Das Geheimnis des verbotenen Bereichs im Haus ließ sie nicht los. Es musste ein großes Geheimnis sein, denn es war gut gehütet. Manchmal schlich sie in den Trakt. Doch nie war das Zimmer unbewacht. Einmal hatte sie sich sogar bis zu der Wache vorgewagt und behauptet sich verlaufen zu haben. Der Wache war das herzlich egal gewesen. Sie hatte nicht einmal zugehört und sie sofort weg geschickt. Ein paar Stunden später war Vantra aufgetaucht. Sie war sehr nett gewesen und doch hatte sie keinen Zweifel daran gelassen, dass K’vara dort nichts zu suchen hatte und es gröbere Konsequenzen haben würde, wenn sie noch einmal dort aufgelesen würde. Das hatte ihre Neugierde geschürt. Doch war die Sorge um ihre Arbeit immer größer gewesen. Würde sie noch einmal in den Korridoren auf jemanden treffen, würde sie rausgeworfen werden. Also musste sie sich zügeln.
Doch ihre Fantasie kannte keine Fesseln. Immer wenn sie Zeit hatte, dachte sie über den Raum nach und welcher Schatz sich wohl dort versteckt hielt. Es musste ein besonderer Schatz sein, etwas unheimlich Wertvolles. K’vara dachte an Gold. Vielleicht war dort oben genug Gold, dass sie nie wieder arbeiten müsste und stattdessen ihr Leben lang durch die Welt reisen konnte und alles lernen konnte, was sie wollte. Vielleicht war dort auch der Familienschmuck aufbewahrt. K’vara starrte in den Regen raus. Eigentlich glaubte sie nicht an Reichtümer. Wer wäre schon so dumm und würde seine Reichtümer in einem einzigen Raum aufbewahren. K’vara hatte ihr weniges Erspartes an verschiedenen Stellen in ihrem Raum versteckt. Das mit den Reichtümern ergab keinen Sinn. Vantra war eine kluge Frau. Es musste etwas Schreckliches in diesem Raum lauern. Die Familie hatte ein bösartiges Geheimnis. Vielleicht war dort ein Monster oder sie hielten einen politischen Gefangenen. Es könnte dort ein hübscher Prinz sein.
K’vara begann über sich selbst zu lachen. Dieser Gedanke war wirklich lächerlich. Sie stieß sich vom Fensterbrett ab. Sie wollte ihre freie Zeit nicht mehr mit wilden Spekulationen verschwenden. Stattdessen ging sie den Gang hinunter zu ihrem Zimmer. Sie holte einen Block und Schreibzeug. Sie wollte in die Bibliothek. Dort gab es auch noch genug Geheimnisse zu ergründen. Irgendwann würde sie erfahren, was in dem Raum war, sie musste nur genug Geduld haben. Sie nickte sich selbst zu. Geduld war etwas, was sie sich hart erlernt hatte.

Er erkannte die Silhouette bevor sie noch richtig am Horizont zu sehen war. Sie glänzte in den staubigen Körnern. Es war ein Schatten über rotem Dunst. Bal versuchte das Tempo zu steigern. Auch er hatte die Stadt bemerkt. Er lächelte. „Heute Abend bekommst du einen Stall und viel frisches Futter!“ Er fuhr mit der Hand durch sein staubiges und verklebtes Haar. Er freute sich auch schon auf das Wasser. Er dachte an den Genuss, wenn die Flüssigkeit seinen Rücken hinunter rinnen würde und all den Dreck von der Reise mit sich nehmen würde. Der Duft von frischer Kleidung kam ihn wie eine sanfte Erinnerung vor, die schon fast verblasst war. An dem Abend würde er sich erholen. Am Morgen würde er seine Güter überbringen. Nach und nach kam ihm wieder der Luxus in den Sinn, den seine Heimat bot. Seine Hand strich durch Bals Fell. „Von mir wirst du auch eine Zeit lang Frieden haben!“, murmelte er. Das Reittier schnaubte. Er war dankbar, dass Bal ihn die lange Strecke getragen hatte. Noch bevor er sich etwas gönnen würde, würde er seine Dankbarkeit zeigen. Bals Fell sollte wieder glänzen. Er blinzelte in Richtung Schatten. Nur wenige Stunden trennten ihn von Chema.
Die Sonne ging in seinem Rücken unter, als er zu den Stadttoren kam. Er sog die Luft ein. Sie roch feucht. Der Geruch erinnerte ihn an Leben. Er schwang sich von Bal herab. Durch die Tore konnte er schon das erste grün der Palmen sehen. Das war sein zuhause. Chema war die Geliebte der Wüste. Die Wachen nickten ihm zu. Hier gab es keine Fremden. Niemand würde den Weg durch die Wüste finden, außer er war in der Wüste geboren. „Chem Bassa erwartet dich!“, meinte die erste Wache. Er nickte. „Ich werde mich zuerst angemessen kleiden!“ Die Wache nickte. Das war eine Selbstverständlichkeit. Solange Chem Bassa ihn nicht an den Toren abpasste, konnte er sich auch ein paar Stunden Zeit lassen. Schließlich konnte er nicht die süßen Düfte des Palastes mit seinem Reisegestank verunstalten. Er verabschiedete sich von den Wachen und ging in Richtung Ställe. Bal trottete wie selbstverständlich an seiner Seite mit.
Er hatte Bal und dann sich gewaschen. Jetzt stand er auf der Westmauer. Die letzten Strahlen der roten Sonne waren noch zu sehen. Die Wüste tauchte langsam in Dunkelheit. Er genoss noch ein paar Sekunden den Anblick. Es war wie der letzte Blick auf eine Geliebte, der er jetzt fern bleiben musste. Dann wandte er sich ruckartig ab. Man sagte von seinem Volk, dass ihnen der Wüstensand auf den Solen und die Sonne im Herzen brannten. Er dachte an den Vergleich. Wie die vielen anderen war er nicht ganz falsch und nicht ganz richtig. Doch was wusste die Welt dort draußen schon von Chema? Mythen und Legenden haben sie umwoben und in den Wüstensand eingegraben. Er lief die Mauer entlang Richtung Palast. Chem Bassa wartete und er wollte ihn nicht zu lange warten lassen.

Er war tot müde. Sie hatten den ganzen Tag den Wald durchkämmt. Doch wie zu erwarten, hatten sie den Misch nicht gefunden. Wenn ein Misch nicht gefunden werden wollte, dann war er nicht zu finden. So einfach war das. Er legte einen Arm auf seine Stirn. In seinem Gedanken durchforstete er seinen Kopf nach irgendwelchen Zaubersprüchen, wie man eine vermisste Person finden konnte. Es gab so etwas, das wusste Vasa Rem, aber er wusste genauso gut, dass er diese Sprüche nicht zustande bringen würde. Er war schon bei viel einfacheren gescheitert. Außerdem wollte er Goscha nicht irgendwelche Hoffnungen machen. Wieso auch immer der Misch verschwunden war, er würde wieder auftauchen. Die Misch hatten mit den Akari einen seltsamen Bund. Sie konnte nie einander verlassen. Selbst wenn Goscha mit Sin nie das Vereinigungsritual durchgeführt hatte, wovon sie ihm erzählt hatte, war sich Vasa Rem sicher, dass Goscha und Sin auf eine seltsame Weise zusammengehörten.
Er schreckte aus dem Döszustand hoch, weil es klopfte. Schnell schob er die Beine über die Bettkante. Die Tür schwang auf. Goscha erschien im Türrahmen. Sie wirkte irgendwie seltsam. Ihre Augen waren rot geschwollen. Die Haare hingen wirr herab. Er sprang auf. „Ich… ich kann nicht schlafen!“ Sie snifte. Er nickte. Ohne darüber nach zu denken, was er tat, nahm er sie in die Arme und führte sie zum Bett. Dann schloss er die Tür. „Du brauchst dir keine Sorgen machen!“, murmelte er beruhigend. Wieder legte er seine Arme um sie. Sie stützte sich gegen seinen Oberkörper. Er versuchte beruhigende Wellen aus zu senden. Doch wusste er nicht, ob er sie damit erreichte. Sie begann langsam zu schluchzen. Misch waren für die Akari so etwas wie Lebenspartner. Er versuchte nach zu empfinden, was Goscha jetzt fühlen musste, doch er konnte es nicht. So wie die Akari sich nicht an einen Menschen banden, so war es auch den Zauberern verboten. Er legte sein Kinn auf Goschas Kopf. Mit jedem Atemzug sog er ihren Duft ein. Was tat er hier überhaupt? Er wusste es nicht. Goscha drehte sich in seinen Armen und drückte sich fest gegen seine Brust. Still weinte sie.
Vorsichtig ließ er Goscha auf das Bett sinken. Sie war endlich eingeschlafen. Er wusste nicht ob sie einfach so eingeschlafen war oder ob sein Zauber gewirkt hatte. Doch er wollte auf jeden Fall nicht riskieren, dass sie aufwachte. Seine Finger berührten kurz ihre Wange. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sein ganzes Inneres von dem Gefühl erfüllt war, sie zu beschützen und zu trösten. Er wollte für immer das friedliche Lächeln, das sich im Schlaf eingestellt hatte, bewahren. Das erschreckte ihn ein wenig. So vorsichtig er konnte legte er sich neben sie. Dann zog er die Decke über sie beide. Wann hatte er das letzte Mal mit einer Frau das Bett geteilt? Es musste seine Schwester gewesen sein. Sie war in seiner letzten Nacht zu ihm ins Bett gekrochen. Doch neben seiner Schwester zu liegen, war etwas ganz anderes, als das hier. Sanft legte er einen Arm um Goscha. Sein Kopf kam neben dem ihren zu liegen. Seine Nase berührte ihre Haare. Er beugte sich ein Stück vor und seine Lippen berührten ihren weichen Hals. Er sog die Luft ein. Fühlte es sich immer so an, wenn man mit einer Frau in einem Bett lag? Er verneinte seinen Gedanken. Natürlich war ganz allein Goscha schuld, dass sein Herz jetzt so raste. Er küsste noch einmal ihren Hals. Schließlich schloss er die Augen und begann seinen Kopf leer zu schaufeln. Es war besser nicht darüber nach zu denken, was gerade passierte.
Goscha, die sich in seinen Armen zu bewegen begann, weckte ihn. Er blinzelte. Es war noch sehr früh. Im Zimmer war es noch dämmrig. Goscha drehte sich so in seinen Armen, dass sie ihn anschauen konnte. Sie lächelte seltsam. Gleichzeitig war es das schönste Lächeln, das er jemals gesehen hatte. Ihre Hand arbeitete sich unter der Decke hervor, so dass sie neben seiner Wange zum liegen kam. Dann streckten sich die Finger vorsichtig nach seinen Lippen aus. Er schluckte leicht. Sein Herz begann heftiger zu schlagen. Goschas Kopf fuhr ein Stück vor und ihre Lippen berührten sich. Er strich über ihr Gesicht. Sie küsste ihn noch einmal. „Danke!“, murmelte sie.

Etwas an diesem Bericht erweckte seine Aufmerksamkeit. Zuerst konnte er es noch nicht ganz fassen. Er legte ihn zur Seite auf den Stapel von den Berichten, die er sich noch einmal genauer ansehen wollte. Dann nahm er den nächsten. Er wusste selbst nicht so genau, wie er in den Texten das fand, was ihn interessierte. Es war eine Art sechster Sinn, ein innerer Instinkt, der ihm sagte, auf welchen der Stapel was landete. Dieser innere Instinkt hatte ihn noch nie belogen. Er hielt ihn am Leben. Wieder landete ein neuer Bericht auf einen der Stapel und er ersparte ihm eine Menge Zeit, die er viel nützlicher verbringen konnte.
Er hatte sich inzwischen ein Glas Met geholt. Er nahm einen Schluck, rollte ihn ein wenig auf der Zunge, so dass die ganze Mundhöhle von dem Geschmack erfüllt war. Dann stellte er das Glas wieder hin. Sein Finger begann auf dessen Rand zu fahren. Ein hoher, fast unangenehmer Ton erfüllte den Raum. Er nahm den Bericht wieder in die Hand. Ganz oben stand der Autor. Seine Augen wurden ein wenig enger. Das war ein ungewöhnlicher Name. Wie den Met ließ er den Namen eine Weile auf seiner Zunge rollen. Dann begann er zu lesen. Er brauchte nicht lange um zu verstehen, was ihn an diesem Bericht so gestört hatte. „Was willst du im Osten?“, murmelte er leise. Was hatte Kalo damit bezweckt einen simplen Schüler auf eine nicht schaffbare Mission zu schicken. Die Akari würden niemals ihre Geheimnisse einen simplen Fremden preisgeben. „Was willst du im Osten? Ist das Gerücht also doch war?“ Er nahm noch einen Schluck Met. Diesmal wartete er nicht so lange, bis der Wein seine Kehle hinab rann. Sein Kopf arbeitete fieberhaft. „Ich durchschaue dich, Kalo!“ Er verzog das Gesicht. „Zumindest ein bisschen!“
Das Weinglas stand noch immer halbvoll vergessen auf dem Schreibtisch. Die letzte Seite des Berichtes lag offen da. Er hatte die Augen geschlossen und überlegte. Kalo hatte nicht nur einen einfachen Schüler geschickt. Er ließ den Namen wieder und wieder über seine Zunge gleiten. Was hatte das alles zu bedeuten? Woher hatte er die vielen Informationen bekommen? Irgendetwas war mächtig faul. Er sah Teile von einer Vase vor sich und versuchte die Scherben wieder zusammen zu fügen. Doch er wusste nicht einmal, ob die Scherben von einer oder zwei Vasen stammten. Mit einem Ruck richtete er sich auf. So kam er nicht weiter. Er brauchte mehr Informationen, mehr Scherben. Er würde diesen Schüler genauer unter die Lupe nehmen müssen. Und er durfte Kalo nicht unterschätzen. Seinen Gegner zu unterschätzen war eine der dümmsten Fehler, die man machen konnte. Sein Blick fiel auf den Met. Seine Hand griff danach und er schüttete den Wein mit einem Mal hinunter. Dann verzog er das Gesicht.


© lerche


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