Melancholia major

© Alf Glocker

Die Fahnen stehen auf Halbmast. Vor mir defilieren die Ereignisse der Vergangenheit vorbei: eine Zirkuskolonne, mit bunten Wagen, Clowns und Tigern, Elefanten und Akrobatinnen, zusammengefalteten Zelten und Musikkapellen. Alle zusammen spielen den Marsch, den Vorbeimarsch der seligen (Zeiten und Augenblicke – viele davon waren auch unselig.)

Mit feuchten Augen stehe ich am Straßenrand und nehme die Zurufe entgegen – denn hier bekommt das Publikum den Applaus! "Ich war die Hexe!" ruft mir ein (altes) Mädchen zu, das einmal in mich verliebt gewesen ist. "Und ich bin mit dir ausgezogen das Fürchten zu lernen!" meldet sich der Kraftmensch der Truppe, damit ich rückwirkend noch einmal staunen darf.

Mitten in der Brandung meiner Fantasie entdecke ich 2 bis 3 Ertrinkende, die ich damals noch retten wollte, aber sie waren einfach zu weit draußen! Mein Boot hatte ein Leck und ich war ein zu schlechter Schwimmer gegen den Strom, so daß ich schüchtern am Ufer blieb und zusah, wie sie fortgespühlt wurden. Jetzt schäme ich mich ein zweites Mal dafür!

Beherzt winke ich allen zu, dem ganzen Zug. Und denke mir: "Ach, könnte ich doch einmal nur mit dem Dompteur in der Manege stehen und den Raubtieren trotzen, oder könnte ich noch einmal die romantischen Spaziergänge mit der einen, ganz bestimmten Person wiederholen, die ich mit keiner anderen im Nachhinein improvisieren kann.

Dann wird mir ein bisschen schlecht, denn das Schauspiel löst sich in Seifenblasen auf, die ich vergeblich einzufangen versuche. Dabei hyperventiliere ich ein wenig, gerate aus dem (seelischen) Gleichgewicht, taumle und stürze beinahe zu Boden – wenn es mir nicht immer wieder gelänge mich aufzufangen wäre ich verloren. Bislang war mir das noch immer gelungen.

Doch mit den Jahren wird die Halluzination des vorbeiziehenden Zirkus immer größer. Immer mehr Leute winken mir zu und rufen: "War es nicht schön mit uns?" Ich nicke und schüttle den Kopf zugleich, denn nicht immer kann ich das bejahen, aber dann sehe ich die Sonne dieser Tage über den Zelten – und ich bin mir nicht mehr so sicher.

Irgend etwas fasziniert mich noch immer an dem vergangenen Treiben – und wenn es nur der Geist war, der mich damals erfüllte und der mir stets penetrant ins Ohr flüsterte: "Achte auf deine Hoffnungen, denn das Leben liegt vor dir!" Nichts hörte ich lieber als das! Dieses "Vormir" ließ mich die Menschen lieben wie ich sie sah – nicht wie sie vielleicht waren (sollte es mir jemals gelungen sein ihren wahren Wert zu entdecken).

Dann scheint mir alles wie ein Traum! Der Zirkus, mit all seinen Clowns, den Akrobatinnen, der Musikkapelle, dem Kraftmenschen, den Elefanten, Pferden und schließlich mit mir selbst. Darum winke ich nun mir selber zu, wie ich Abendlicht meines Lebens stehe und auf etwas zurückblicke, das vielleicht neimals gewesen ist. Wie bald werde ich wieder, zusammen mit den anderen Traumgestalten diese Pfade gehen, auf denen ich Hexen und Kobolde traf, um zusammen mit ihnen das Fürchten zu lernen?


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Melancholia major"

Re: Melancholia major

Autor: axel c. englert   Datum: 19.06.2016 14:53 Uhr

Kommentar: Ja, der Lebenszirkus, bunt -
Dreht wild im Manegenrund ...

LG Axel

Re: Melancholia major

Autor: possum   Datum: 20.06.2016 0:56 Uhr

Kommentar: Einmalig hier dein Werk, sehr gerne angehalten! Liebe Grüße!

Re: Melancholia major

Autor: Alf Glocker   Datum: 20.06.2016 7:47 Uhr

Kommentar: Vielen Dank liebe Freunde

LG Alf

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