Drei Nächte im Jahr brutzelt stinkendes Öl in grossen Kesseln vor sich hin, werden Käfer und Maden knusprig gebraten und nicht nur die klapprigen Skelette tanzen bei Katzenmusik nackt auf den Tischen. Es sind die Nächte, in denen die Unterwelt ein grosses Fest feiert, ihr grosses Fest. Denn in der zweiten Nacht, da stehen die Tore zur Welt der Menschen offen. Dann ist es für die Geschöpfe der Unterwelt die Zeit, sich zusammenzutun und die grosse Jagd auf die Menschen eröffnen.

Joschek sass abseits und beobachtete das wilde Treiben mit gerunzelter Stirn. Es war nicht das erste Mal, dass er das grosse Fest miterlebte. Und es war nicht das erste Mal, dass er sich angewidert abwandte. Denn Joschek war kein gewöhnlicher Untoter: Käfer, Maden und ganz besonders Menschenfleisch widerten ihn an, von Blut wurde ihm speiübel – und ausserdem hatte er blasse Erinnerungen an eine Zeit vor der Unterwelt, an ein Leben. Er war nun aber schon so lange hier, dass die Erinnerungen immer schwächer wurden, nur der Traum blieb immer gleich. Seit vielen, vielen Jahren schon träumte er immer wieder denselben Traum: Joschek schaute vom Kirchturm auf den Fluss, der sich wie eine silberne Schlange durch die Felder wand. Dann betrachtete Joschek seine Hände und stellte überrascht fest, dass es kräftige, gesunde Menschenhände waren und nicht die grauen, dürren, von vielen Narben gezeichneten Finger mit den schmutzigen Nägeln. Und wenn er seine staunenden Augen vom Anblick der Hände endlich lösen konnte und um sich sah, bemerkte er, dass er plötzlich am Ufer des Flusses sass. Immer konnte er einen schimmernden Gegenstand am Grund des Flusses ausmachen, von dem er nur wusste, dass alles gut sein würde, wenn er ihn nur nur bergen könnte. Joschek aber konnte nicht ins Wasser steigen, Untote konnten fliessendes Wasser nicht berühren.

Auf der Erde musste es Tag geworden sein, denn das Fest in der Unterwelt war ein bisschen leiser und die Feiernden ein bisschen geschäftiger geworden. Joschek beobachtete, wie emsig die Feuer geschürt wurden, über denen das Menschenfleisch geschmort werden sollte. Er schüttelte den Kopf, als er sich an die letzten Feste erinnerte, an denen das Öl in den Kesseln verbrannt war, denn immer hatten die Untoten ihre Körbe leer zurückgebracht, immer war ihre Gier zu gross gewesen.
Inzwischen war es an der Zeit, sich für den Ausflug an die Oberwelt zu richten, er wollte der Erste sein, der oben ankam, und der Letzte, der zurückkehrte. Während in der Höhle die Vorbereitungen für das grosse Kochen weitergingen, schlich sich Joschek zu einem langen Gang, der zu einem der Ausgänge führte. Er setzte sich auf einen Stein und lauschte dem entfernten Grunzen und Schmatzen, das den Aufbau der grossen Küche begleitete. Irgendwo hörte er ein leises Wimmern. Ein Wimmern? dachte er verwundert und strengte seine fahlen, runden Augen an, die in der Dunkelheit sehr viel besser sehen konnten als jedes Menschenauge. Zwischen Felsen, bleichen Knochen und grinsenden Schädeln entdeckte er ein zitterndes Bündel aus dem ein zartes Stimmchen sprach: «Bitte, tu mir nichts.»
Joschek erstarrte und glotzte das Bündel an, das sich ganz langsam erhob und sich als Mädchen mit verstrubbelten Haaren und einem abgetragenen Flickenkleid entpuppte.
«Wer bist du?»
«Cara.»
«Cara... Und was willst du hier, Cara?»
«Meinen Papa finden.»
«Deinen Papa?»
Cara nickte aufgeregt. «Sie hat gesagt, dass ich ihn hier finde. Sie hat es mir versprochen!»
«Sie?»
«Varka.»
«Varka...» wiederholte Joschek leise und sagte mehr zu sich selbst als zu dem Mädchen: «Hat es die alte Hexe wieder mal geschafft!»
«Sie ist nicht alt!» protestierte Cara und Joschek huschte ein Lächeln übers Gesicht. Vielleicht, dachte Joschek dann, kann sie mich an den Fluss führen. Er wandte sich wieder dem Mädchen zu: «Da hast du wohl recht, so alt sieht die Varka nicht aus. Erzähl mir, Cara, hat sie dich hierher gebracht?»
«Ich habe den Weg hierher ganz alleine gefunden, nur den Weg nach Hause kann ich nicht finden. Und Papa ist ganz bestimmt nicht hier, hier hätte es ihm nicht gefallen.» Sie blickte zurück und schauderte. Joschek fragte sich, wie weit sie sich wohl in die Höhle vorgewagt haben mochte.
«Cara, sag mir, kennst du einen grossen Fluss hier in der Nähe?»
«Du meinst die Nazdya?»
«Kann sein, kann sein», murmelte Joschek und beschloss, dass er Cara heil nach oben bringen würde, damit sie ihm den Weg zum Fluss weisen würde. «Ich werde dir den Ausgang zeigen, Cara, und du zeigst mir dafür den Weg zum Fluss. Einverstanden?» Cara nickte und liess sich von Joschek tiefer in den Gang führen. Sie gingen eine ganze Weile schweigend nebeneinander her, bis Cara schliesslich fragte: «Wie heisst du?»
«Joschek», sagte Joschek.
«Joschek...», murmelte Cara nachdenklich, bevor sie aufgeregt ausrief, «hier bin ich reingekommen!» Die Umrisse eines hölzernen Tors waren vor ihnen aufgetaucht. Cara wollte gerade nach dem grossen Knauf greifen, als Joschek sie zurückzog.
«Du darfst das Tor nicht berühren, noch nicht! Der Zauber würde dich töten – oder Schlimmeres mit dir anstellen. Du könntest hier landen.» Er machte eine ausladende Bewegung und Cara zog ihre Hände hastig zurück.
«Wie kommen wir hier also raus?»
Joschek grinste und antwortete: «Heute ist eine heilige Nacht für die Geschöpfe der Unterwelt. Sobald sich die letzten Sonnenstrahlen von der Erde verabschiedet haben, öffnen sich die Tore und wir können die Welt der Menschen betreten. Dann wird die Jagd auf die Menschen eröffnet. Und das wird der Augenblick sein, in dem du in meinen Korb springst und dich solange versteckt hältst, bis ich dir sage, dass du rauskommen kannst.»
Cara starrte ihn mit grossen Augen an, wich ein bisschen zurück und fragte vorwurfsvoll: «Die Jagd auf die Menschen?»
Joschek zuckte mit den Schultern und nickte. «So ist der Lauf der Welt. So war er schon immer und so wird er immer sein. So lange die Gier unter den Menschen regiert, solange feiern ihre Geschwister in der Unterwelt ihre Feste und rufen einmal im Jahr zur Menschenjagd.»
«Und warum tust du mir nichts?»
Joschek kicherte und erwiderte: «Ich bin eine Ausnahme, mir bekommt Menschenfleisch nicht.»

Körper stiessen gegeneinander, Metall klirrte, Körbe knarrten, es wurde geschrien, gekeift und gelacht; als die letzten Sonnenstrahlen über die Erde glitten, hatte sich im Gang eine wilde Horde versammelt, die gierig darauf wartete, das Tor durchqueren zu können. Joschek stand irgendwo mittendrin und hielt auf den Felsvorsprung zu, hinter dem Cara kauerte. Als er den Felsvorsprung erreicht hatte, setzte er seinen Korb ab und Cara kletterte hastig herein. Das Tor stand inzwischen weit offen und gab den Blick frei auf eine Ebene, die in der Dämmerung lag. Rauch stieg von den Dächern des fernen Dorfes auf.
Joschek trat über die Schwelle, sah nach rechts und nach links, sprang schliesslich mit einem leichten Satz über die Friedhofsmauer und ging tief in den Wald. Erst als er sich sicher war, dass ihm niemand gefolgt war, setzte er seinen Korb ab und liess Cara herauskommen. «Sag, bist du Joschek, der Drachensucher?» frage sie ihn, noch bevor sie ganz aus dem Korb geklettert war. Joscheks Ohren klingelten. Joschek Drachensucher, so hatte man ihn geheissen, noch bevor er wirklich ausgezogen war, den Drachen zu bezwingen!
Als er nicht antwortete fuhr Cara fort: «Grossvater erzählt viele Geschichten, auch die von Joschek dem Drachensucher aus unserem Dorf. Er war ein armer Müllerssohn und hat vor langer Zeit hier gelebt. Der Müllerssohn hat sich in die Tochter eines hartherzigen Fürsten verliebt, die zwar schön und klug war, aber eben auch so hartherzig und gierig wie ihr Vater. Nur wegen ihr hat Joschek sich in die Höhle des Drachen gewagt! Wenn Joschek dem Drachen dem Kopf abschlüge, so versprach sie ihm, würde sie ihn zum Mann nehmen und zum Fürsten des Reiches machen. Joschek hat sich blenden lassen und den Drachen in seinem Schlaf gestört. Grossvater sagt, dass Joschek mit seinem Herzen dafür bezahlt hat und dass er noch heute danach sucht. Sein Herz soll auf dem Grund der Nazdya liegen und Joschek solange zwischen den Welten wandeln, bis er es wieder gefunden hat. Fehlt dir das Herz, Joschek?»
Joschek nickte stumm, plötzlich erinnerte er sich an alles; an den Fürsten und seine Tochter, an den Drachen, an die glänzenden Schuppen, die goldenen Augen und an die Stimme, die zu ihm gesprochen hatte: «Joschek, Joschek. Man stört eines Drachen Schlaf nicht ungestraft!» Danach wusste er nichts mehr, bis er irgendwann aus langer Dunkelheit aufgewacht war und sich in der Unterwelt wiedergefunden hatte.

All die Jahre hatte er immer wieder versucht, den Fluss zu finden, aber nie war es ihm gelungen. Und jetzt, da er plötzlich an seinem Ufer stand, wusste er, dass er nichts würde tun können, denn er konnte sich sich dem Wasser nicht nähern, seine Beine versagten ihm einfach ihren Dienst. So kniete er in der weichen Erde und seufzte, Cara grinste. «Hab ich dir schon erzählt, dass ich eine wunderbare Schwimmerin bin?» Sie stand schon mit beiden Füssen im Wasser.
«Warum tust du das für mich?»
«Grossvater sagt, wir müssen Augen – und Türen – offen halten und von allen Geschöpfen Gutes denken. Sie zeigen dir früh genug, wenn sie nicht gut sind», antwortete sie fröhlich, streifte ihr Kleid ab und sprang mit einem gekonnten Sprung in den Fluss. Sie winkte Joschek zu, bevor sie tief Luft holte und tauchte. Als sie das dritte Mal auftauchte, jubelte sie und hielt ein glitzerndes Etwas hoch. Mit kräftigen Zügen schwamm sie zum Ufer zurück und hielt Joschek eine Schatulle hin. Sie sah so aus wie in seinem Traum. Joscheks Finger zitterten, als er den Deckel hochhob. Seine Augen wurden weit und rund, als er sein Herz darin fand; es pochte leise, als er es berührte. Eine Träne rollte über seine Wange. Cara sah ihn an und fragte: «Jetzt darfst du gehen, nicht wahr?»
Joschek nickte und lächelte.

In der folgenden Nacht war Cara das einzige lebende Wesen, das sich freiwillig auf den Friedhof wagte und eine Kerze für Joschek und all die anderen verirrten Seelen anzündete.


© Janine Meyer


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Kommentare zu "Wie Joschek sein Herz wiederfand"

Re: Wie Joschek sein Herz wiederfand

Autor: Evia   Datum: 04.01.2016 0:29 Uhr

Kommentar: Das war heute meine
Gute Nacht Geschichte
Dankeschön

Evia

Re: Wie Joschek sein Herz wiederfand

Autor: axel c. englert   Datum: 04.01.2016 1:40 Uhr

Kommentar: Das Herz gefunden, nicht allein:
Auch die Geschichte fand ich fein!

LG Axel

Re: Wie Joschek sein Herz wiederfand

Autor: janevil   Datum: 12.01.2016 12:06 Uhr

Kommentar: Evia, Axel, herzlichen Dank für die Komplimente. Auch wenn ich lang geschwiegen hab, ich hab mich sehr darüber gefreut :-)

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