3 Monate später

Tief in Gedanken versunken lief er den Gang entlang. Er musste noch für den Großmeister verschiedene Bücher aus der Bibliothek holen, bevor er zu ihm zur täglichen Besprechung kam. Noch einmal ging er die Liste durch. Er durfte den Großmeister nicht enttäuschen. Er merkte den Schatten noch bevor er fast in die Gestalt stieß. Im letzten Moment konnte er sich bremsen. Der ältere Herr lächelte milde. „Immer eifrig, wie?“, fragte er nach. Vasa Rem nickte schnell. Er musterte die Robe des Mannes und wurde sogleich ein gutes Stück kleiner. Langsam begann Farbe aus seinem Gesicht zu weichen. Er gehörte zu den obersten Magiern an. Doch das Gesicht des Mannes sagte ihm nichts. Fieberhaft versuchte er sich einen Namen in Erinnerung zu rufen, doch sein Kopf blieb leer. „Wohin willst du?“ „Zur Bibliothek“, antwortete er einsilbig. Der Mann drehte sich zu dem großen Gebäude hin, was den ganzen Innenhofgarten zu überschatten schien. Er legte eine Hand über die Augen. „Ich schätze mal, es stört nicht, wenn ich dich ein Stück begleite!“ Vasa Rem schüttelte den Kopf, selbst wenn er es eilig hatte. Natürlich konnte man so eine Bitte eines höheren Magiers nicht abschlagen. „Und selbst wenn, würdest du es nicht zugeben!“, murmelte der Mann, so als hätte er seine Gedanken gelesen, und lächelte dabei breit. Vasa Rem schluckte. Der Alte begann den Weg hinauf zu humpeln. Irgendetwas schien in Vasa Rems Gedächtnis anzuschlagen, aber es machte noch immer nicht klick. „Der Großmeister kann ruhig auch mal warten!“ Vasa Rem schluckte. Er fühlte sich neben diesem Mann transparent. Stumm ging er neben dem Alten her und versuchte dabei fieberhaft eine Ausrede zu finden, die dem Großmeister genügen würde. „Wie geht es deinen Studien?“ Vasa Rem zuckte mit den Schultern. Er machte sich nicht wirklich die Mühe zu antworten. Es waren ja doch nur hohle Worte. Der Mann blieb auf einem Sonnen beschienen Fleck stehen. „Das sollte ich vielleicht auch lieber den Großmeister fragen, wie?“ Vasa Rem senkte sofort den Kopf. Er wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte. Doch zu seiner Erleichterung setzte sich der Mann wieder in Bewegung.
„Du warst vor etwas weniger als einem Jahr in der östlichen Provinz!“ Vasa Rem stockte und schluckte heftig. Gespräche über die östliche Provinz standen seit die Truppen aus der Kaiserstadt ausgezogen waren unter einem schlechten Vorzeichen. Sie hinterließen einen bitteren Geschmack auf Vasa Rems Zunge. Er wollte nicht an seinen Aufenthalt denken und schon gar nicht mit irgendjemanden darüber reden. Noch immer lächelte der Alte. „Hast du geglaubt, ich wüsste nicht, wer du bist, selbst wenn du nicht weißt, wer ich bin! Ich habe auf dich gewartet.“ Vasa Rem schluckte heftig. Dann schüttelte er den Kopf. „Du bist vor acht Monaten und 23 Tagen in der Provinz abgereist. Die Reise hat 18 Tage gedauert. Du warst dort 16 Tage, einen Tag länger als die vorgeschriebene Zeit und bist entsprechend verspätet wieder heimgekehrt. Aber wer schaut schon bei so einer langen Reise auf einen Tag mehr oder weniger.“ Vasa Rem schüttelte den Kopf. Er konnte nicht glauben, dass der Mann diese Daten besser kannte als er selbst. Der Mann fuhr mit einer Hand zu seiner Schläfe. „Ich merk mir solche Sachen einfach! Dein Bericht war beeindruckend genug, selbst wenn er sicher nicht vollständig war.“ Blut begann in Vasa Rems Gesicht zu steigen. Vor seinen Augen schwebte plötzlich ein Gesicht, das er seit dieser Zeit versuchte zu verdrängen. Plötzlich lachte der Mann. Dann legte er eine Hand auf seine Schulter. „Keine Angst! Der Bericht hat dem Großmeister gefallen. Es ist egal, was ich denke oder zwischen den Zeilen lese. Ich werde es nicht weitersagen. Es will sowieso niemand wissen. Aber ein klein wenig neugierig bin ich trotzdem.“ Vasa Rem biss sich auf die Zähne. „Ich weiß nicht, auf was du hinaus willst!“ Der Mann lächelte und löste seine Hand. Dann drehte er sich zur Sonne zu. „Du solltest nach deinen Büchern sehen. Der Großmeister kann manchmal sehr ungeduldig sein. Wenn er mit dir schimpft, dann sag ihm, Nabo hätte dich aufgehalten!“ Vasa Rem sagte darauf nichts. Es war auch gar nicht nötig. Der Mann humpelte langsam den Weg entlang. Vasa Rem war sich sicher, dass er seinen Blick im Rücken spüren konnte. Langsam fuhr er sich mit der Hand an den Mund. Das war also der berühmte Meister Nabo, die graue Eminenz der Gilde. Es gab kaum jemand, über den der Großmeister so sehr schimpfte wie über diesen Mann und doch schienen sich die beiden näher zu sein, als sonst jemand. Panik überfiel ihn. Er wirbelte herum und rannte zur Bibliothek. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die beiden heckten vielleicht etwas aus. Waren sie draufgekommen, wieso er wirklich länger geblieben war? Ihm wurde ein wenig heiß. Schnell versuchte er den Gedanken zu verdrängen und mit ihm das Gesicht. Was wusste Vasa Rem schon? Er hatte im Grunde nichts Verbotenes getan. Vielleicht war das alles nur ein Test, nichts von Bedeutung. Doch er konnte den leichten eisigen Schauer, der ihm über den Rücken lief, bei dem Gedanken an das Gespräch, nicht ignorieren.

K’vara rutschte auf ihren Unterschenkel hin und her um eine bequeme Sitzstellung ein zu nehmen. Sie saß mit den anderen beiden Dienstmädchen im Garten unter dem großen Sonnensegel, was sie am Anfang der Trockenzeit im Garten aufgespannt hatten. K’vara steckte ihre Nase noch etwas tiefer in ihr Buch. Die anderen beiden redeten über irgendetwas Uninteressantes. Das eine Mädchen hatte sich Sticksachen besorgt. Sorgfältig zählte sie jeden einzelnen Faden des Stoffes um ein schönes regelmäßiges Muster hervor zu bringen. K’vara hatte das früher auch manchmal probiert, aber sie war nicht geduldig genug dazu. Auch wenn ihre Mutter die Decken verwendet hatte, war es K’vara immer vorgekommen, als wären sie auf seltsame Weise schief. Hübsche Stoffe und Kleider interessierten K’vara sowieso nicht sonderlich. Vom Sticken würde man nicht reich genug werden, um durch die Welt reisen zu können. Das war das einzige, was sie darüber wusste.
„Was willst du anziehen, K’vara?“ K’vara blinzelte verwirrt und blickte auf. „Wann?“ Das eine Mädchen kicherte. „Hast du das noch nicht mitbekommen?“ K’vara blinzelte. Dann schüttelte sie den Kopf. Was Klatsch und Tratsch betraf, war sie fast immer im Hintertreffen. Außerdem stellte sie sich lieber dümmer, als sie wirklich war. „Der Sohn der Herrin kommt nächste Woche auf Besuch. Es soll ein Fest geben!“ K’vara senkte wieder ihren Blick in das Buch. Doch ihre Neugierde war geweckt. Kiras, Vantras Sohn, lebte die meiste Zeit über in der Kaiserstadt. Er würde sicherlich viel über die Ereignisse aus den fernen Provinzen zu erzählen haben. Das Gerücht von Krieg war auch zu ihnen schon gedrungen. Tropfenweise brachten die Karawanen Neuigkeiten, doch niemand schien irgendetwas Konkretes zu wissen. Auf der anderen Seite hatte K’vara sowieso keine Chance mit ihm zu reden. Sie unterdrückte ein Seufzen. „Mein Vater lässt ein Kleid für mich nähen.“ Das Mädchen mit der Stickerei blickte auf. „Er hat gerade eine Ladung Stoffe aus Sevana bekommen.“ K’vara spürte den Neid der anderen auf sich. Dabei war die Chance auf ein Kleid völlig unrealistisch. Der Stoff war sicherlich schon für die noblen Herrenhäuser vergeben, die ihrerseits für ihre Töchter Gewänder zum Empfang nähen ließen. Aber das mussten die zwei Mädchen ja nicht erfahren. „Welche Farbe soll es denn haben?“ K’vara legte einen Finger auf ihre Lippen und tat so als würde sie überlegen. „Mir hat das dunkelviolett sehr gut gefallen. Man könnte dazu goldene Einfassungen machen. Aber vielleicht wähle ich doch dunkelblau mit silberner Stickerei.“ Das eine Mädchen ließ jetzt ihre Handarbeit völlig liegen. „Du lügst! Das Kleid ist nie im Leben rechtzeitig fertig!“ Die andere stimmte ihr zu. K’vara zuckte mit den Schultern. „Wenn genug Leute daran arbeiten…“
Nachdem die beiden Mädchen nichts Vergleichbares anzubieten hatten, wechselten sie bald das Thema. K’vara vertiefte sich wieder in ihr Buch. Dabei späte sie immer wieder über den Bücherrand zu der Hausfassade. Dort im zweiten Stock musste sich das verbotene Zimmer befinden. Es juckte K’vara schon so lange herauszufinden, was sich dort befand, aber es hatte sich in den letzten Monaten noch immer keine Gelegenheit geboten. Der Raum war zu gut bewacht. K’vara hatte die Ablösen beobachtet. Nur ein enger Kreis an Wachen war es erlaubt vor der Tür zu stehen und sie waren immer pünktlich und sehr korrekt gewesen. Sie hatte auch in unregelmäßigen Abständen beobachten können, wie Vantra völlig aufgelöst zu dem Zimmer gelaufen war. Doch nie hatte sie herausfinden können, was wirklich los gewesen war. Von dieser Seite aus sah der Raum noch unschuldiger aus. Manchmal hatte K’vara auch schon verworrene Pläne geschmiedet, die Wand hinauf zu klettern. Doch an den Fenstern des ersten Stockes waren fast überall Ziergitter angebracht. Außerdem brannte dort in der Nacht nie Licht. Seit K’vara in das Herrenhaus eingezogen war, hatten sich ihr genug Gelegenheiten geboten sich des nächtens in den Garten zu schleichen. Doch ihrer Informationssuche hatte das nichts geholfen.
Ein seltsamer Schrei ließ sie alle aus ihren Überlegungen hochschrecken. Die beiden Mädchen blickten sich irritiert um. K’vara ließ ihr Buch sinken. „Ich geh einmal nachschauen, was los ist!“ Bevor noch einer der Mädchen etwas erwidern konnte, sprang sie auf und lief in Richtung Haus. Sie hatte genau bemerkt, woher der Schrei gekommen war. Auch ein Teil der übrigen Dienerschaft war aufgescheucht worden. Doch K’vara schlängelte sich schnell an ihnen vorbei um die Treppe beobachten zu können. Dann huschte sie in den Gang hinauf. Dort war es seltsam still. Ihr klopfendes Herz dröhnte und das Blut rauschte in ihren Ohren. Dann ertönten plötzlich Schritte, so als würde jemand die nahen Korridore entlang rennen. K’vara drückte sich ein wenig gegen die Wand. Falls Vantra kommen würde, könnte sie immer noch behaupten, dass sie den Schrei aus der Richtung kommen gehört hatte. Doch als die Gestalt um die Ecke bog, erkannte K’vara sofort, dass es nicht Vantra sein konnte. Die Frau war noch sehr jung, etwa in K’varas Alter. Ihre langen Haare waren zu einem Zopf geflochten, der in der Luft hin und her flog, als sie den Gang entlang lief. Ihr Blick blieb auf K’vara haften. Ein leichter Schauer lief ihr über den Rücken. Die Augen schienen sich in sie einzubrennen. Sie blieb vor K’vara stehen. Ohne ein Wort zu sagen, griff sie nach K’varas Hand. K’vara war völlig erstarrt. Die Fingernägel ritzte etwas in ihre Haut. K’vara war so erstarrt, dass nicht einmal der Schmerz den Arm zurückschnellen ließ. Die Lippen der Frau formten dabei Worte, ohne dass ein Ton über sie kam. Dann ließ sie K’vara abrupt los und rannte wieder zurück. Plötzlich hatte K’vara das Gefühl, dass es besser war, wenn niemand von dieser seltsamen Begegnung erfahren würde. Sie stahl sich die Treppe hinab und schaffte es ungesehen in einen Seitengang zu kommen. Vorsichtig hob sie ihren Arm, der zu brennen angefangen hatte. Die feinen Ritze füllten sich mit Blut. Jetzt erst merkte K’vara das ihr Herz wie wild hämmerte. Und in ihrem Kopf war nur noch die Frage, was da gerade eben passiert war.

Er strich sich das Wasser aus den Haaren. Seine Augen waren geschlossen. Er atmete tief. Irgendetwas in diesem Zimmer roch anders als sonst wo. Es war für ihn der typische Geruch, den er mit zuhause verband. Seine Mutter musste diesen Duft verwenden. Seine Finger griffen nach dem Haarband. Noch immer mit geschlossenen Augen wikelte er den Stoffstreifen um seine Haare. Dann band er ihn sorgfältig zusammen. Schließlich zog er sein Hemd gerade und griff nach dem Überhang. Er war jetzt wieder der Prinz in einem Land, wo jeder auf die Äußerlichkeiten schaute. Er atmete noch ein paar Minuten lang tief durch. Mit jedem Atemzug sog er mehr von dem Duft ein und gleichzeitig wurde er mehr derjenige, der er sein sollte.
Er starrte die schicken Teetassen an. Im Arbeitsraum seiner Mutter war es kühl und dämmrig. Dumpf drangen die Stimmen der Mädchen zu ihnen herauf. Sie hatten wohl schon frei und vergnügten sich jetzt im Garten. Er stand auf und ging mit langen Schritten auf das Fenster zu. Dann starrte er in den Garten hinunter. „Erzähl mir! Was gibt es Neues?“ Er schloss die Augen. Plötzlich wollte etwas in ihm seine Mutter anschreien, dass nur wenige Wochenreisen von hier Menschen sich gegenseitig umbrachten, dass Soldaten Bauernhöfe plunderten und Unschuldige töteten, während sie hier saß, in Luxus schwelgte und Tee trank. Aber er hielt sich zurück. Was würde es ändern? Er musste mit seinen Kontorführer reden, ob sie sich leisten konnten eine Karawane mit Verbandssachen und Lebensmittel in das Gebiet zu schicken. Aber wahrscheinlich war die Lage zu unsicher. Er würde kein Leben seiner Leute für eine Hilfsaktion riskieren. Soweit konnte er nicht gehen. „Du hast eine neue Angestellte!“, meinte er stattdessen. Er hörte den Sessel seiner Mutter über den Boden scharren und drehte sich zu ihr um. „Du musst K’vara meinen. Das Mädchen ist schon fast seit einem Jahr bei uns! Du bist so selten da und das letzte Mal warst du auch nur so kurz, dass du im Kontor übernachtet hast, um am nächsten Tag gleich wieder abreisen zu können!“ Er senkte den Blick. „Wenn man als Kaufmann erfolg haben will, muss man sich eben um alles persönlich kümmern. Du von allen musst doch am Besten wissen, wie das läuft.“
„Wie geht es Vater?“, fragte er schließlich. Seine Mutter schloss die Augen. Im letzten Brief hatte sie versucht zu verschleiern, dass es ihm offensichtlich nicht sonderlich gut ging. Er hatte schon seit Jahren Beschwerden, wenn die Luft anfing feucht zu werden. Doch jetzt war die heißeste und trockenste Zeit des Jahres angebrochen. Das machte ihm Sorgen. „Es sind seine Gelenke! Manchmal hat er so starke Beschwerden, dass er in der Früh kaum noch aus dem Bett kommt.“ Er presste seine Lippen zusammen. Vielleicht hätte er doch nicht so lange das Haus meiden sollen. Kurz spürte er wieder die Angst, dass er, wenn er das nächste Mal in dieses Haus kommen würde, alles sich verändert haben könnte. Dieses Gefühl hatte er manchmal. „Komm, ich führe dich in sein Zimmer!“ Er schloss die Augen. Dann holte er tief Luft. „Ich möchte zuerst sie sehen!“ Seine Mutter, die sich schon halb aus dem Stuhl erhoben hatte, sackte zurück. Eine steile Falte grub sich in ihre Stirn. Schnell fing sie sich wieder und stand auf, so als hätte er gar nichts gesagt. „Ich möchte sie sehen und ich werde allein gehen!“ Er schob den Stuhl zurück. „Das ist unmöglich!“ Ihre Augen funkelten. Er erhob sich. Plötzlich fühlte er sich so unendlich müde. Er hasste diese Diskussion. „Willst du mir jetzt den Umgang mit ihr verbieten?“ Sie trat ihm in den Weg, als er Richtung Tür ging. Ihre Hände legten sich auf seine Schulter. „Verstehst du nicht, dass es besser ist, wenn du sie in Ruhe lässt. Besser für dich!“ Seine Hand fuhr zu ihrer und schälte sie kalt von seiner Schulter. „Nein, das tue ich nicht!“ Damit schob er seine Mutter zur Seite und verließ den Raum.


© lerche


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