Gerd

sechs Monate früher

Er ließ sich auf Sheilas Bett fallen und verschränkte seine Hände hinter seinem Kopf. Sheila hob eine Augenbraue. Sie hatten noch ein wenig Zeit bis zur Analyse. Heute war er besonders früh gestorben. Er erwartete sich keine lange Besprechung. Worüber sollten sie reden? Sheila setzte den Bogen an, spielte ein paar Takte, ließ ihn wieder sinken. Dabei warf sie ständig irritierte Blicke auf ihn. Er störte. Deutlicher konnte Sheila es gar nicht sagen. Es war ihm egal. Mit einer Sanftheit, die man sonst bei ihr nie zu sehen bekam, legte sie ihr Instrument wieder zurück in den Kasten. Dann ließ sie sich auf ihren Stuhl sinken. „Du, Sheila, denkst du manchmal daran, wie es wohl ist, wenn du nicht hier leben müsstest?“ Sie lachte auf. Ihre raue Stimme schnitt sich in sein feines Gehör. „Die ganze Zeit! Nie! Was macht es für einen Unterschied? Das sind wilde Träume.“ „Aber hast du denn keinen Ort, den du sehen willst? Irgendetwas, was du machen willst?“ Sie nahm wieder ihren Bogen in die Hand, begann unruhig daran herumzutasten. „Was ist mit dir? Du hast scheinbar konkrete Pläne, wenn du aus diesem Drecksloch draußen bist.“ Drecksloch war Sheilas neuer Spitzname für dieses charmante Institut. Sie hatte sich schon länger keinen neuen mehr einfallen lassen. Es war wirklich wieder einmal Zeit. „Keine Antwort? Auch egal! Ich sag dir was: Wenn wir hier irgendwie ungesehen rauskommen, Kamera und Wachleute und alles beiseite, dann gebe ich uns genau drei Stunden, bis sie uns wieder einfangen. Eher weniger! Wir wissen doch gar nichts von der Welt da draußen. Wir können doch nicht einmal atmen, ohne dass wir auffallen.“ Sheilas Finger waren angespannt. Er machte sich Sorgen um ihren Bogen. Sheila hatte zu viel Kraft. Wenn sie ihn zerstörte, dann würde sie nicht so schnell einen Neuen bekommen. Musik war für Sheila die einzige Möglichkeit sich emotional unter Kontrolle zu bringen, ohne dass etwas zu Bruch ging. „Magst du das nicht weglegen?“ Sie starrte auf ihre Finger, so als sehe sie den Bogen darin zum ersten Mal. Fast schockiert legte sie ihn weg. „Du hast recht! Es wird langsam Zeit, dass wir gehen.“ Er war sich sicher, sie hatten noch eine Ewigkeit. Träge hob er sich vom Bett hoch. Sheila zog hinter ihm den Laken und die Decke glatt. Sie war so fixiert. Sie warf ihm einen Blick zu, als wäre er Ungeziefer. Scheinbar war sein Gedanke gut genug auf seinem Gesicht zu sehen gewesen. Sie drängte ihn nach draußen. „Hem hat diesen Bildband über afrikanische Wüsten. Hast du den schon einmal gesehen?“ Er stockte vor Überraschung. Sheila ging einfach weiter. Mit ihrem raubtierhaften Schritt stolzierte sie vorne weg. Er konnte sie sich gut vorstellen mitten im Nirgendwo. Sie war dort besser aufgehoben als unter Menschen.

Hem schleppte ihn zur Hochhausübung. Sie waren heute alleine. Chris hatte am Vormittag plötzlich Temperatur bekommen. Da war Sheila schon mit den Kleinen aus der Generation 3 eingeteilt. Inzwischen nannten sie die wachsende Zahl Kindersoldaten. Also hatte Lisa frei und durfte sich um Chris kümmern. Er wusste nicht, was die anstrengendere Arbeit war. Da fiel ihm wieder etwas ein und er griff in seine Hosentasche. Er hielt Hem die halbe Packung Nikotinkaugummis hin. Bisher hatte er sie immer absichtlich verbraucht, hatte einmal sogar ein paar gesammelt und versucht high zu werden. Die Erinnerungsfetzen daran versuchte er seitdem aus dem Kopf zu bekommen. Aber solche Spiele waren eigentlich nur Verschwendung. „Was soll ich damit?“ „Die sind für Liz!“ „Wieso gibst du sie ihr nicht selbst?“ Wieso konnte Hem das nicht einfach annehmen? Er grinste leicht. „Ich glaube, du willst sie ihr geben!“ Hems Stirn runzelte sich. Hatte er es vielleicht selbst noch nicht richtig begriffen? „Außerdem möchte ich nicht mit Chris in die Haare kommen, weil ich nett zu ihr bin!“ Hem nahm endlich den Kaugummi und steckte ihn in die Tasche. Er brauchte gar nicht sagen, was er von seinem Verhältnis zu Chris hielt. Zu seiner eigenen Verteidigung konnte er nur sagen, dass Chris es ihm wirklich nicht leicht machte. „Du, Hem! Wenn du hier weggehen könntest, was würdest du tun?“ Hem überlegte nicht lange. „Ich denke Tashkent. Rom wäre natürlich auch toll. Cairo ist auch ganz sicher auf der Liste und die verbotene Stadt. Oder Norwegen! Die Landschaft dort soll wunderschön sein.“ Er seufzte. „Es gibt so viel auf dieser Welt, was ich sehen möchte.“ „Hast du keine Angst?“ „Wie Angst? Vor den Menschen? Sicher, aber die wissen doch gar nicht, wer ich bin!“ „Und was hält dich dann hier?“ „Eine dicke Mauer, einige Videokameras, das Faktum, dass ich weder Geld noch gültige Dokumente besitze, und das ich euch nicht alleine lassen will!“ Die Dokumente waren wirklich ein Problem. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Aus diesem Gefängnis aus zu brechen, war so schwer, wie die Hochhausübung. Sobald man ein Hindernis überwunden hatte, stellte sich plötzlich ein nächstes in den Weg. Aber es gab nur eine Möglichkeit beide Sachen zu schaffen. Er musste seinem jeweiligen Partner völlig vertrauen. Er tat seine Aufgaben, sie taten ihre Aufgaben. „Wenn ich es schaffen würde, all diese Hindernisse zu überwinden. Würdest du mit mir und Sheila dann hier rausgehen?“ Hem stoppte und schaute ihm in die Augen. Er hielt dem Blick stand. Schließlich seufzte Hem. „Ich weiß es nicht! Ich kann es nicht sagen!“ „Wieso?“, feuerte er nach. „Weil es dann immer noch Chris und Liz und die Kinder gibt.“ Er nickte. Natürlich dachte Hem an die anderen. Den Luxus konnte er sich nicht leisten. Er würde kämpfen. Aber er wusste jetzt auch, er konnte sich im Zweifelsfall auf Hem verlassen.


© lerche


0 Lesern gefällt dieser Text.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Medus - Teil 7"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Medus - Teil 7"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.