Er lockerte seine Hand ein wenig, indem er anfing sie zu drehen. Dann atmete er tief durch. Sein Blick glitt aus dem Fenster. Das Mondlicht war nicht mehr rot, sondern schien inzwischen silbern in den Straßen. Es hatte geregnet am Nachmittag, doch jetzt war es wieder klar. Er stellte sich vor, wie das Licht sich vorm Fenster im Wasser spiegelte. Seine Augen schlossen sich mit einem schweren Wimpernschlag. Langsam begann sich die Zeit zu verzehren. Die Lacke und das Mondlicht mussten dort sein. Er wusste es. Langsam bildete sich in seinem Kopf das Bild. Sein ganzer Körper war angespannt. Es kam ihm vor, als durchflösse ihn eine noch nie gekannte Energie. Die Vorfreude lenkte ihn ein Stück ab. Der Mond war in den frühen Abendstunden rot gewesen. Seine Hand hörte auf zu kreiseln. Es hatte ausgesehen, als wäre der Mond in Flammen gestanden. Doch jetzt musste das silberne Licht sich in den Lacken spiegeln. Sein Körper begann zu vibrieren. Doch alles, was vor seinen Augen erschien, war Schwärze.
Seine Finger tasteten über die unebenen Bodenbretter. Er stöhnte leicht und fluchte dann. Schließlich strich er seine Haare aus dem Gesicht. Wann war er gefallen? So etwas durfte nicht passieren! Er fluchte noch einmal. Hatte er sich nicht richtig auf das Mondlicht konzentriert? Er rappelte sich langsam auf. Sein Kopf wirkte doppelt so groß, als er eigentlich war. Ein paar Mal strich er über das Gesicht. Dann ließ er sich auf das Bett fallen. Seufzend stützte er das Kinn auf. Wieso wollte der verdammte Zauber nicht funktionieren? Er wusste es nicht und das machte ihn unsicher. Sonst hatte er immer Antworten auf seine Fragen bekommen. Er hatte das Talent, er musste es haben. Ohne Talent wäre er nicht so weit in der Ausbildung gekommen. Ohne Talent hätten die Zauberer ihn nicht aufgenommen. Doch jetzt war er eine herbe Enttäuschung für seine Lehrer. Sie sagten es ihm nicht, aber er wusste es trotzdem. Wenn er nach der Woche nicht zumindest mehr Wissen angesammelt hätte, würde er vielleicht ausgeschlossen werden. Daran wollte er wirklich nicht denken. Er durfte einfach nicht versagen. Mit großen Worten hatte er seinen Vater verlassen. Jetzt konnte er nicht mit leeren Händen zurückkommen, schon gar nicht nach all der Zeit. Das war ausgeschlossen. Er musste noch härter mit ihm sein. Es schwirrte sein Kopf. Langsam ließ er sich auf das Bett sinken. Die Zeit rann ihm aus den Fingern. Doch er wollte nicht daran denken. Stück für Stück schaufelte er seinen Geist frei. All seine Sorgen schickte er hinaus in die Welt. Dort würden sie hoffentlich bleiben bis zum nächsten morgen.

Goscha lag auf ihrem Bett und starrte auf die Zimmerdecke. Sie bestand aus Holzbrettern, wie üblich bei den alten Häusern in dieser Gegend. Wenn ein Haus neu gebaut wurde verschmierte man jetzt eine graue Paste auf das Holz, die nach dem Trocknen weiß wurde. Damit wollte man die Brandgefahr verringern. Doch Goscha gefiel das Holz besser. Die Äste in den Brettern formten Muster, die für sie zu einem Bild verschmolzen. Sin hüpfte vom Kasten hinunter, wohin er sich verkrochen hatte. Er hatte eine Frucht in der Hand, von der er herzhaft abbiss. Obwohl die scharfen Zähne der Misch eher darauf hindeuteten, dass sie Raubtiere waren, fraßen sie am Liebsten Früchte. Goscha hätte es an ihrer Stelle auch nicht anders gemacht. Süßes Obst schmeckte doch viel besser. „Hast du wieder etwas vom Wintervorrat geklaut?“ Sin blinzelte mit den großen Lidern. Dann starrte er auf die Frucht in seiner Hand, als würde er sie zum ersten Mal sehen. „Ja, schäm dich ruhig! Glaubst wohl, ich komme nicht drauf.“ Sin steckte seinen Kopf unter den viel zu langen Arm. Das sah richtig komisch aus und Goscha begann zu lachen.
Sin hatte sich an ihren Bauch gekuschelt und schnarchte leise, als es klopfte. Im selben Augenblick sprang Sin hoch und verschwand irgendwo im Zimmer. Goscha rappelte sich auf. Sie rieb sich die Augen. In dem Moment wurde die Tür geöffnet. „Sindara, hier bist du! Kannst du mir nicht einen Tee kochen. Meine Füße sind so kalt.“ Goscha hielt sich damit zurück aufzuseufzen. Stattdessen nickte sie nur. „Und hol mir noch eine Decke!“ Ihr Vater drehte sich in der Tür um und schlurfte davon. Es gab keine Widerrede. Goscha schob ihre Füße über die Bettkante. Ihr Vater war Bauer. Er war es Zeit seines Lebens gewöhnt lange auf dem Feld zu arbeiten. Obwohl er jetzt schon sehr gebrechlich war, ging er trotzdem jeden Tag hinaus und tat, was er nur tun konnte. Doch im Haushalt rührte er keinen Strich. Das hatte er noch nie getan. So war er nun mal. So würde er immer sein. Es war zu spät ihn noch zu ändern. Sie fuhr sich durch die Haare. Sin schlüpfte unter ihren Rock. Früher hatte ihre Mutter ihn von hinten und vorne bedient. Seit sie vor etwas über einem Jahr gestorben war, musste sie es tun. Sie hasste das. Tee aufstellen war nun wirklich nicht die Aufgabe, die nicht bewältigt werden konnte. Aber ihr Vater war nun einmal wie er war. Was sollte sie dagegen machen?
Sie stand vorm Herd und zündete das Feuer an. Dann schob sie den Blechtopf zu Recht. Ihr Vater war alt. Sie konnte nicht von ihm erwarten, dass er sich noch ändern würde. Zumindest war er nicht eine allzu schlimme Last. Sie stapfte zum großen Wäscheschrank und zog eine Wolldecke hervor. Außerdem machte sie sich zunehmend Sorgen, weil ihm immer öfter am Abend kalt wurde, obwohl es noch spät im Sommer war. Sorgfältig faltete sie die Decke über seine Knie und wickelte die Füße darin ein. „Danke, Sindara!“ Sie nickte nur und holte den Tee. Sie ignorierte auch, dass er sie schon zum zweiten Mal mit dem Namen ihrer Mutter angesprochen hatte. Manche Sachen würden sich nie ändern.

Er lehnte vor auf den Hals von Bal. Bal schien es nicht zu stören. Es war elendiglich heiß und er hatte kaum noch Kraft sich auf seinem Reittier zu halten. Seine Finger fuhren durch das weiche, weiße Fell. Er riss sich zusammen. „Wir werden bald Pause machen müssen! Die heißeste Zeit des Tage bricht an.“ Bal schien das wenig zu berühren. Er trabte stur weiter. Zögerlich griff er nach dem Wasserschlauch. Vorsichtig öffnete er ihn und ließ wenige Tropfen kühles Nass auf seine Lippen rinnen. Mehr gönnte er sich nicht. Es war ein weiter Weg durch die Wüste und die Wüste war unbarmherzig. Er strich über den Wasserschlauch um abzuschätzen, wie viel Wasser noch darin war. Dann kontrollierte er die beiden anderen noch vollen Wasserschläuche. Sie waren noch immer prall gefüllt. Zwei weitere Tage würde er damit locker auskommen. Dann musste er die Oase erreicht haben. Er reiste nicht zum ersten Mal mit Bal die Strecke. Es müsste sich locker ausgehen. Trotzdem gönnte er sich nicht mehr Flüssigkeit. Er würde lieber mit einem halb vollen Wasserschlauch in die Oase kommen, als nichts mehr zu haben, wenn etwas Unvorhergesehenes passierte. Die Wüste war tückisch. Sie war eine wilde Gottheit. Es konnte immer etwas Unvorhergesehenes passieren. Das war das Erste, was man hier lernte.
Er kontrollierte den Sonnenstand mit seinen Orientierungsstein. Dann wischte er sich über die schweißfeuchte Stirn. Manchmal fragte er sich, wie man trotz des Wassermangels in der Erde und der Luft in der Wüste schwitzen konnte. Schließlich klopfte er Bal auf den Hals, um ihn an zu deuten, dass er stehen bleiben sollte. Bal reagierte sofort. Er schwang sich aus dem Sattel, noch ehe das Tier in die Knie gehen konnte. Dann holte er sein kleines Zelt hervor. Zu Mittag schützte es ihm vor der Hitze und am Abend vor allzu starken Wind, wobei er fast lieber an Bal gekuschelt schlief. Das Tier gab mehr Wärme, als jede Decke es konnte.
In wenigen Minuten war das kleine Zelt aufgebaut. Er kannte die einzelnen Griffe schon in und auswendig. Er nahm noch einen kleinen Schluck vom Wasserschlauch und verkroch sich dann unter die helle Zeltplane. „Weck mich in drei Stunden“, murmelte er zu Bal. Das Tier grunzte nur. Eigentlich wusste er ja, dass Bal ihn nicht verstand, aber die Reisen in der Wüste waren recht einsam. Bal war sein einziger Gesprächspartner. Das Tier war inzwischen zu seinem besten Freund geworden. Außerdem hatte er ihn schon mehrmals stoisch nach Hause getragen, wenn er völlig entkräftet auf seinem Rücken gelegen hatte. Er verdankte Bal mehr als einmal sein Leben. Er spürte, wie sich das massige Tier neben das Zelt nieder ließ. Dabei wackelte die Plane. Er lächelte leicht. Bal war treuer als jede Frau. Er würde nie von seiner Seite weichen.

Ihre Finger tippten beunruhigt gegen ihre Knie im Rhythmus der Tropfen, die auf das Dach fielen. Sie schloss die Augen. Obwohl sie es nicht wollte, stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie sprang auf, so dass der Stuhl umfiel. Dann stockte sie. Wann würde endlich der Kampf in ihrem Inneren aufhören? Mit wenigen Schritten war sie bei der Tür. Den Stuhl hatte sie achtlos liegen gelassen. Es war nun mal so, wie es war. Irgendwann würde sie fortgehen und dann war alles vorbei. Das wussten sie beide. Sie brauchte diese Freiheit. Sie starrte in die Finsternis hinaus. Es schüttete wie aus Kübeln. Sie rief seinen Namen in die Nacht. Doch das Wasser verschluckte jeden Laut. Sie rief noch einmal. Fast wäre sie in die Nässe hinaus gerannt. Doch ihre Vernunft hielt sie zum Glück zurück. Immer konnte sie sich nicht darauf verlassen. Der Rhythmus des Klopfens veränderte sich. Er wurde durchbrochen. Der Regen wurde durchschnitten. Eine humpelnde Gestalt trat ins leichte Dämmerlicht, das die Kerzen in der Hütte verbreiteten. Vielleicht würde sie ihn einmal nicht mehr hinein lassen, aber nicht an diesen Tag. Das war unvorstellbar. „Komm rein, Nabo, du bist von oben bis unten durchtränkt!“ Ihre Worte klangen erschreckend kühl. Er nickte müde. Doch sein Gesicht war erfüllt mit Freude. Plötzlich sprang sie vor und umarmte ihn. Ihre Finger fuhren durch seine nassen Strähnen, die auf seinen Kopf klebten. Sie küsste seine Stirn. Beide schwankten kurz und drohten umzufallen. Dann fingen sie sich wieder und sie löste sich schnell. „Ich habe dich auch vermisst“, murmelte er.
Sie holte ein Handtuch aus ihrem Kasten. Dann breitete sie es aus und rieb sanft über seine Haare. Seine Hände umklammerten die heiße Tasse Tee, den sie aufgestellt hatte. „Was fällt dir eigentlich ein bei diesem Wetter zu kommen?“ Hatte sie sich Sorgen gemacht? „Ich wollte dich sehen!“, war seine simple Antwort. Sie seufzte. Sie hatte ihn auch sehen wollen, hatte gehofft, dass er so unvernünftig wäre, zu kommen. Wieso hatte er sie nicht enttäuschen können? „Du musst das feuchte Gewand ausziehen! Du verkühlst dich noch!“ Er lächelte leicht. Dann nahm er einen kleinen Schluck Tee. „Warten wir noch ein wenig damit!“ Sie schloss kurz die Augen, dann stemmte sie ihre Fäuste in die Hüften. Sie wusste genau, wie das gemeint war. Er griff nach ihrer Hand und zog sie an sich. Er küsste ihren Handrücken. Sie zögerte kurz, dann zog sie ihren Arm an sich. „Du wolltest warten!“, erinnerte sie. Doch mit einem Schlag war das alles vergessen.
Sein Körper war jetzt warm und nicht mehr kalt vom Regen. Sie stützte sich auf einer Hand auf. Dann fuhr sie mit einem Finger an seinen Mundwinkel. Er lächelte. Das war ein schöner Anblick. Sie mochte sein Lächeln. „Wie lange soll das noch so weiter gehen?“ Er schüttelte den Kopf. „Ist das wichtig?“ Sie setzte sich ganz auf und schüttelte ihre langen Haare glatt. „Vielleicht!“ Seine Hand tastete nach ihrem Rücken und fuhr durch ihre Strähnen. „Du bist wunderschön!“ Fast schon verärgert schüttelte sie den Kopf. Doch gleichzeitig genoss sie die Berührung. „Das sagen alle!“ Er zog sich an ihr hoch. Sein verkrüppeltes Bein stand seltsam weg. Er griff danach und legte es zu dem anderen. „Aber ich habe es nicht so gemeint, wie die anderen!“ Ihre Hand fuhr zu seinem Bein. Sie spürte Tränen in den Augen und blinzelte. Sie wusste, sie musste neben diesem Mann nicht stark sein und doch konnte sie nicht anders. Alles war so seltsam anders neben ihm. „Vielleicht solltest du dir jemand anderen suchen, jemand ganzen“, murmelte er. Sie legte ihre Stirn in Falten. Ihre Finger fuhren zu seiner Wange. „Du bist ganz, so ganz wie man nur sein kann! Du hast durch meine Hülle geblickt. Also sag nicht solche dummen Sachen!“ Sie küsste seine Lippen. Er erwiderte den Kuss. Seine Hände griffen nach ihrem Hals. „Wie könnte ich nur ohne dich sein? Wie?“ Sie senkte ein wenig den Kopf, so dass er mit ihren Haaren überschüttet wurde. Sie waren hier allein in einer anderen Welt. In dieser Welt hatten Oberflächlichkeiten keine Bedeutung. „Ich würde dich mitnehmen zu mir, damit du immer bei mir bist, aber das würde dich zerstören, würde uns zerstören!“ Er zog sein Bein an und schob es dann gemeinsam mit dem anderen über die Bettkante. „Gefühle haben keine Bedeutung in dieser anderen Welt.“ Sie wusste, dass es wahr war. Sie hatte es gespürt am eigenen Leib und sie war geflohen in dieses Exil, wo die Zeit nicht zu vergehen schien, wo jeder Tag dem anderen glich außer wenn er kam. Und wenn ihr Geliebter kam, dann redeten sie immer über dieselben Dinge. Sie wussten, dass diese zeitlose Welt nicht existieren durfte. Doch sie waren beide hier in diesem Moment, der noch eine Ewigkeit dauern würde, gefangen. Sie griff nach seiner Schulter, zog ihn zurück an ihren Körper. „Geh nicht, es regnet!“ Ihre Worte waren bedeutungslos. Es war die Sehnsucht, die ihn zurück hielt.


© lerche


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