Die Fahnen stehen auf Halbmast. Vor mir defilieren die Ereignisse der Vergangenheit vorbei: eine Zirkuskolonne, mit bunten Wagen, Clowns und Tigern, Elefanten und Akrobatinnen, zusammengefalteten Zelten und Musikkapellen. Alle zusammen spielen den Marsch, den Vorbeimarsch der seligen (Zeiten und Augenblicke – viele davon waren auch unselig.)
Mit feuchten Augen stehe ich am Straßenrand und nehme die Zurufe entgegen – denn hier bekommt das Publikum den Applaus! "Ich war die Hexe!" ruft mir ein (altes) Mädchen zu, das einmal in mich verliebt gewesen ist. "Und ich bin mit dir ausgezogen das Fürchten zu lernen!" meldet sich der Kraftmensch der Truppe, damit ich rückwirkend noch einmal staunen darf.
Mitten in der Brandung meiner Fantasie entdecke ich 2 bis 3 Ertrinkende, die ich damals noch retten wollte, aber sie waren einfach zu weit draußen! Mein Boot hatte ein Leck und ich war ein zu schlechter Schwimmer gegen den Strom, so daß ich schüchtern am Ufer blieb und zusah, wie sie fortgespühlt wurden. Jetzt schäme ich mich ein zweites Mal dafür!
Beherzt winke ich allen zu, dem ganzen Zug. Und denke mir: "Ach, könnte ich doch einmal nur mit dem Dompteur in der Manege stehen und den Raubtieren trotzen, oder könnte ich noch einmal die romantischen Spaziergänge mit der einen, ganz bestimmten Person wiederholen, die ich mit keiner anderen im Nachhinein improvisieren kann.
Dann wird mir ein bisschen schlecht, denn das Schauspiel löst sich in Seifenblasen auf, die ich vergeblich einzufangen versuche. Dabei hyperventiliere ich ein wenig, gerate aus dem (seelischen) Gleichgewicht, taumle und stürze beinahe zu Boden – wenn es mir nicht immer wieder gelänge mich aufzufangen wäre ich verloren. Bislang war mir das noch immer gelungen.
Doch mit den Jahren wird die Halluzination des vorbeiziehenden Zirkus immer größer. Immer mehr Leute winken mir zu und rufen: "War es nicht schön mit uns?" Ich nicke und schüttle den Kopf zugleich, denn nicht immer kann ich das bejahen, aber dann sehe ich die Sonne dieser Tage über den Zelten – und ich bin mir nicht mehr so sicher.
Irgend etwas fasziniert mich noch immer an dem vergangenen Treiben – und wenn es nur der Geist war, der mich damals erfüllte und der mir stets penetrant ins Ohr flüsterte: "Achte auf deine Hoffnungen, denn das Leben liegt vor dir!" Nichts hörte ich lieber als das! Dieses "Vormir" ließ mich die Menschen lieben wie ich sie sah – nicht wie sie vielleicht waren (sollte es mir jemals gelungen sein ihren wahren Wert zu entdecken).
Dann scheint mir alles wie ein Traum! Der Zirkus, mit all seinen Clowns, den Akrobatinnen, der Musikkapelle, dem Kraftmenschen, den Elefanten, Pferden und schließlich mit mir selbst. Darum winke ich nun mir selber zu, wie ich Abendlicht meines Lebens stehe und auf etwas zurückblicke, das vielleicht neimals gewesen ist. Wie bald werde ich wieder, zusammen mit den anderen Traumgestalten diese Pfade gehen, auf denen ich Hexen und Kobolde traf, um zusammen mit ihnen das Fürchten zu lernen?
Wenn Macht regiert durch Angst und Schrecken,
Blutspuren manch Bürgersteig bedecken.
Mord und Totschlag den Tag „versüßen“,
Menschen mit ihrem Leben büßen.
Licht malt helle Leuchtspurbahnen
in den Alterungsprozess,
Dinge, die von weither kamen,
setzen sich in Träumen fest,
die dir längst Vergangenes bringen
und dein Hiersein noch [ ... ]
Du findest die Hose! Aber die
Strümpfe sind weg. Du suchst die
Strümpfe. Und findest das Hemd.
Und findest die Schuhe. Und den
Schal. Nur nicht die Strümpfe.
Dann setzt Du die Brille auf. [ ... ]
Heute habe ich die Wahl der Qual, denn ich will mir die Zeit vertreiben, die mich vertreibt, damit ich nicht auf ewig etwas Übles anstellen kann. Soll ich mich, aus Verlegenheit, einfach [ ... ]