches Dienstmädchen!“ Sie hob ein wenig die Schultern an und zog ihren Kopf ein. Dann drehte sie den Kopf weg, so als wären ihr Kiras Worte peinlich. Kiras seufzte. „Kannst du mir sagen, wer in diesem Haus etwas stehlen würde?“ K’vara tat so, als würde sie ernsthaft überlegen. Doch in Wirklichkeit beobachtete sie nur seine Augen. Sie war überzeugt, dass er etwas wusste. Höchste Zeit das sinnlose Geplänkel beiderseits zu einen Schluss zu bringen. „Wenn ich wirklich wüsste, wer es war, dann hätte ich es doch schon längst gesagt. Glaubst du, ich will meinen Job riskieren? Ich brauche schließlich das Geld.“ Kiras Augen wurden schmal bis nur noch Schlitze zu sehen waren. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Sie wusste, dass sie nicht mehr die Naive spielen konnte. „Außerdem würde mich mein Vater ausstoßen!“ Kiras Augen veränderten sich nicht. Dann nickte er plötzlich. „Du hast Recht, das ist lächerlich!“ War es das gewesen? Sie wagte es nicht erleichtert auszuatmen. Minutenlang war es so still, dass man eine Sticknadel auf den Boden fallen hören hätte können. Es war definitiv lächerlich von ihr gewesen, auf das Geheimnis draufkommen zu wollen. Ihre Neugierde würde ihr noch Kopf und Kragen kosten! „Ka… Darf ich jetzt gehen?“ Kiras nickte, so als hätte er keine Kraft mehr. Sie hatten das Mädchen sicherlich Jahre lang in diesem Zimmer eingesperrt. Sie hatte noch nie die Welt gesehen. Keiner wusste etwas von ihr. Wieso hatten sie das Mädchen nicht gleich umgebracht? Das wäre doch noch human gewesen im Vergleich. Sie stand auf mit gesenktem Kopf. Dann streckte sie ihre Hand nach der Türklinke aus. Noch einmal drehte sie sich zurück. Das Spiel war noch nicht zu Ende. „Was ist denn gestohlen worden?“ Kiras blickte auf, so als wäre er gerade in Gedanken versunken gewesen. Er starrte sie von oben bis unten an. „Das geht dich wirklich nichts an!“ Sie seufzte und wandte sich zum Gehen.
„Warte, K’vara!“ Sie zuckte leicht zusammen und drehte sich dann doch noch einmal zurück. In ihrem Inneren schien alles danach zu schreien, dass sie rennen sollte. Es hatte nicht funktioniert! „K’vara, so heißt du doch!“ Sie nickte leicht. Ihre Hand umklammerte die Türklinke, damit sie nicht zitterte. „Wie gefällt es dir hier?“ Sie schluckte den Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte runter. Was sollte diese Frage? Damit konnte sie nichts anfangen. Gab es eine falsche Antwort? Sie nickte wieder leicht. „Es ist gut bezahlt, nicht extrem schwer. Ihr habt viele Bücher.“ Kiras kam ein paar Schritte näher. „Bücher? Magst du Bücher?“ Sie nickte leicht. Auf was wollte er hinaus? „In der Kaiserstadt gibt es viele größere Bibliotheken!“ K’vara nickte nur. Sie wollte hier raus! Was tat Kiras eigentlich gerade? Versuchte er eine normale Unterhaltung zu führen? Das konnte nicht sein. „Ich bin überzeugt in der Kaiserstadt gibt es von vielen sehr viel mehr als hier!“ Damit drehte sie sich um und ging.

Er blickte noch einmal in die Nacht hinaus. Doch niemand war zu sehen. Es war ihm auch niemand gefolgt. Er atmete erleichtert aus. Die beiden Pferde ergriff er kurz unter dem Maul. Jetzt hatte er es fast geschafft. Vorsichtig führte er die Tiere ein Stück in die Höhle. Dann band er sie an einen Felsvorsprung. Die anderen würden weiter drinnen auf ihn warten. Schnell ging er den Gang hinunter. Doch dann musste er noch einmal stehenbleiben. Er konnte kaum fassen, was passiert war. Seine Hände verkrallten sich im Gestein. Das sanfte Echo von Stimmen drang an sein Ohr. Sie waren wirklich da. Er fuhr sich durch die Haare. Dann schlich er um die Biegung. Chesam Ba hatte ein Feuer angezündet. Seine vertraute Gestalt war als Schatten zu sehen. Er stockte kurz. Jetzt hörte er auch das Streitgespräch. Chesam Ba war nicht alleine. Er zog seinen Mundschutz etwas höher und rückte die Kapuze ins Gesicht. Wer auch immer dort war, sollte ihn lieber nicht erkennen.
„Wie lange müssen wir noch warten?“ Das war eindeutig eine Frauenstimme. „Gar nicht, du kannst gerne wieder gehen“, knurrte Chesam Ba. Die Frau ließ ein unzufriedenes „Humpf!“ hören. Er legte seine Stirn in Falten. Was machte eine fremde Frau da? Doch Chesam Ba würde schon eine Erklärung liefern. Er wusste, was er tat. Deswegen hatte er ihn ins Vertrauen gezogen. Vorsichtig trat er in den Schein des Feuers. Die Frau zuckte überrascht zusammen. Chesam Ba machte keine Reaktion, so als hätte er gewusst, dass er schon länger da gestanden hatte. „Sind wir jetzt endlich komplett!“ Chesam Ba blickte zu der Frau auf. „Wie oft soll ich es dir noch sagen? Es gibt kein wir.“ Er starrte zwischen den beiden hin und her. „Wer ist sie?“ Die Frau machte sich ein Stück größer. „Ich habe ihm bei der Entführung geholfen.“ Chesam Ba seufzte. „Du bist mir dauernd im Weg rumgestanden!“ Sie schnaubte ihn an. „Gar nicht wahr!“ „Und was hast du Großartiges geleistet, was ich nicht selbst machen hätte können?“ „Ich hab den richtigen Schlüssel gefunden!“ „Das hätte ich genauso schnell gekonnt, wenn du mich nicht aufgehalten hättest. Du hättest sie fast zum Schreien gebracht!“ „Du auch!“ „Stopp!“ Er hob die Arme. Augenblicklich verstummten die beiden. „Was ist hier los?“ Chesem Ba seufzte. „Sie hat mich erwischt und jetzt werde ich sie nicht mehr los!“ Er runzelte die Stirn. „Wann war…“ Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Er kannte diese Stimme und diese Haltung. „Was du? Ich hab dir deine Geschichte abgenommen!“ Die Frau blickte verstört auf. Doch dann schien auch sie ihn erkannt zu haben. Sie schlug die Hand vor den Mund. „Oh mein Gott! Oh mein… Wieso has du mir nicht gesagt, dass du für Kiras arbeitest?“ Chesem Ba seufzte. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich dich so los würde…“ Kiras zog seine Kapuze nach hinten. „Sie hat mich glatt ins Gesicht belogen!“, beschwerte er sich bei Chesam Ba. Der zuckte nur mit den Schultern. „Es ging um meinen Kopf!“, erwiderte K’vara ohne Reue. „Kann mir jemand mal sagen, was hier überhaupt abgeht!“ Kiras fuhr sich durch die Haare. Dann seufzte er tief. Chesam Ba stand auf. „Am besten machst das du! Ich sehe mal nach den Pferden! Oder hast du Malaks bekommen?“ Kiras schüttelte verstört den Kopf. Chesam Ba legte eine Hand auf seine Schulter. Kiras hielt sie kurz fest. Für einen Moment wollte er protestieren, doch dann ließ er ihn los. Schließlich war es trotz allem sein Plan gewesen.
Kiras suchte nach einem Anfang. Er beobachtete die Linie ihres Schleiers, den sie gelockert hatte, so dass man mehr als nur ihre Augen sehen konnte. „Maska ist meine Schwester! Ich konnte sie nicht in ihrem Gefängnis lassen.“ K’vara zog ihre Knie an. Wie sollte er alles erklären? Er verstand es ja selbst nicht. „Da kommst du aber reichlich spät drauf! Lebt sie schon ihr ganzes Leben lang in diesem Zimmer? Wie kann man so etwas nur machen?“ Kiras seufzte. Sie wusste nicht, wie stark seine Mutter wirklich war. Sie hatte die ganze Familie fest in ihrem Griff gehabt. „Sie hat Chosam Rasam, den zweiten Blick. Wäre sie ein Mann, hätte man sie zu den Zauberern geschickt. Aber so hat man sie für verrückt erklärt! Keine einflussreiche Familie kann sich eine Verrückte leisten! Nicht in diesem Land.“ K’vara sog scharf die Luft ein. Lange hatte man ihm eingeredet, dass Maska zu verstecken das Beste für alle war. Für einen Moment wünschte er sich so gut lügen zu können wie sie. Doch wie sollte er ihr das wahre Ausmaß seiner Gefühle erklären. Er verstand es ja selbst nicht. Aber sie hatte auch nichts über die Schlachtfelder gehört. Sie war in dieser wohlbehüteten Welt geblieben. Der Ekel hatte etwas in ihm verändert. Er hatte ihm ein wenig die Augen für das Wesentliche geöffnet. Was tat er eigentlich hier? Wieso musste er sich rechtfertigen? Er stand auf. Eigentlich wollte er Maska sehen. „Was hat das Zeichen für eine Bedeutung?“ Er runzelte die Stirn. „Welches Zeichen?“ K’vara schob ihren rechten Ärmel hoch. Im flackernden Licht des Feuers waren die Linien nur schwer zu erkennen. Er kam einen Schritt näher und beugte sich zu ihr hinunter. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. „Woher hast du das?“ K’vara blinzelte. „Ich möchte zuerst wissen, was es bedeutet! Da gibst doch eine Bedeutung, oder?“ Er biss sich auf die Lippen. Dann streckte er seinen Arm vor. Unter den Stoff seines Ärmels traten auch weiße Linien hervor. Er hielt seinen Arm neben den ihren. „Chesem Ba hat auch dieses Zeichen. Es ist ihr Zeichen. Woher hast du es?“ K’vara blickte plötzlich weg. „Maska hat es mir in den Arm geritzt!“

Mira schreckte aus ihren Schlaf hoch. Jemand hatte geschrien. Träge rieb sie sich über die Augen. Dann stemmte sie sich hoch und seufzte. Es war nicht das Erste Mal und würde sicher auch nicht das letzte Mal sein. Trotzdem schob sie ihre Beine über die Bettkante. Sie rieb sich über die Augen. Dann stieß sie sich ab. Der Boden war kalt unter ihren Füßen. Das machte sie ein wenig wacher. Sie schob ihre Haare hinter die Ohren. Ihre Hand griff nach dem Tuch, das sie über den Stuhl geworfen hatte, und wickelte es geschickt um ihren Körper. Am Schluss hob sie das eine Ende über ihre Schulter und befestigte es mit einer Spange an ihrer Seite. Wieder hörte sie den Schrei. Es wurde wohl schlimmer. Sie lief los, bevor noch das ganze Haus aufwachte.
Im Zimmer war es dunkel. Mira machte sich nicht die Mühe nach einer Kerze zu suchen. Die Sterne gaben genug Licht, um alle Konturen zu erkennen. Sie stolperte am Bett vorbei. Die Gestalt lehnte gegen das Fenster. Nachdem sie sich sicher war, dass nichts mehr in ihrem Weg lag, lief sie die letzten paar Meter. Dann sank sie auf die Knie. Ihre Hand fuhr sanft zu den Haaren der Gestalt. „Was ist denn los?“ Die Gestalt zuckte zusammen. Sie versuchte zu lächeln. Dann legte Mira einen Arm um ihre Schulter und drückte sie sanft an sich. Sie küsste ihren Scheitel. „Alles ist gut! Hab keine Angst! Alles ist in Ordnung!“, flüsterte sie und wollte damit sich genauso, wie das unglückliche Wesen in ihren Armen beruhigen. „Alles wird gut!“
Mira schreckte hoch. Sie war wohl eingeschlafen. Vorsichtig löste sie ihren Griff ein wenig. Sie gähnte. Verschlafen blickte sie zum Fenster hinaus. Man konnte die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne sehen, die den Himmel verfärbte. Doch der Ball war noch immer hinter den Felsen verborgen. „Die Sonne geht auf“, murmelte sie. Sie strich über die lockigen Haare. Sie blinzelte ein paar Mal dem Licht entgegen. Dann blickte sie wieder auf das zu groß geratene Kind in ihren Armen. Es hatte Tränen in den Augen. „Rot, alles ist rot!“ Mira lächelte. „Das ist, weil die Sonne aufgeht!“ Rot war ihre Farbe der Hoffnung, denn der Horizont schimmerte hier immer rot, wenn die Sonne aufging.


© lerche


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