Manchmal konfrontiert uns das Leben mit Vorfällen die wir nicht verstehen können, die für alle Zeiten außerhalb unseres Verständnishorizontes bleiben und vielleicht ist das auch gut so. Die Wahrheit tut uns nicht immer gut und eine Priese Mysterium sollte dieser Welt doch erhalten bleiben.
Von solch einer Begebenheit mochte ich hier erzählen. Sie trug sich vor zwanzig Jahren zu, als ich noch ein kleines New Yorker Schulmädchen war. Das waren anderen Zeiten, eine andere Welt. Wenn ich heute daran, aus meinem gewöhnlichen Alltag heraus zurückdenke, erscheint mir all dies manchmal wie ein Traum, so unendlich fern und phantastisch, doch dann blicke ich auf die Photographie, die mein Großvater in jenem Sommer von mir, seiner Frau und ihm gemacht hatte und dann weiß ich wieder, dass ich all dies wirklich er- und überlebt habe und es Realität war.
Wie jede Geschichte die es wert ist zu erzählen beginnt sie mit einem Menschen der aus seiner gewohnten Umgebung gerissen wird. Es war während der Sommerferien vor zwanzig Jahren, die ich wie jedes Jahr im Großstadtmoloch New York bei meinen Eltern antrat. Der Smog hing wie immer tief, die Luft war heiß und mir sterbenslangweilig. Einsam schlich ich durch die Schluchten der Wolkenkratzer, in der Hoffnung irgendwo ein kleines Stück Himmel über mir erhaschen zu können.
Vielleicht hat ja jemand zugehört als ich mir jede Nacht wünschte an einem anderen Ort zu sein, fern vom Lärm. Meine Mutter, eine Krankenschwester die häufiger ehrenamtlich in der Veteranenstation Dienst tat zog sich eine schwere Lungenentzündung zu und trat auf Anraten ihres Arztes eine Kur irgendwo im Mittelwesten. Über den Schwere der Erkrankung meiner Mutter, ob sie Angst hatte, wie mein Vater empfand, darüber wurde in meiner Familie geschwiegen. Ich glaube selbst meine Eltern haben nie wirklich darüber geredet. Was mir Angst gemacht hatte waren ihre Augen, voller Sorge, Kummer und Schmerz. Sie wollte nicht gehen, hatte aber keine Wahl. Mein Vater, ein Mann dessen Erziehung alle emotionale Wärme aus ihm herausgeprügelt hatte, sah sich außerstande mich in dieser Zeit alleine zu versorgen, er hätte gar nicht gewusst was mit einem Kind anzufangen, hatten wir doch in den letzten dreizehn Jahren kaum einen Satz pro Woche miteinander gewechselt. Ich glaube er hat mich geleibt, auf seine Art, aber schon der Gedanke ganze Tage mit mir zu verbringen ließ sein linkes Auge nervös zucken. Ich mache ihm keine Vorwürfe, habe ich schon damals nicht getan.
So packte er meine Sachen und fuhr mich zur nächsten Busstation, von wo ich mit einem dieser riesigen Kontinentalbusse eine zweieinhalbtägige Fahrt nach Winnipeg, zu meinen Großeltern, antrat, die damals noch ein Blockhaus dort ihr Eigen nannten. Die ganze Fahr über war ich hin- und her gerissen zwischen meinen Gefühlen, der Angst um meine Mutter, der Vorfreude auf die endlosen Weiten die mir bald offenstünden und den Schuldgefühlen wegen der Vorfreude.
Irgendwo an der kanadischen Grenze stieg ich um, hinaus aus dem stickigen Bus. Kühle, würzige Luft füllte meine Lungen zum ersten Mal seit langer Zeit und wenn mich die Frau hinter mir nicht aufgefangen hätte wäre ich einfach zu Boden gestürzt so überwältigend war das Gefühl, so unerträglich reich die Reize die mich durchfluteten.
In diesem Moment war ich überglücklich, die Unendlichkeit schien zwischen mir und der verhassten Stadt liegen und ich wusste, mit jedem Meter den der Bus noch fuhr trug er mit weiter hinein in ein fremdes, unberührtes Land. Vor mir lagen dunkle Nadelwälder so weit ich sehen konnte.
Meine Großeltern hatten ihre Hütte sehr abgelegen an einem See. Es war eines dieser Gewässer deren Oberfläche immer glatt war und den stahlgrauen Himmel perfekt wiederspiegelten, mit einer Farbe wie reiner Smaragd und kalt genug um das Herz eines Menschen stehenbleiben zu lassen. An jenem Ort würde man eher einen Bären denn einen Menschen treffen.
Schon vom ersten Augenblick an spürte ich diese urtümliche Kraft, die vom Wald und vom See ausging. Wer einmal dort war, wird meine Empfindungen verstehen. Man fühlt sich einsam, so einsam wie vielleicht nirgends sonst auf diesem Planeten, man markt, dass der Mensch hier der Fremde ist und die Natur dar Harr. Man fühlt sich klein in diesem Ort an dem jeder Baum länger gelebt hat als alle Menschen die ich damals kannte, es rückte mich und mein Leben in die rechte Perspektive.
Nach der herzlichen Begrüßung durch meine Großeltern wurde ich durch das einfache aber gemütliche Haus geführt. Vielleicht hilft es wenn ich sage, dass das Haus wohl eher eine große Blockhütte war, direkt am Ufer des Sees gelegen. Wäre ich mit viel Schwung aus dem Fenster meines Zimmers gesprungen, er hätte mich direkt hineingetragen. Natürlich habe ich das nie probiert. Meine Großeltern taten alles, um mich die Sorge um meine Mutter vergessen zu lassen. Regel schien es dort draußen nicht zu geben. Ich zog stundenlang durch den Wald und versuchte sogar ein paar Mal im kalten Wasser des Sees zu baden.
Eines Abends, wenige Tage nach meiner Ankunft, nahm mich mein Großvater zur Seite. Er saß wie immer in seinem Schaukelstuhl, den er als junger Mann selbst gebaut hatte, damals für damals für seinen Vater, den dieser bis zu seinem Tode in Ehren gehalten hatte. In seinem Mundwinkel hing eine Pfeife nach deren süßen Duft es im ganzen Haus roch, in der Hand eine alte Erstausgabe von Jack Londons "Call of the wild". Vielleicht bekommt man jetzt einen falschen Eindruck von meinem Großvater, stellt sich einen bärtigen, stämmigen Mann vor mit den Oberarmen eines Holzfällers. Aber das wäre falsch. Er war ein schmächtiger Mann an den was auch immer trug zwei Nummer zu groß schien. Seine Nase was spitz und scharf geschnitten, ein Merkmal, das meine Mutter wohl von ihm geerbt hatte. Schon in jungen Jahren war er beinahe kahl gewesen, nur mehr ein dünner Kranz grauer Haare umsäumte seinen Schädel und ließ ihn noch hagerer erscheinen als er ohnehin war. Aus freundlichen, haselnussbraunen Augen sah er mich lange Zeit nur stumm an. Mich störte es nicht, mein Großvater war ein Mann mit dem es zu Schweigen kein Unbehagen bereitete.
Schließlich begann er mit tiefer, gedankenverlorener Stimme zu sprechen. "Mein Kind, du bist bald erwachsen. Deshalb möchte ich dir auch keine Vorschriften machen." Er hielt inne und sah mich prüfend an. Zufrieden, dass ich seinem Blick ohne mit einer Wimper zu zucken standhielt, fuhr er fort: "Du bist sicher schon im Wald und am See gewesen, vielleicht hast du es auch gespürt. Sia üben beide eine unglaublich Faszination auf dich aus.? Er musste den überraschten Ausdruck auf meinem Gesicht richtig gedeutet haben, denn er fuhr lächelnd fort: "Ja, ich war salbst einmal jung und ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, deshalb weiß ich, was du fühlst." Plötzlich wurde seine Stimme sehr ernst: "Doch das ist gefährlich, seltsame Dinge geschehen dort." Sein Blick wanderte zum Fenster und hinaus in die unendliche grüne Weite der Wälder. "Diese Welt ist ungezähmt, es ziehen noch Schatten aus längst vergangenen Zeiten durch sie. Hüte dich vor dem See und vor allem den Tiefen der Wälder. Sie sind nicht für uns bestimmt."
Er blickte mich noch eine Zeitlang durchdringend an, dann wandte er sich ab und vertiefte sich in sein Buch, auf meine Nachfragen antworte er nur mehr ausweichend. Irgendwann rannte ich verwirrt und wütend in mein Zimmer und ließ die Tür mit lautem Knall ins Schloss fallen. Noch nie hatte ich meinen Großvater in einer solch seltsamen Stimmung erlebt. In meinem Inneren tobte ein Kampf zwischen der Verwirrung, dem Wunsch meinem Großvater mehr Fragen zu stellen und einer unbestimmten, völlig grundlosen Angst. Ich verstand, damals schon, dass er mir etwas Wichtiges sagen wollte, aber nicht wusste wie und seine Andeutung machte keinen Sinn. Schließlich gewann die kleine, trotzige Stimme in mir die Oberhand und ich entschied dass ich mir keine Vorschriften machen lassen wollte. Die nächsten Tage ließ ich ihn spüren was ich von unserer Unterhaltung hielt, ich würdigte ihn nicht eines Blickes und unternahm immer längere Wanderungen. Ich ließ den Wald und den See auf mich wirken, gewährte ihnen Zugang zu meiner Seele, zudem was mich ausmachte bis schließlich ein verwegener Plan reifte. Ich wollte den Wald durchqueren, bis zum Gebirge, das weit in der Ferne hochaufrage, bedrohlich und düster.
Ich machte mich einige Tage nach der Unterredung früh am Morgen auf in die Wälder. Mein kleiner Rucksack war mit etwas zu trinken, einem Frühstück und einer kleinen Taschenlampe aus dem Werkzeugkoffer meines Großvaters gepackt, so verließ ich das Haus. Als ich mit festen Schritten die Türschwelle hinter mit ließ und auf die dunkle Baumlinie zu marschierte fühlte ich mich wie die erste Frau auf dem Mond, voller Stolz und gleichzeitig war das einzige, was meine Knie vom Zittern abhielt, das Gehen.
Die Bäume empfingen mich wie immer mit ihrem Schweigen und hüllten mich in schweren harzigen Duft. Verliebt lauschte ich ihrem mystischen Raunen, einem Pfeifen ähnlich, und wanderte unter ihrem Schutz voran. Doch je weiter ich ging, desto stärker wurde das Gefühl nicht mehr zu gehen, sondern gezogen zu werden. Von Minute zu Minute wurde es stärker, treib mich vorwärts, bis ich schließlich fast schon rannte, um mein unbekanntes Ziel noch schneller zu erreichen. Selbst als das Sonnenlicht zu ermatten begann und die Luft merklich kälter wurde, hielt ich nicht inne, bis ich im Abendrot eine kleine Anordnung von Felsen erreichte. Das waren noch nicht die großen Berge, soweit konnte ich unmöglich gekommen sein.
Vor mir, zwischen großen Steinen lag eine dunkle Öffnung in die Felsen, eine Höhle. Was auch immer mich hierher getrieben hatte, es ließ in dem Moment von mir ab, als ich die Höhle betrat. Vorsichtig bückte ich mich um nicht a die Spitzen Zacken zu stoßen die alle paar Meter von der Decke herunterwuchsen. Der Lichtkegel der Taschenlampe ließ bizarre Schatten um mich herum tanzen. Ängstlich blickte ich mich um. Was ich da an den Wänden der Höhle sah, von einer Seite zur anderen, vom Boden bis zur Decke, darauf hatte mich das Leben in der großen Stadt nicht vorbereiten. Unglaubliche Ornamente in allen Farben des Regenbogens schmückten die Wände. Später hat man mir gesagt, dass das nicht möglich gewesen sein konnte, Farbe an Höhlenwänden hält nicht lange, meistens verblasst sie zu einem Ocker Ton. Dennoch weiß ich, selbst jetzt noch, was sich vor meinen Augen ausbreitete. Geheimnisvolle Symbole, die ineinander übergingen, verschmolzen und sich wieder trennten, unmögliche Konstruktionen ohne Ende und ohne Anfang, ich konnte sie kaum ansehen ohne, dass sich die Welt um mich herum zu drehen begann. Ein Bild schien zentral aus diesem Reigen des Wahnsinns hervorzustechen. In dessen Mitte standen zwei konzentrische Kreise, aus dem innersten entsprangen vier schaufelradartige Fortsätze, die sich im Uhrzeigersinn, wie bei einem Sonnenrad, um diesen drehten und den Raum zwischen dem ersten und dem zweite Kreis ausfüllten. Um den äußeren Kreis waren die Hälse von vier Vogelköpfen mit langen Schnäbeln angeordnet und auch diese Schnäbel drehten sich wieder im Uhrzeigersinn um das gesamte Gebilde. Dieses Bild benutzte eine Sprache älter als das gesprochene Worte und meine Seele schien sie zu verstehen. Das Gefühl war unbeschreiblich.
Schließlich erstarb der letzte Sonnenstrahl vor der Höhle und ermahnte mich an die Zeit. Noch immer schwach auf den Beinen, ausgelaugt von der Erfahrung im Inneren, trat ich ins Freie hinaus und begriff mit einem Mal, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich hierhergekommen war und noch viel schlimmer, ich hatte keine Ahnung, wie ich wieder nach Hause kommen sollte. Auf die Felsen klettern, um mir einen Überblick zu verschaffen, konnte ich nicht. Sie waren rau und steil, ich hätte mir die Hände zerschnitten und wäre abgestürzt.
So ging ich einfach los, in der Dunkelheit und nur unheimliche Mondschatten und eisige Kälte waren meine Begleiter. In der dünnen Hose und dem Pullover schlotterte ich bald erbärmlich vor Kälte. Jeder Baum, bis vor wenigen Stunden noch mein bester Freund, erschien mir plötzlich wie ein persönlicher Feind, ein böser Dämon, der mich in seinen Bann zu ziehen versuchte, kalt und unnahbar. Ich hörte nur meinen Herzschlag und das Wispern der Bäume, wie sie sich über mich lustig machten. Wie musste ich wohl auf diese uralten Giganten gewirkt haben, auf diese Wesen, die schon mehr als ein Jahrhundert hier standen, ich, das kleine Mädchen, das schlotternd dahin stolperte, knapp vor dem Erfrierungstod. Sie machten sich einen Spaß daraus Wurzeln und Steine in meinen Weg zu liegen und es dauerte nicht lange bis ich das erste Mal lang ausgestreckt auf dem Boden lag, die Handflächen aufgeschrammt, atemlos und verzweifelt.
Immer wieder sah ich die schwarzen Silhouetten der Eulen, wie sie über mich hinwegsegelten, auf der Suche nach Beute. In meinem fiebrigen Gehirn begann ich mir vorzustellen wie es wäre Flügel zu haben, mit ihnen am Nachthimmel zu sein, auf der Jagd, alles sehend, niemals meinen Weg zu verlieren. Ich muss wohl auch mit mir selber darüber gesprochen habe dennoch hörte Stimmen und wusste nicht woher sie kamen.
Nach drei, vier vielleicht auch fünf Stunden verließen mich meine Kräfte vollends. Schluchzend sank vor einer hohen Tanne auf die Knie, es geschah ganz plötzlich, im einen Moment stolperte ich noch nach vorne, im nächsten war ich auf dem Boden und hielt meine Hände vors Gesicht. Ein untrügliches, absolutes Wissen machte sich in mir breit, füllte mich aus wie ein Feuer das den letzten Rest meiner Substanz verzehrte: Ich würde hier sterben, an genau dieser Stelle. Die Tiere des Waldes würden meinen Körper Stück für Stück auseinander nehmen und niemand, nicht meine Eltern, nicht meine Großeltern, auch nicht die Royal Canadian Mountain Police würde jemals erfahren was auch mir geworden war. Ein weiteres Rätsel in dieser Welt außerhalb der Zeit.
Ich öffnete meine Augen, wollte da Grab, welches das Schicksal für mich bereitet hatte noch ein letztes Mal in Augenschein nehmen und da sah ich es. Ein silberner Schein leuchtete mir aus der Ferne entgegen, zwar nur schwach, doch stark genug um meine Lebensgeister wieder zu erwecken. Ich blinzelte mir schnell die Tränen aus den Augen und sah genauer hin. Da war tatsächlich etwas. Mit neuer Kraft sprang ich auf und marschierte ich auf den Schein zu. Der kalte Nachtwind spielte mit meinem Haar und ließ die Wipfel der Bäume singen, doch ich bemerkte dies kaum, ich hatte nur noch dieses Leuchten vor Augen. Alle möglichen Gedanken jagten durch meinen Kopf. War es vielleicht mein Großvater auf der Suche nach mir? Ein Jäger? Oder gar eine Hütte im Wald? Hier draußen sollte eigentlich niemand leben aber man konnte sich nie sicher sein.
Schließlich erreichte ich die Quelle des Scheines. Es war ein handtellergroßes Medaillon aus Silber, das Licht des Mondes hatte sich auf der polierten Oberfläche gespiegelt und mich damit angelockt. Mit einer starken Silberkette ging es an einem Ast und schaukelte sanft im Wind. Verwirrt nahm ich es ab und begutachtete das kleine Schmuckstück. Es war ein edles Stück Handwerkskunst das ich da mit meinen halb erfrorenen Fingern drehte, hin und her, um alle Seiten in Augenschein zu nehmen. Auf der Rückseite war eine kleine Gravur in einer Schrift deren Zeichen ich nicht kann, die Vorderseite war aus poliertem Silber, ich fuhr mit der Kuppe meines Zeigefingers darüber und erspürte nicht die geringste Unebenheit. Das Medaillon musste einmal aufklappbar gewesen sein, doch so sehr ich mich auch bemühte, ich schaffte es nicht das Amulett zu öffnen. Enttäuscht gab ich meine Versuche auf und steckte das kleine Schmuckstück ein.
Als ich mich in der näheren Umgebung umsah, ob noch mehr Seltsames hier lagerte, entdeckte ich den Pfad, der mich schon oft in den Wald gebracht hatte. Niemand der nicht schon einmal völlig verloren gewesen war, sich ohne Wenn und Aber aufgegeben hatte, kann sich auch nur annähernd die Gefühle vorstellen, die der Pfad in mir auslöste. Ich lachte auf, die Tränen rannen mir über die Wangen. Ich würde leben.
Vom Pfad aus sah ich noch einmal zudem baum zurück an dem das Medaillon gehangen hatte. Ich fragte mich, wieso es mir bisher nie aufgefallen war.
Trotz der Erschöpfung erreichte ich bald das schützende Haus meiner Großeltern und es war meine Großmutter, die mir besorgt due Türe öffnete und mich ans Ofenfeuer geleitete. Ich wurde in dieser Nacht viel umarmt und auch die eine oder andere Träne muss geflossen sein. Dort am Feuer wurde mir klar welche Ängste ich den beiden Menschenbereitet haben musste die ich, abgesehen von meinen Eltern, auf dieser Welt am meisten liebte. Meine Großeltern hatten schon mit den Schlimmsten gerechnet aber obwohl sie mich immer wieder nach dem Erlebten fragten, brachte ich es nicht über mich in jener Nacht von der Höhle und dem Medaillon zu erzählen. Doch als ich das warme Feuer verließ, an dem ich meine unterkühlten Glieder gewärmt hatte, blickte mir mein Großvater nachdenklich nach. Ich glaube, er hat schon damals gewusst, was im Wald wirklich geschehen war, lange bevor ich ihm die ganze Geschichte vor einigen Jahren bei einem Familientreffen erzählt habe, kurz vor seinem Tod.
In dieser Nacht begannen die Träume. Es war eigentlich nur ein Traum, doch er wurde von Mal zu Mal realistischer. Ich stand auf einer großen Wiese vor einem See. Instinktiv wusste ich, dass es unser See war. Ich rannte auf einer Wiese umher, in einer immer enger werdenden Spirale auf den See zu. Ein alter, morscher Holzsteg führte etwa fünfzehn Meter auf das Wasser hinaus. Vorsichtig prüfte ich ihn mit einem Fuß, bis ich es schließlich wagte ihn zu betreten. Vorsichtig, Schritt für Schritt, arbeitete ich mich zum äußersten Ende. Die Konstruktion schwankte immer wieder gefährlich, ich wollte umkehren, doch ich konnte nicht. Als ich das Ende schließlich erreicht hatte ging ich auf die Knie und blickte ins eisige, smaragdfarbene Wasser. Ich erwartete mein eigenes, unscheinbares Gesicht zu sehen, die etwas zu großen Augen, die langen Haare, das spitze Kinn, doch was ich da sah, war nicht ich. Es war ein Mädchen, etwa in meinem Alter, doch ihr Gesicht war viel runder als meins und als sie lächelte bildeten sich kleine Grübchen in ihren Wangen.
In diesem Moment brach das Holz des Steges und ich fiel ins Wasser. In Panik schlug ich um mich und versuchte zu schwimmen, es brannte in meiner Nase bis hinauf in die Stirn und in den Augen. In der Ferne hörte ich Schreie, doch schon drang das eiskalte Wasser in meine Ohren und machte sie taub. Ich schrie, es kam aber nur ein hilfloses Gurgeln. Die Kälte war unbarmherzig, brannte sich in Sekunden durch die Kleidung, brannte zuerst wie Feuer auf meiner Haut und betäubte sie dann. Jeder Muskel wurde hart und starr. Langsam, zusammengerollt wie ein Fötus im Mutterleib, sank ich in die grüne Tiefe. In diesem Moment erwachte ich immer. Schreiend fuhr ich in meinem Bett auf, noch immer die Kälte des Wassers auf meiner Haut, das Wasser in meinen Lungen. Es dauert Minuten um von einem solchen Traum wieder vollends in der Wirklichkeit anzukommen. Zuerst erschien mir alles nur als Reaktion meines Unterbewusstseins auf das traumatische Erlebnis im Wald, doch der Traum kam immer wieder, zwei Wochen lang, immer intensiver, ich bekam beim Aufwachen keine Luft mehr und das Gefühl des Ertrinkens hielt sich nach dem Aufwachen immer länger. Ich hatte jede Nacht Angst schlafen zu gehen weil ich wusste, dass ich dann erneut ertrinken musste.
Auch meine Gefühle hinsichtlich des Sees änderten sich immer mehr. Ich fühlte bei seinem Anblick und mit jedem Tag stärker sogar beim bloßen Gedanken an den See eine tiefe Traurigkeit, die mit nichts anderem vergleichbar war, das ich vorher oder nachher je gespürt hatte, bis heute hat nichts dieses Gefühl je wieder übertroffen.
Jede Nacht verlor ich den Kampf gegen den Schlaf aufs Neue und der Traum quälte mich.
Mein Großvater war in dieser Zeit immer irgendwie in meiner Nähe. Wenn ich im Haus um eine Ecke bog war er da, putze unschuldig eine Vase, las im Stehen ein Buch oder spazierte durchs Haus. Ich wusste, dass er mich beobachtete.
Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und sprach ihn an. Wie es seine Art war musterte er mich von oben bis unten und seufzte: "Du hast viel erlebt. Aber ich sehe dir an, dass du noch etwas zu Ende bringen musst, etwas was du in jener Nacht begonnen hast. Sag, in dem Wald, hast du da etwas gefunden?"
Natürlich sagte ich ihm nicht die Wahrheit, aber tief in meinem Inneren kannte ich nun die Antwort, wusste was zu tun war. Schließlich nahm ich all meinen Mut und das Amulett und machte mich auf. Ich musste den See fast vollständig umrunden, bis ich die abgelegene Wiese fand. Sie schien direkt aus meinen Träumen hierher verpflanzt worden zu sein, nur das Gras stand hoher. Auch der Steg war da, doch in einem sehr schlechten Zustand, er musste lange nicht benutzt worden sein und die Spitze war tatsächlich abgebrochen. Mit zittrigen Knien betrat ich das morsche Bauwerk und arbeitete mich langsam nach vorne vor, vorsichtig prüfte ich immer wieder die nächste Planke, bevor ich schließlich mein ganzes Gewichtnach vorne verlagerte und wieder einen Schritt wagte. Trotz aller Vorsicht brach immer wieder ein Holzbrett unter meinem Gewicht zusammen und nur durch heftige Ruderbewegungen und wahre Balanceakte, die einer Seiltänzerin würdig gewesen wären, verhinderte ich einen Sturz. So erreichte ich nach geraumer Zeit relativ unbeschadet das äußerste Ende, dort kniete ich mich, wie das Mädchen im Traum nieder, und blickte ins bleigraue Wasser, das den düsteren Himmel und mein bleiches Gesicht widerspiegelte. Ich konnte es spüren noch bevor es passierte - ein tiefes Stöhnen pflanzte sich durch das Holz fort, steigerte sich zu Krachen dem ich nur hilflos zuhören konnte. Das Holz brach, unweigerlich. Ich versuchte mich zu halten, doch es war zu spät, ehe ich noch schreien konnte umfing mich das Wasser mit eisigen Armen.
Mir blieb der Todeskampf gegen die kalte Flut jedoch erspart, durch den Kälteschock wurde ich auf der Stelle ohnmächtig. Als ich meine Augen wieder aufschlug blickte ich ihr ins Gesicht. Dem Mädchen, das ich im Traum gewesen war. Sie hielt das Medaillon in Händen und blickte mich freundlich an. Mit Unbehagen registrierte ich, dass meine ganze nasse Kleidung an meinem Körper klebte und mir unendlich kalt war. Ich wollte sprechen, doch sie legte ihre Hand auf meinen Mund und lächelte. "Ich danke dir, dass du mir mein Medaillon gebracht hast, ich warte schon so lange." Ihre Stimme war wunderschön aber fremdartig, ein wenig gestelzt, so als wäre sie es nicht gewohnt viel zu sprechen. Vorsichtig setzte ich mich auf und wischte mir eine nasse Strähne aus dem Gesicht. Ich wollte sprechen, doch zuerst wurde ich von einem Hustenanfall gepackt, bei dem ich einiges Wasser ausspuckte. "Bin ich tot?" War meine erste Frage.
Das Mädchen lächelte nachsichtig und schüttelte den Kopf. "Nein, das hier ist nicht dein Himmel. Doch du musst jetztgehen. Deine Zeit ist noch nicht gekommen." Erschreckt schüttelte ich den Kopf. Ich hatte noch so viele Fragen und schließlich war ich ertrunken, um zu ihr zu gelangen, da hatte ich ein Recht darauf.
"Aber ich weiß doch noch gar nicht wer du bist", warf ich hastig ein, "und warum das Amulett so wichtig ist. Warum hing es im Wald an einem Baum?"
Wieder lächelte das Mädchen. "Alles Fragen, die ich nicht beantworten kann, aber geh doch noch einmal in diese Höhle, dort wirst du vielleicht die Antworten finden, die du suchst." Mit diesen Worten erhob sie sich und ging weg.
"Sag mir wenigstens wie du heißt!" rief ich ihr nach. Sie hatte meine Worte gehört und blieb stehen. Ohne sich umzudrehen antwortete sie, gerade laut genug für mich: "Lexia, das ist mein Name."
Ich versuchte verzweifelt aufzustehen um ihr zu folgen, doch es war zwecklos, ein heftiger Schwindelanfall ließ mich zurücksinken, mir wurde schwarz vor den Augen und wieder versank ich in eine tiefe Ohnmacht.
Was danach passiert ist weiß ich nicht mehr, nur noch, dass ich heftig nach Luft schnappend in den Armen meines Großvaters, der immer wieder auf meinen Brustkorb drückte, zu mir kam.
Ich weiß bis heute nicht, wie er mich dort an dieser einsamen Stelle gefunden hat, oder wie er mich in den undurchdringlichen Tiefen dieses Gewässers fand, aber ich habe meinen Großeltern nicht erzählt, was geschehen war, dazu war die ganze Geschichte zu unglaublich.
Eine Woche später holten mich meine Eltern wieder ab. Das Sanatorium hatte meiner Mutter gut getan, sie hustete fast gar nicht mehr und war beinahe wieder die Alte. In den wenigen Tagen nach den Geschehnissen, die ich noch bei meinen Großeltern verbrachte, verließ ich das Haus kaum mehr und wenn, dann blieb ich in Sichtweite meiner Großmutter, die mich wie ein Glucke behütete und nichtmehr aus den Augen ließ. Auch in die Höhle bin ich nie wieder gegangen, vielleicht wollte ich die Antwort auch nicht wissen, heute bin ich ganz glücklich, dass ich es nicht getan habe. Der einzige, der je davon erfahren hat, was in jenem Sommer wirklich geschehen war, war mein Großvater, den ich bei einem Familientreffen fünf Jahre später zur Seite nahm und ihm alles erzählte. Er lächelte mich an und sagte: "Ich weiß mein Kind, ich habe es mir schon gedacht." Dann zog er ein Foto aus seiner Brieftasche, auf dem ein Mädchen abgebildet war, es war wohl eine sehr alte Aufnahme, körnig und nur Schwarz-Weiß, doch darauf abgebildet war unverkennbar das Mädchen aus dem See.
"Du hast sie gesehen, nicht wahr?" Ich nickte. "Sie sind unter uns. Wächter. Sie leben an den verborgenen Orten und sind immer Menschen die jung gestorben sind." Nachdenklich betrachtete er das Bild. "Ich kannte sie und weiß, dass sie vor langer Zeit dieses Medaillon verloren hat, es war ihr sehr wichtig. Dass sie es jetzt wieder hat freut mich."
Ich runzelte die Stirn: "Aber was wollen sie?" Darauf lachte mein Großvater. "Wollen? Sie beobachten und warten, manchmal erscheinen sie. Ich weiß nicht viel, nur das was sie mir erzählt hat. Aber es wird eine kommen die alles verändert, davon wird abhängen ob ein neuer Anfang oder ein Ende kommt. Ihr Name wird Alexis sein und vielleicht lebt sie schon jetzt, irgendwo." Als ich ihn fragte wie er ihr begegnet sei antwortete mein Großvater nur: "Ich traf sie auf einer einsamen Straße. Sie brauchte meine Hilfe und ich war. Wir sollten über solche Dinge eigentlich nichts wissen."
Mehr hat er nie gesagt, nur eines noch, dass ich vielleicht doch in die Höhle gehen sollte, aber ich habe nur den Kopfgeschüttelt. Was er über all dies wirklich wusste, habe ich nie erfahren, ich glaube aber, dass er selbst einmal in der Höhle gewesen ist, aber zugegeben hat er es nie. Er starb zwei Jahre später friedlich in seinem Bett und wurde vor seinem Haus am See begraben, sein Wissen nahm er mit. Seine Beerdigung war der einzige Anlass zu dem ich jemals wieder dort oben war. Noch immer konnten ich den See und den Wald rufen hören und war froh wieder wegzufahren.
Sollen doch andere die Höhle finden und die Geheimnisse enträtseln, ich habe genug erlebt. Doch die letzten Worte des Mädchens gehen mir nicht mehr aus dem Sinn ?das ist nicht dein Himmel? hat sie gesagt. Seit zwanzig Jahren verfolgen sie mich Ich weiß zwar nicht was sie genau bedeuten, aber ich hoffe nicht, dass mein Himmel so sein wird wie New York, das wäre unerträglich. Für meinen Großvater wünsche ich mir, dass sein Himmel ist so wie dieses fremde Land dort hoch im Norden, das er so liebte und gleichzeitig fürchtete.


© Dan Gerrit, 2011 Alle Rechte vorbehalten.


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Beschreibung des Autors zu "Fremdes Land"

Kurzgeschichte nach einer Landschaftsimpression




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