Lisa

Sie lag schon den dritten Tag im Bett. Ihr Körper war völlig ausgebrannt. Sie verstand nicht wieso. Man hatte ihr Blut abgenommen und ihre Entzündungswerte bestimmt. Aber da war nichts. Sie hatte einfach nur Fieber. Sie war auch nicht verkühlt oder sonst etwas. Sie vertrösteten sie damit, dass man ihre Werte genauer auswerten wollte. Darauf musste sie jetzt zwei Wochen warten. In der Zwischenzeit lag sie im Bett. Am ersten Tag war es noch in Ordnung gewesen. Inzwischen hasste sie es. „Hier! Ich hab dir Suppe mitgebracht! Du magst doch Suppe!“ Sie nickte schwach. Sie konnte jetzt nichts essen. „Soll ich dich füttern!“ „Nein, bitte nicht! Das macht alles nur dreckig! Isst du deines, ich iss meines.“ Nur zögerlich stellte Chris das Tablett auf ihren Schoß ab. Sie griff danach und begann vorsichtig zu essen. Es war brennheiß. Sie schwitzte. Nach der Suppe würde sie noch mehr schwitzen. Später, wenn Chris Training hatte, konnte sie duschen gehen. Aber jetzt klebte er auf ihr drauf, wie ihre Kleidung. So war es schon von Anfang an gewesen. Mit den anderen hatte sie nie so viel Kontakt gehabt wie mit ihm. Besonders Gerd war am Anfang zurückhalten gewesen. Dabei war er doch der Spaßmacher bei ihnen. Sie brachte nichts mehr hinunter und schob die Suppe ein wenig weg. Chris merkte es natürlich sofort. „Willst du etwas von mir?“ „Nein, Chris, ich will gar nichts von dir!“, seufzte sie erschöpft. „Sicher?“ „Chris, lass mich in Frieden!“ Sonst fand sie es süß, wenn er versuchte sich um sie zu kümmern. Aber jetzt war sie nur genervt. Sie konnte das Nachmittagstraining gar nicht mehr erwarten. Es klopfte an der Tür. Chris sprang auf um sie zu öffnen. „Sie will ihren Frieden. Sie will niemanden sehen!“, erklärte Chris dem Neuankömmling. Sie fuhr hoch. „Chris?“, rief sie scharf. „Ich will das lieber von ihr selbst hören!“, erklärte Gerd. Sie ließ sich zurückfallen. Sie hatte gehofft, dass es Hem wäre. Doch dann schwang sie sich wieder hoch. Vielleicht war Gerd sogar besser. Er hatte sie schließlich auf die Idee gebracht. „Komm rein!“ Zögerlich ließ Chris Gerd an sich vorbei. Er war nicht glücklich. In dem Moment hasste sie seine Eifersucht. „Nur kurz! Sie braucht Ruhe!“ Jetzt explodierte sie. Wenn es jemanden gab, der ihr keine Ruhe ließ, dann war das Chris! „Ich habe es so satt! Hör auf mich zu bevormunden. Verschwinde! Ich will dich nicht sehen!“, schrie sie ihn an. Er starrte. „Aber…“ Ihr Blick spuckte Feuer. Zögerlich griff er nach dem Essen. „Ich komme heute Abend wieder!“ „Nein, du kommst heute gar nicht mehr wieder.“ Chris schluckte leicht. Aber er ging. Ob er sich an ihr Verbot hielt, war eine völlig andere Sache.
Gerd setzte sich auf ihre Bettkante. Er griff nach ihrer Stirn. „Ganz schön heiß! Wie viel hast du?“ „39°C“ „Hast du schon versucht die Temperatur zu senken?“ „Ja, aber es schnellt immer wieder hoch!“ Er nickte. „Und es ist keine Infektion!“ Sie schüttelte den Kopf. Er nahm ihre Hand in seine. Sie waren so angenehm und kühl. „Ganz schön beeindruckend, was du gerade gemacht hast.“ Gerd grinste von einem Ohr zum anderen. „Chris braucht das! Er hat zu viel Energie!“ „Und er entlädt sie alle auf dich! Was hast du gemacht?“ Seine kühle Hand legte sich auf ihre Stirn. Sie war ihm noch nie so nah gewesen. Hatte er sie jemals vorher berührt? So viele Verhaltensmuster hatten sich hier eingespielt, bevor sie aufs Institut gekommen war. Sie hatte sie bisher nicht hinterfragt. Aber Hems Worte hatten irgendwie alles verändert. Stockend begann sie Gerd zu erzählen, was sie in der Dusche gemacht hatte, bevor Hem dazugekommen war. „Das ist hässlich! Das hatte ich auch schon mal!“ Sie starrte Gerd an. Was? „Hab einige Stunden gebraucht, um es wieder los zu werden!“ Das war gerade nicht wahr, oder? Gerd machte sie fertig. „Und was hast du gemacht?“ Er legte seinen Finger auf seine Lippen. „Unser kleines Geheimnis!“ Dann drückte er wieder ihre Hand und erklärte ihr, was sie anders machen musste.
Gerd stand auf. Sie fühlte sich besser, noch immer matt, aber sie glühte nicht mehr. „Ich sollte gehen! Ich bin schon wieder spät dran!“ Er grinste. Gerd kam immer im letzten Moment. Wenn er früher dran war, war etwas verdächtig. Zu spät war er nie. „Hem hat erzählt, dass du und Chris euch gestritten habt.“ Seine Augen blitzten kurz. „Das war vor deiner Zeit!“ Sie wartete. Er seufzte. Auch Gerd konnte seufzen. „Chris hat mich im Stich gelassen. Wir sind ein Team. Wir sind alle ein Team und er hat mich im Stich gelassen. Das geht nicht! Übrigens…“ So, als wäre es ihm gerade erst eingefallen, holte Gerd etwas aus seiner Jackentasche hervor. „Hem meinte, du wolltest das. Spanisch! Ich weiß nicht, was ihr an dieser Sprache findet.“ Er warf zwei Bücher aufs Bett. Sie lehnte sich vor und griff danach. „Danke Gerd! Danke für alles!“ „Wir sind ein Team!“ „Wir sehen uns beim Abendessen!“ „Besser nicht! Du bist sicher noch ziemlich matt. Wir organisieren irgendetwas!“ Sie wollte protestieren, ließ es aber doch bleiben. Jetzt griff sie nach den Büchern und zog sie zu sich heran. Sie lächelte. Gerd grinste und im nächsten Moment war er aus dem Zimmer. Sie blickte auf die Uhr. Er hatte noch zwei Minuten. Das ging sich locker aus.


Gerd

Die Koordinationsübung war richtig anstrengend gewesen. Er war völlig durchgeschwitzt, ohne dass er sich wirklich stark bewegt hatte. Er wollte unter die Dusche und danach etwas essen. Hem holte ihn ein. „Wie geht es ihr?“ „Liz geht es gut! Alles wieder geregelt!“ „Wie geregelt?“ Er nahm Hems Oberarm und ließ seine Körpertemperatur bewusst um etwa zwei Grad ansteigen. Dann senkte er sie wieder. „So geregelt!“ Hem hob die Augenbrauen. „Du hörst nicht auf mich zu überraschen.“ „Hast du das nie gemacht? Experimentiert!“ „Ich habe immer gehasst, wer ich bin. Ich wollte immer so normal wie möglich sein, nicht anders!“ „Ich wollte immer meine Limits wissen.“ Er grinste. „Hat sie sich über die Bücher gefreut?“ „Ja, sie hat gelächelt!“ Hem seufzte. „Ich denke, Chris ist jetzt wieder bei ihr!“ „Das denke ich nicht!“ „Wieso?“ Er grinste jetzt breiter. „Sie hat Chris rausgeworfen!“ Die Erinnerung an Chris Gesichtsausdruck, würde ihm noch länger Genuss bereiten. „Ihre Worte waren: Ich habe es so satt! Hör auf mich zu bevormunden. Verschwinde! Ich will dich nicht sehen!“ Hem nickte betroffen. „Was ist los?“ „Ich wollte das nicht!“, murmelte er. Plötzlich begriff er, was an Hem nagte. Er ergriff Hems Arm und stoppte ihn. Sie blickten sich tief in die Augen. Das war unangenehm. Aber er musste Hem endlich zur Rede stellen. Er hatte seinen Profund vor über drei Wochen bekommen und er hatte noch immer kein Wort zu ihm oder Sheila gesagt. Er konnte das nicht die ganze Zeit alleine mit sich rumschleppen. Er wollte es auch nicht mehr alleine mit sich rumschleppen. „Hast du es ihr gesagt?“ Hem senkte den Blick. „Hem, ich habe nicht nachgeschaut, aber Chess hat und sie hat es mir gesagt. Und…“ Er brach ab, weil ihm plötzlich die Worte im Hals stecken blieben. Aber Hem hatte verstanden. Er nickte. „Ich habe es ihr gesagt. In Ordnung: Sie weiß, auf was sie sich einlässt! Ich hab sie nicht belogen. Ich…“ Er seufzte. „Ich wollte das nicht! Ich wollte, dass sie mit Chris glücklich ist!“ „Niemand ist mit Chris glücklich, außer Chris!“ „Da hast du vielleicht recht!“ „Du solltest ihr essen bringen!“ Hem zögerte. „Gehst du jetzt endlich?“ „Ich weiß nicht…“ „Du bist ein Idiot!“ Hem seufzte. Er gab ihm einen Stoß. „Wirst du jetzt endlich gehen!“


Lisa

Sie saßen neben einander im Bett. Hem hielt ihre Hand, während er von Orten aus aller Welt erzählte, die er alle noch einmal sehen wollte. Da war Rom mit seiner unglaublichen Geschichte oder der Norden, wo es kaum Menschen gab. Er redete von Russland, das so riesig war, dass man sich das kaum vorstellen konnte. Tempel, deren Dächer mit dem Himmel verschmolzen in Taschkent und Sommer, die unerträglich heiß waren und Winter, die ewig andauernden. Er erzählte von den Farben und Gewürzen von Indien und den Hochhäusern in Singapore. Er malte ihr eine fantastische Welt aus Farben und Eindrücken in ihren Kopf. Und sie wollte diese Welt sehen. Sie wollte raus aus diesen vier Wänden. Sie wollte diese Orte mit ihren eigenen Augen sehen, so wie nur sie es sehen konnte. Sie wollte sie in sich aufnehmen, einsaugen, mit allen Sinnen erleben. Sie lehnte gegen seine Schulter. „Bringst du mich dort hin?“, murmelte sie, als er von den glühenden Wüsten Afrikas erzählte. „Vielleicht“, entgegnete er. „Du bist nicht ernst!“ „Vielleicht!“ Sie schlang ihren Arm um seinen Oberkörper. Sie spürte sein Gerüst und das brachte sie wieder zurück aus dem Reich der Träume. Jetzt war sie wieder in ihrem Zimmer am Institut und morgen würde die schreckliche Realität wiederkommen. Hem würde bald sterben. Er würde keinen einzigen Ort, von dem er ihr vorgeträumt hatte, jemals selbst sehen. Sie legte ihren Fuß über seinen Körper und schwang sich über ihn. Ihre Hand legte sich auf sein Gerüst. „Tut es sehr weh!“ „Ich bekomme Schmerzmittel!“ Sie küsste ihn. Dann blickte sie auf sein eingefallenes Gesicht herab. Es war blass. Seine Haare waren deutlich grauer geworden in den letzten Wochen. „Was bist du für ein Mensch?“ Ihre Hände fuhren zu seinen Wangen. Er ließ es still über sich ergehen. „Ich weiß gar nichts von dir. Ich weiß nicht einmal etwas von mir. Was ist real? Was ist wahr? Ich versteh das alles nicht mehr!“ „Ich weiß auch nicht mehr, was real ist. Doch gleichzeitig weiß ich, dass du real bist. Du bist real und hier und du willst uns alle retten!“ Sie beugte sich über ihn. Ihre Lippen streiften an seinen. „Aber ich kann dich nicht retten.“


© lerche


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