Lisa

Sie löste ihr Haarband und schüttelte ihre Locken aus. Sie hatte mehrere Stunden im Kraftraum verbracht und wollte jetzt noch ihr Pensum schwimmen. Am Institutsgelände stand ihnen das modernste Fitnesszentrum, das es gab, zur Verfügung. Jeder konnte seine Sportart wählen, wie er wollte. Die Bedingung war, dass sie sich fitt hielten. Was nützte es einen Kopf zu haben, der jeden Moment einzeln aufnahm, wenn der Körper nicht darauf reagieren konnte? Sie mochte den Sport und machte meistens mehr, als eigentlich notwendig war. Sie war voller Energie. Sie drehte ihre Haare hoch und schob sie unter die Badehaube. Hem kam mit Sheila gerade aus dem Kraftraum. „Wo ist eigentlich Chris?“ „Der fühlt sich nicht besonders und hat sich krankschreiben lassen.“ „Was? So eine Memme!“ „He, ihm geht es wirklich nicht gut! Seine Augen sind ganz rot und sein Hals auch. Seine Stimme ist nur noch ein Krächzen und er hat Temperatur!“ Hem ließ seine Tasche mit den Sportsachen fallen. „Wie praktisch! Die Hochhausübung kann er nicht leiden!“ Sie nickte nur. Es war ihr nicht zum ersten Mal aufgefallen, dass Chris immer zu den richtigen Augenblicken krank wurde. Er hatte einfach immer unglaubliches Glück. „Nun, mir reicht’s für heute! Ich geh duschen! Was ist mit dir Hem?“ „Ich schwimm noch ein paar Runden. Ich hab mein Pensum noch nicht erreicht!“ „Was? Du warst doch gleich lang im Kraftraum wie ich!“ „Sie haben mich neu eingestellt. War wohl in den letzten Wochen zu nachlässig! Ich werde dick.“ Sheila schüttelte darüber den Kopf. „Wünsch dir noch viel Spaß mit Magermädchen. Wir sehen uns beim Essen!“ Sheila warf lässig ihre Tasche über die Schultern. Sie war alles Muskeln, wie eine Spitzensportlerin, und man sah es deutlich durch ihren eng anliegenden Sportanzug. Sie selbst war vor allem dünn. Nahrungsaufnahme war ein kleines Fremdwort für ihren Körper. Sie setzte einfach nichts an, weder Fett noch Muskeln noch sonst irgendetwas. „Sie mag mich nicht besonders!“ Hem zuckte mit den Schultern. „Sheila mag niemanden. Das ist ihre Art! Schwimmen wir um die Wette?“ Hem lächelte traurig. „Auf meiner Liste steht, dass ich dich noch mal besiegen will!“ Sie lachte auf und klopfte ihm auf die Schultern. „Träum weiter, Opa!“ Er grinste. „Ich zieh mich schnell um!“

Sie stand vor dem Essensbildschirm und scannte die Menüvorschläge. Ihre Finger flogen über den Touchscreen. „Du hast ja heute viel vor!“ „Ich bring Chris was mit!“, entgegnete sie etwas verärgert. Hem musste das doch wissen. „Schade, ich dachte, du würdest mit uns essen!“ Sie sendete ab und ließ Hem an den Computer. „Du weißt doch wie launisch Chris ist, wenn er krank ist.“ „Deswegen dachte ich, du isst mit uns!“ Sie verdrehte die Augen. Gemeinsam griffen sie nach einem Tablett und stellten sich zum Essenslift. Die kleine Cafeteria begann sich bereits zu füllen. Sie hörten das Lachen von verschiedenen Kindern aus der dritten Generation. Sie selbst hatte man mit 15 hergebracht. Die dritte Generation war nicht älter als zwölf. Hem bemerkte ihren Blick. „Neben denen komme ich mir richtig alt vor.“ Sie dachte an sein Geständnis im Regen. Flüchtig berührte sie seine Hand. Er lächelte traurig. „Was steht noch auf deiner Liste?“ „Butterkremtorte!“ Sie hob die Augenbrauen. „Aber das wird wohl nichts werden. Viel zu ungesund!“ „Irgendwie machen wir das schon. Ich lass mir was einfallen!“ Er schüttelte den Kopf. Der Essenslift begann grün zu leuchten. „Du bist viel zu nett! Schau dir die dort an. Von Haarfarbe und Gesicht zu urteilen, stammen die aus Mischlingsrassen, so wie wir auch. Und jetzt leben sie in diesem tollen Luxus. Wir werden hauptsächlich für Katastrophen eingesetzt. Aber mit denen dort hat man wahrscheinlich etwas anderes vor. Und nach ihnen kommt die 4te Generation. Die sind wahrscheinlich noch jünger. Man will schließlich nicht Jahre an Ausbildung in sie investieren, wenn man sie dann vielleicht nur fünf Jahre einsetzen kann. Niemand tut irgendetwas für sich selbst.“ Sie starrte Hem an. Von was redete er da? Eine ungute Stille entstand zwischen ihnen. „Das Essen kommt!“ Tatsächlich, sie konnte es schon riechen. Sie schob den großen Topf mit Ramen auf ihr Tablett. Das war für Chris. Bei einer Krankheit würde ihm die Suppe guttun. Dann nahm sie ihre Fleisch und Gemüse Portion. Sie machte sich nicht viel aus dem Essen und aß fast immer dasselbe. Hem betrachtete ihr Tablett skeptisch, sagte aber nichts, weil jetzt auch sein Essen kam. „Hast du schon einen Partner für heute. Chris ist schließlich krank!“ Sie schüttelte den Kopf. „Soll ich uns eintragen?“ „Ja, danke!“ Sie war überrascht. Es war das erste Mal, dass er das vorschlug. Er grinste. „Nichts zu danken! Du bist besser als Gerd und ich möchte noch ein paar Punkte machen!“ „Noch etwas auf deiner Liste?“ „Ja, nein! Ich möchte nicht gegen diese Kinder dort verlieren!“

Sie strich ihm über die Haare und küsste seine Stirn. Er war noch immer beunruhigend heiß. „Hast du Fieber gemessen?“ Er lächelte sie nur an. Natürlich hatte er es nicht. „Ich hab dir Ramen mitgebracht. Das tut dir sicher gut!“ „Was für ein Ramen?“ „Ganz normales Ramen! Glaubst du, es gibt noch ein anderes Ramen?“ Er versank wieder tiefer in seine Kissen. „Ich weiß nicht, ich hab keinen Hunger!“ Sie strich ihm wieder über die Wange und setzte sich zu ihm ins Bett. Seine Augen waren ein wenig glasig. „Du musst etwas essen. Das warme Essen tut dir gut.“ Anstatt etwas zu essen kuschelte er sich an sie. Seufzend griff sie nach ihrem Essen. Das war Chris, wenn er krank war. „Spielst du nachher etwas mit mir?“ „Ich hab nicht so viel Zeit. Ich hab dann Übung!“ Sie begann den Reis in sich hinein zu schaufeln. Chris schnupperte. Sie seufzte. Schließlich ließ sie den Teller sinken. „Wenn du das lieber hast, dann kannst du das haben!“ Er schüttelte den Kopf. Wieso musste er sich immer so zieren? Sie schnitt ihm ein Stück vom Fleisch hinunter und hielt es ihm hin. Gnädigerweise akzeptierte er es. Sie fütterte ihn weiter, bis fast gar nichts mehr von ihrer Portion übrig war. Dann schnappte sie sich das inzwischen lauwarme Ramen. Sie war nicht sonderlich begeistert von der Idee. Aber sie brauchte irgendetwas in ihrem Magen. Chris sprang auf. Er wirkte plötzlich voller Energie. Er holte die Headsets hervor. „Was willst du spielen?“ Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr. Sie hatte noch 21 Minuten. Sie wollte eigentlich in Ruhe fertig essen. Sie klapperte mit den Stäbchen. Chris ignorierte es. Hastig begann sie das Essen hinunter zu würgen. Zumindest war es nicht mehr so heiß. Chris hielt ihr das Headset hin. „Lass mich zumindest fertig essen!“ Ungeduldig begann er auf und ab zu wippen. Das war nervtötend. Aber er würde nur aufhören, wenn sie mit ihm spielte. Nach den nächsten Bissen verging ihr der Appetit. Sie stellte die Schüssel zur Seite. „In Ordnung!“ Sie setzte das Headset auf. Chris hatte bereits das Spiel gestartet. Es war 3D-Schach, nicht gerade eines ihrer Lieblingsspiele. Aber Chris war krank und sie wollte ihm entgegen kommen.
Es klopfte. Der Ton hallte seltsam in ihrem Ohr wieder. Sie blickte auf die Uhr. Sie hatte noch 8 Minuten. „Das wird Hem sein!“ Sie zog das Headset vom Kopf. „Hem?“ „Ja, er ist heute mein Partner!“ „Hem? Wieso Hem?“ „Weil du krank bist!“ Sie drückte seine Hand und rutschte vom Bett. „Aber du hättest Sheila nehmen können!“ Sie ignorierte Chris Anflug von Eifersucht. Das musste sie, sonst konnte sie überhaupt keine freie Minute mehr verbringen. Sie öffnete die Tür und begann die Teller zusammen zu stellen. „Hallo, Chris! Wie geht es dir?“ „Schlecht!“, entgegnet der entnervt. Hem grinste. Er hob das Headset auf. „Liz muss noch fertig spielen!“ „Ich muss noch die Teller zurück bringen!“ „Komm schon! Komm schon!“ Hem ließ das Headset sinken. „Wozu? Es gibt keine Möglichkeit, dass Liz noch gewinnt! Leg dich ins Bett und schlaf dich aus, damit du morgen wieder fit bist!“ Chris verzog das Gesicht wie ein Kleinkind. Sie strich ihm die Haare aus dem Gesicht und küsste seine Stirn. „Am Abend spielen wir wieder!“, versprach sie ihm. Hem hatte inzwischen das Tablett gepackt. „Bleib hier am Nachmittag!“, bettelte er. Sie seufzte. „Ich muss wirklich los!“ Sie küsste ihn noch einmal und folgte dann Hem, der schon demonstrativ bei der Tür stand.
Am Gang warf sie sich noch einen Kaugummi ein. Es war Montag und sie hatte noch reichlich. „Sorry, aber Sheila hatte wirklich recht. Chris ist eine Memme!“ Sie atmete tief durch. „Anderes Thema!“ Hem beugte sich über das Tablett. „Er hat dein Essen gegessen, oder?“ „Anderes Thema! Du nervst!“ Er griff nach der Seitentasche an seiner Hose und holte einen Riegel hervor. Dann balancierte er ihn über das Tablett hinweg. „Hier! Ich hab Zusatznahrung bekommen!“ Sie starrte auf den Riegel, dann in Hems Gesicht. „Spinnst du! Der ist wichtig für dich. Iss ihn gefälligst selbst! Das Ding kann dir einen Tag Leben schenken!“ Er seufzte und ließ ihn wieder verschwinden. Dann schüttelte er den Kopf. „Und was mache ich an den einen Tag mehr? Wozu zahlt sich das überhaupt noch aus?“ Sie waren jetzt in der Küche. Gerd kam auf sie zu. Sie schluckte die Erwiderung hinunter. „Hab gehört Chris ist krank! Mit wem machst du die Übung? Eines von den Kids?“ „Nein, Hem hat uns eingetragen!“ „Hem? Wirklich? Ich bin mit Sheila. Dann heißt es wohl die 2te gegen die 3te!“ „Und wir beginnen gleich damit zu spät zu sein!“ Sie warf einen schnellen Blick auf die Uhr. „Drei Minuten! Das schaffen wir doch locker“, behauptete Gerd. Er rannte los. Hem zuckte mit den Schultern. Dann starteten sie gleichzeitig. Zwei Minuten später waren sie bei der Tür, sie einen halben Meter vor Hem. Er grinste. Sie grinste zurück. „Träum weiter, Opa!“


© lerche


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