Heiliger Strohsack! Ene, men, muhh! Wo habe ich ihn denn nur hin? Einer von uns muss ihn versteckt haben, und immer wenn ich ihn suche hat ihn der andere von uns. Zum Glück kennen wir uns nicht! Aber wir wissen beide, daß wir absolut richtig handeln. Was sollten wir auch sonst tun?!

Jeder von uns ist ein Original, geschaffen in seiner Nacktheit vor dem Herrn und vor den Herrschaften der Epoche. Wir sind glücklich und wir sind uns auf der Spur! Wenn ich jemanden umgebracht habe, dann versuche ich den Mörder zu finden.

Leider kann ich nicht lachen wenn ich einen Witz erzählt habe, denn die Pointe kennt nur der andere, und der ist ja nie da wenn ich ihn brauche. Er missbraucht mich. Aber das ist ohnehin grade modern. Jeder missbraucht jeden!

Wer, wer, ja wer ist der Mensch dort drüben, der in meiner Gestalt? Ich sehe ihn im Spiegel, aber ich erkenne ihn nicht! Der wird sich schön wundern, wenn ich ihn mit Taten konfrontiere, die er begangen haben soll. Haha, das ist doch sonst erst für viel später vorgesehen...

Aber jetzt wieder zurück: vorhin ist mir meine Seele über die Leber gelaufen! Ich habe sie gleich erkannt – sie hatte zwei Enden und ein fragwürdiges Zentrum; und wo hat sie IHN hingetan? Er muss doch da sein! Er muss doch Dasein! Wo? Wo ist das Dasein?

Jetzt weiß ich's: ich schreibe mir einen Brief und frage mich, nein ich bitte mich inständig, ihn mir herauszugeben, dieses Schwein. Ich habe ihn doch nicht umsonst trainiert. Ich bin doch nicht umsonst in mich gegangen um ihn herauszufordern...

Nun ist er heraus, aber wohin? Er ist verreist? Nein, er muss doch irgendwo noch zu wenigstens einem geringen Teil...oder nicht?! Auch geringe Teile haben eine Bedeutung! Dies gilt sogar dann, wenn man ihn oder seinen geringen Teil niemandem von uns zugeschrieben hat.

Ohne ihn geht es uns zwar sehr viel besser, weil wir dann sagen können wir hätten nachgedacht, obwohl das nur insoweit zutrifft, als wir etwas bemüht haben, was ganz andere als das bezeichnen was ich suche, aber ich vermisse ihn ein wenig und bei meiner Rückseite, die eigentlich meine Vorderseite ist, ist das ebenso.

Aber was hilft es sich Sorgen zu machen?! Ich stelle vielleicht am besten heute Abend ein Kerzchen ins Fenster, damit er von selber (zurück?) kommt, oder ich gehe jeden Morgen, zusammen mit meiner Rückseite (wir kennen uns ja nicht) vor die Türe und rufe ihn laut – vielleicht erscheint er ja dann: Veeeerstaaahand, Miez, Miez, Veeeeerrrrssstaaaaahhhaaaand!


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Aus dem Tagebuch eines Schizophrenen"

Re: Aus dem Tagebuch eines Schizophrenen

Autor: axel c. englert   Datum: 26.07.2016 10:02 Uhr

Kommentar: Der VERStand hat's heut auch schwer!
(Er fühlt sich überflüssig, leer ...)

LG Axel

Re: Aus dem Tagebuch eines Schizophrenen

Autor: Alf Glocker   Datum: 27.07.2016 7:55 Uhr

Kommentar: den Eindruck habe ich auch!

LG Alf

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