Im Herbst:

Goscha streckte sich, um noch eine Frucht vom Baum zu holen. Stück für Stück hoben sich ihre Fersen, während ihre Finger sich immer weiter um das Obst schlossen. Dann riss sie sanft daran. Die Früchte waren schon reif und lösten sich leicht. Sie steckte die Frucht in ihre zum Sack geformte Schürze. Danach streckte sie sich wieder. Dabei dachte sie daran, was sie alles daraus machen könnte. Sie hatte schon genug Marmelade für den Winter. Vielleicht würde sie das Obst zu Kompott einkochen. In wenigen Tagen war Markt. Sie brauchten ein wenig Geld, um noch Sachen für den Winter zu besorgen. Sie hätte gerne Stoff für neues Gewandt gekauft. Einer ihrer Arbeitsschürzen war in hoffnungslosen Zustand und für ihren Vater brauchte sie auch eine neue Hose. Über den Winter hatte sie genug Zeit, um sich Näh- und Stopfarbeit zu widmen.
Ein brauner Fellknäuel rutschte über den Ast hinunter auf ihre Hand. Erschrocken zuckte zurück. Der Fellknäuel landete in ihrem Schoß und rollte dann auf den Boden. Ihm folgte die Hälfte der Früchte. Goscha stieß einen knurrenden Laut aus. „Sin, was soll das? Hör auf mit dem Blödsinn! Du hast wirklich kein Benehmen“, schimpfte sie. Ihre kurzen Träumereien waren wieder vergessen. Seufzend ging sie in die Knie und begann nach den Früchten zu greifen. Der Fellknäuel hockte sich auf seine Hinterbeine. Sein Gesicht blickte Goscha unschuldig an. Schamhaft versteckte er sich hinter einer Pfote. Doch dann begriff er schnell, dass ihm das nichts brachte. Schließlich kannte Goscha dieses Gesicht nur allzu gut. Es war wie mit einem kleinen Kind. Die langen Finger angelten nach einer Frucht. Dann hüpfte das Wesen auf Goscha zu, rollte die Frucht kurz in den Händen hin und her und steckte sie in den provisorischen Sack zurück. Goscha seufzte. „Die kann ich alleine aufklauben! Mach dich lieber nützlich und hol mir die aus dem Baum!“ Sie wedelte mit der Hand. Das Wesen legte seinen Kopf schief. Doch dann trabte es in Richtung Baum. Die geschickten langen Finger bohrten sich in die Rinde und es tastete sich so behände den Stamm hinauf. Innerhalb von wenigen Sekunden war es verschwunden.
Sin war Goschas Misch. Sie waren angeblich irgendeine alte Rasse, die es schon längst gab, als die Menschheit noch in den Kinderschuhen steckte. Zumindest sagte das die Legende. Es gab viele Geschichten um und über die Misch. Viele von ihnen hatte Goscha gelernt, als sie in der Schule lesen gelernt hatte. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie ihre Mutter gelächelt hatte, als Goscha ihr mit von Stolz geschwellter Brust einen Text ohne Stocken vorgelesen hatte. Was ihre Mutter nicht gewusst hatte, war, dass Goscha Tage lang in ihrem Zimmer geübt hatte. Schließlich hatte sie ihrer Mutter zeigen wollen, dass sie in der Schule genauso begabt war, wie bei der Hofarbeit. Vielleicht war sie später deswegen so bessesen von den Gedanken gewesen, dass Goscha vielleicht zu den Akari gehen könnte.
Akari waren mysteriös und mächtig, fast so mächtig wie Zauberer. Jede von ihnen hatte einen Misch. Was auch immer hinter den Ursprüngen dieser Wesen steckte, im Grunde waren sie nichts anderes als kleine Wesen, die hier in den Wäldern lebten, und ein wenig so aussahen wie Kugeln mit viel zu langen Armen und Beinen. Die meisten waren nicht zahm. Ihre langen Zähne und Krallen konnten einen richtig Angst machen. In der Regel bekam man jedoch weder die kleinen Tiere noch ihre Zähne und Krallen jemals zu Gesicht. Doch wenn man von einem Misch einmal ausgesucht wurde, folgte er einen auf den Fuß. Nie würde Sin ernsthaft versuchen Goscha zu verletzen. Goscha strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Meistens versuchte Sin sie mit seinem tolpatischigen Aussehen zum Lachen zu bringen. Es war fast beängstigend, wie gut er ihre Stimmung lesen konnte. Ihr Blick glitt suchend in die Bätter. Von ihrem Begleiter war nichts zu sehen. Beruhigt klaubte sie schnell weiter. Von einem Misch ausgesucht zu werden bedeutete etwas Besonderes. Man hatte eine spezielle Seele, so sagen die Leute, und wurde zur Akari gewählt.
Jedes Jahr gab es das Frühjahrsfest, wo alle Anwärterinnen in den Wald geschickt wurden. Ihre Mutter hätte es gerne gesehen, wenn sie auch dabei gewesen wäre, aber sie hatte sich standhaft geweigert. Wieso konnte sie nicht einfach auf diesem kleinen Hof glücklich sein? Sie hatte keine Geschwister. Der Hof würde verfallen. Niemand würde sich um ihre Eltern kümmern, wenn sie alt waren. Dieser Gedanke tat ihr im Herzen weh. Außerdem wollte sie zusehen, wie das Getreide auf den Feldern wuchs und aus den Früchten der Bäume Marmelade, Kompott und Kuchen machen. Sie lächelte bei dem Gedanken, wie sich Sin daran gütig tun würde. Sie mochte diesen kleinen Kerl. Es war gut, so wie es war! Das Spiel der Mächtigen interessierte sie nicht. Deshalb hatte sie Sin von den anderen versteckt gehalten. Sin wusste das auch. Er hatte die Güte sich unter ihrem Rock zu verkriechen, wenn andere in die Nähe kommen konnten. Dann klammerte er sich an ihr Bein und blieb so unsichtbar und sie mochte es, wenn sein glattes Fell über ihre Beine strich.
Sin tauchte mit je einer Frucht in der Hand wieder zwischen den Blättern auf. Goscha breitete die Schürze ein Stück aus und Sin warf das Obst hinunter. Dann verschwand er wieder. Goscha lächelte. Eigentlich war Sin ein süßes Wesen. Er konnte nur so unglaublich viel Blödsinn anstellen und sie damit zum Lachen bringen. Wieder landeten Früchte in ihrer Schürze. Sie dachte daran, wie sein Gesicht mit den langen Schnurrbarthaaren das erste Mal zwischen den Zweigen hervorgeblickt hatte. Er hatte leicht geschnuppert und Goscha hatte das Gefühl gehabt, dass er grinste.
„Komm runter! Wir haben schon so viel, dass ich sie kaum noch tragen kann!“ Der dicke Stoff der Schürze sollte solche Lasten aushalten, doch sie war sich nicht ganz sicher. Sie konnte sich jetzt noch keine Neue leisten. Sin landete auf ihrem Kopf. Sie zuckte zusammen. „Was soll das?“, beschwerte sie sich. Doch Sin gab nur einen seltsamen gurrenden Laut von sich und begann in ihrem Nacken auf und ab zu schmiegen. Goscha atmete tief durch. Dann begann sie den Kopf zu schütteln. Sin wurde hin und her geworfen. Seine Krallen bohrten sich sanft in ihre Haut. Obwohl Goscha damit gerechnet hatte, schrie sie auf. Sin ließ sofort erschrocken los und hüpfte auf den Boden. Er wollte ihr nicht wehtun. Das wusste Goscha. Deswegen machte sie eine einladende Kopfbewegung, damit er wieder den Platz auf ihrer Schulter einnahm. Dann blickte sie in den Himmel. „Sieht nach Regen aus! Lass uns nach Hause gehen!“

K’vara begann mit dem Fingern auf ihren Saum zu spielen. Sie hielt den Blick gesenkt. Sie wusste, dass man das von ihr erwartete. Trotzdem versuchte sie alles im Raum in Überblick zu behalten. Auf den großen hölzernen Stuhl saß Vantra. Sie war eine Schönheit trotz oder vielleicht auch ein wenig wegen ihres Alters. In den dunklen Haaren konnte K’vara silberne Strähnen erkennen. Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig und symmetrisch und die Lippen stachen dunkel hervor. Auch ihre Hautflecken zeichneten sich deutlich ab und waren nicht so netzartig verschmiert wie bei ihr selbst. K’vara konzentrierte sich wieder auf ihre zweifärbigen Finger. Die Stimmen drangen wie gedämpft zu ihr. Sie brauchte auch gar nichts verstehen. Sie wusste um was es hier ging. Es war ein altes Ritual unter den Händlern. Ihre Mutter verhandelte ihren Preis. Ihr Vater war mit seinen Laden reich geworden. Er hätte wirklich jede helfende Hand gebraucht. Trotzdem hatten ihre Eltern sich dazu durchgerungen ihr eine Anstellung zu suchen, vor allem, weil Vantra ein Dienstmädchen brauchte. Vantra war schließlich nicht irgendwer. Ihre Familie war die Älteste in dieser Stadt. Sie hatten noch edles Blut in den Adern. Deswegen war Vantra wahrscheinlich auch so schön. Andere hätten alle Finger dafür gegeben, dort arbeiten zu dürfen. Es war ein Aufstieg, der ihren Vater sehr zu recht kommen würde, ein Aufstieg, der wichtiger war, als eine helfende Hand.
Sie redeten lange. K’vara hatte in ihrem Kopf mehrmals die sieben Silben der alten Sprache durchgenommen. Jetzt suchte sie nach einer weiteren Ablenkung, um nicht vor Langweile ein zu schlafen. Der Ausgang des Gesprächs interessierte sie gar nicht. Ob sie jetzt im Haus oder bei ihrem Vater arbeiten sollte, war ihr sowieso Einerlei und das Geld bekam nicht sie sondern ihre Eltern. Die würden ihr dann soviel geben, wie sie glaubten, dass ein junges Mädchen brauchte. Doch das alles würde nicht für lange sein. Sobald sie genug Gold gespart hatte, gab es kein Halten mehr. Sie würde versuchen einen Platz auf der Universität zu kriegen. Dort war sie dann weit genug weg von den Eltern und sie konnte von Stipendien leben. K’vara stellte sich vor, dass sie als Priesterschülerin nach ihrem ersten Jahr durch das Land reisen würde können. Sie wollte das Abenteuer, wollte die Welt sehen und dabei so viel lernen, wie es nur irgendwie ging.
K’vara hatte gerade 57 Flecken auf ihrer Hand gezählt, als Bewegung in die Erwachsenen kam. Vantra stand auf. Kurz darauf waren auch ihre Eltern auf den Füßen und sie folgte mit kurzer Verzögerung, so wie es sich gehörte. Das Buch der Sittlichkeitsregeln hatte sie auch auswendig lernen müssen. Jeden Tag eine von den 153 seit ihrem elften Geburtstag und nachdem sie einmal durch war, hatte sie wieder von Vorne beginnen müssen. Das gehörte zu der Erziehung einer gut bürgerlichen O’vank, eine gehobene Sirune, dazu. Ihre Mutter hatte immer gewollt, dass sie es besser haben sollte. Nun, sie hatte ihre eigenen Pläne. Vantra machte eine schnelle Bewegung mit der Hand. K’vara atmete fast schon erleichtert aus. Doch sie schaffte es so regungslos zu bleiben, wie es von ihr verlangt wurde. Das bedeutete, dass Vantra einverstanden mit ihr war. Das war K’varas erster Schritt in die richtige Unabhängigkeit. Sie glaubte fest daran.


© lerche


0 Lesern gefällt dieser Text.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Baum und Blume: Teil 1"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Baum und Blume: Teil 1"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.