Zeit-Reise

Es ist Silvester. Ein Jahr neigt sich dem Ende zu, und anscheinend tue ich das auch. Jedenfalls bin ich gewaltig am Grübeln: Brainstorm… Ich behaupte mal ich hätte ein Hirn, obwohl ich mir da nicht mehr so ganz sicher bin. Denn im Augenblick bin ich mir nicht einmal sicher, überhaupt irgendetwas zu haben, außer der Unverfrorenheit, am Leben zu sein.

Seit ca. 3 ½ Stunden sitze ich nun schon mit den anderen – einer kleinen Jahresendfeiergesellschaft – am Tisch. Das Gespräch fließt, der Alkohol ebenfalls, und ich bin nicht wirklich vorhanden! Zwar fühle ich meinen Körper, schmecke das Essen (es gibt Wildschwein mit Beilagen), aber für die anderen bin ich anscheinend nicht wahrnehmbar.

Immer, wenn ich was sage, werde ich überhört. Keiner schaut mich an, wenn doch, dann höchstens belustigt. Dabei habe ich das Gefühl, die betreffende Person würde durch mich hindurch blicken – so, als sei ich aus Glas, oder besser gleich: Luft!

Nachdem häufig gelacht wird, lache ich mit. Ich applaudiere sozusagen den äußerst platten Witzen. Nicht, daß ich sie schon einmal gehört hätte, aber, da sie eher für Einfaltspinsel gemacht wurden, wie mir scheint, begreife ich sie erst gar nicht. Die meisten sind unterhalb der Gürtellinie angesiedelt und das geht eindeutig über meinen Verstand.

Wo kommt das nur alles her, frage ich mich, und sofort fällt mir ein, welchen Einflüssen wir andauernd ausgesetzt sind. Trotzdem habe ich keine Ahnung von Kinderpflege, ich bin kein Auto- oder Technikfreak und die Beziehungskisten anderer Leute sind mit weitestgehend schnuppe! Auch, was den Job angeht, bin ich ein Fremdling auf dem gesellschaftlichen Terrain. Vom Ernst des Lebens habe ich nie was erfahren (haha), ich bin Künstler, ich spiele ja nur! Ich kann also weder bei den Frauen, noch bei den Männern mit-reden. Deshalb würde ich mich auch viel lieber über das aktuelle Zeitgeschehen unterhalten. Aber das findet kein Gehör.

Lange denke ich darüber nach, bis mir endlich ein Licht aufgeht: das Zeitgeschehen vollzieht sich gerade – es möchte nicht mit mir über seine Hintergründe debattieren! Es spult sein Programm ab. Wir befinden uns auf der Höhe einer Gegenwart, die ihre Prägung zur Geltung bringt. Und deshalb ist auch momentan Verschiedenes unumstößlich. Die Spitze des Wissens ist erreicht! Was jetzt passiert, das gilt!

So war es immer. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, seine Aufgaben zu erfüllen. Wer sich nicht ranhält, der bleibt zurück und er ist, beispielsweise, so arm dran wie ich. Wer will das schon?! Man ergibt sich dem Strom der Ereignisse, geht mit dem Mainstream, versucht up to date zu bleiben. Teil eines gut funktionierenden Gesamtbildes zu sein ist wichtig. Man hat eben Pflichten, und dabei kann man niemanden gebrauchen, der einen mit seinen subversiven Überlegungen verunsichert. Aber dachte nicht A. Eichmann schon so? Mir schießt kurz der Name Hannah Arendt durch den Kopf, die es gewagt hat, diesen Menschen als dumm, nicht als böse zu bezeichnen. Dafür erntete sie Hohn und Spott. Dann verdränge ich – klar, ich kann das auch, verdrängen – diesen Gedanken schnell wieder und wende mich den kleinen Eichmännern und Eichfrauen, äh, pardon, den lebenden Beispielen meiner quirligen Epoche zu. Ich behaupte vor mir selbst, alle Epochen seien irgendwie quirlig, dann beginne ich wieder zu betrachten.

Wir haben’s doch gut, meine ich nun behaupten zu müssen. Wir werden von einer ungeheuren Informationsflut überschwemmt, die uns alle Mittel in die Hand gibt, zu verstehen. Wir müssen es nur wollen! Und hinhören müssen wir genau…

Man sagt, die Erde sei Teil eines Sonnensystems, wir würden demokratisch regiert, es werde täglich etwas Nützliches erfunden, das unser Leben erträglicher macht, und manche behaupten sogar, man dürfe sich vom Universum etwas wünschen. Auch die Behauptung, die „Wahre Liebe“ sei existierender Bestandteil unserer Wirklichkeit, finde ich zunächst bestätigt – hier am Tisch.

Jeder benimmt sich, seinen Instinkten gemäß, stellt etwas dar, das ihm in etwa entsprechen könnte, wobei jeder auch seine „Leichen im Keller“ hat. Was ist schon dabei? Das muss doch auch nicht extra besprochen werden. Es genügt, wenn jeder von den anderen eine bestimmte Meinung hat – etwas über sich zu wissen glaubt, das in sein Weltbild (nicht das der Anderen ) passt. Schließlich ist es von großer Bedeutung, sich einen Standpunkt auszuwählen, auf dem man steht: den man ver-steht.

Und wenn das alles gar nicht stimmt? Sind wir dann Opfer von Fehlinformationen geworden, oder haben wir uns nur ein Fake zurechtgeschneidert, weil wir damit am besten klarkommen?
Vielleicht hat die Mondlandung nur in Hollywood stattgefunden? Vielleicht wurde Lady Di (sprich englisch „die“ = deutsch sterben) gar nicht „wirklich“ ermordet, weil das Kind des Arabers Dodi (sprich, verharmlost „Todi“), ein Halbgeschwister zum künftigen König von England geworden wäre. Vielleicht haben wir gar keine Demokratie und der Papst ist in „Wirklichkeit“ tatsächlich unfehlbar?

Ich suche nach Symbolen und Zeichen, die, bei genauem Hinsehen, massenweise vorhanden sind… Bekam nicht A. Hitler aus Amerika einen Kredit von 666 (in Worten: sechhundertundsechsundsechzig) Dollar, um die Bemühungen für seine Art von Weltanschauung zu finanzieren? Ich glaube, der gute, alte Nostradamus war ihnen auch schon auf der Spur, diesen Zeichen.

Ich schrecke aus meinen Betrachtungen hoch. Zum X-ten Mal wird auf den Abend und die baldige Ankunft des Erlösers, nein (das hatten wir ja schon), des nächsten Jahres, getrunken. Ich tu so, als stoße ich mit an. Und für einen Augenblick habe ich das Gefühl, die Erde ist eine Scheibe. An unserem Tisch sitzen lauter Entdecker, auf die ganze Kontinente, bisher unerlebter Ereignisse warten. Bis auf mich natürlich. Ich gehe ja nicht darauf ein, ich fließe nicht mit. Der Zeitstrom gehört mir nicht, während ich mich heftig dagegen wehre, daß ich ihm angehöre. Ich weigere mich!

Die anderen nennen das, wenn sie mich zwischendurch mal zur Kenntnis nehmen, „Negative Grundhaltung“. Sie wissen nicht,daß sie bei mir im Verdacht stehen, ebenfalls/vor allem, eine solche zu besitzen. Aber, sie sind eben in der Überzahl. Sie sind der Strom und ich bin der Fels in der Brandung – nein, besser, der (widerspenstige) Kiesel im Wasser.

Wiedermal gärt es in mir. Inzwischen dreht sich die Sonne um die Erde, der Himmel ist ein Zelt. Über den Wolken wohnt Gott, das Böse ist nicht tief in uns, sondern gut versteckt, in der Unterwelt. Das ist ungefähr dort, wo die Schiffe hinabstürzen, wenn sie den Rand der Erdoberfläche passiert haben, glaube ich. Dabei bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob ich mich da nicht irre.

Mein Schutzengel hält mich, trotz dem starken Alkoholgenuss, wach. Deshalb komme ich jetzt erst auf die kompliziertesten, zugleich wohl auch dümmsten, Gedanken… Was, wenn die Erde keine Scheibe und der Papst fehlbar ist? Was, wenn alle Kriege und Krankheiten, Einbildung sind/waren? Was, wenn überhaupt nichts von alledem existiert und ich mich auf/in einem Holo-Deck befinde? Muss ich die Zeichen dann als kleine Hinweise auf das eventuelle Vorhandensein einer Realität, oder als kleine, verräterische Funktionsfehlerchen, innerhalb eines, von einem Computer errechneten Systems deuten?

In diesem Fall hätte ich sofort eine plausible, ja, unbedingt logische Erklärung für das Verhalten meiner Tischgenossen: sie denken nicht selbst, sie hängen, wie Marionetten, an den seidenen Fäden eines vorgespiegelten Schicksals, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Das muss es sein! Schließlich will ich der Menschheit keine Schuldfähigkeit andichten, wo keine ist. Ich liebe sie doch! Und vor allem – müsste ich dann nicht versuchen Kontakt zu anderen Besuchern von Holo-Decks aufnehmen, um zu relevanten Schlüssen zu gelangen? Müsste ich derartige Kontaktaufnahmen dann womöglich „Seancen“ nennen?

Das wäre schon reichlich krass! Mir kommt aber ahnend in den Sinn, es könnte auch noch viel krasser sein: mein Gehirn liegt in einer Nährlösung, es ist irgendwelchen Versuchsreihen unterzogen und man spiegelt ihm, mittels elektromagnetischer Impulse, eine, nicht existierende, Wirklichkeit vor. Aufgaben über Aufgaben. Wie viele davon ist es imstande zu bewältigen/zu lösen?

Jetzt wird mir alles klar! Ich habe schon einmal gelebt, habe gedacht und gearbeitet. Aber erst im letzten Augenblick wurde meine geistige Kompetenz entdeckt, sowie die Effizienz meiner Denkmodelle. Nur, leider war ich nicht mehr zu retten. Deshalb hat man mein Gehirn ausgebaut, geschickt alle Erinnerungen gelöscht, und nun spiegelt man ihm, dem Gehirn, also mir, ein ganz normales Leben vor – in der Hoffnung, es/ich würde sein/mein Leistungsmuster beibehalten, sprich: in gleicher Weise, wie vorher, intensiv weiter arbeiten. Ein Aufzeichnungsgerät hält dann alle Denk-Ergebnisse, in einer Art EEG fest. Ich fröstle, blicke mit angstgeweiteten Augen in die Runde. Dann trinke ich weiter…

„Was wäre denn“ – jetzt höre ich plötzlich eine Stimme aus meinem Innern – „wenn auch diese Theorie falsch ist und die „Wirklichkeit“ noch viel erschreckender, noch abstrakter ist?“ Die Stimme ist so weit entfernt, daß ich sie schon nicht mehr als aus mir selbst kommend, identifizieren möchte. Hat mir das der Computer eingegeben? Spricht da meine jenseitige Seele, die mir geradezu nostradamische Einblicke übermittelt, oder bin ich einfach nur besoffen? Mir schein: ich bin, zumindest vorübergehend, verrückt geworden!

Trotzdem höre ich weiter hin. Was im Diesseits vor sich geht, verschwindet in einem Nebel aus bewegten, bunten Lichtern. Die Stimme führt weiter aus… „Du hast nicht nur keinen Körper, du hast auch kein Gehirn, du befindest dich in keiner Nährlösung, in keinem Holo-Deck, auf keiner Scheibe, in keinem Sonnensystem – du bist eine Illusion! Deine wahre Natur besteht aus Nichts, aus weniger als Nichts. Doch dieses Wenigeralsnichts unterliegt einem unerklärlichen Zwang zu sein – immer von neuem. Von Ewigkeit zu Ewigkeit, sozusagen.

„Nichts kommt ohne Grund vor“, dieser doppeldeutige Satz, fällt mir lachend ein, denn Nichts ist nicht denkbar und das Denkbare ist Nichts. Ein Nichts mit zwei Seiten, Plus und Minus geladen, mit einem Wedernoch dazwischen. Alles zusammen oszilliert, explodiert (scheinbar), in einen unvorhandenen Raum, um Nichts zu erleben, so, als sei alles Denkbare und alles Undenkbare, auf/in der/allen möglichen Welten!

Jetzt plagt mich die Atemnot. Ich vermute, ich werde mich gleich übergeben müssen. Schreie ich? Aber, wer wird mich hören? Ich stutze, staune, dann fällt mir die alles entscheidende Frage ein: was ist eigentlich eine Materieprojektion?

Kurz darauf werde ich eine nulltel Sekunde lang bewusstlos und erwache wieder, durch einen lauten Knall, aus der Bewusstlosigkeit. „Prosit Neujahr“ höre ich. Die Gläser klingen, die ersten Böller sind zu hören. Von irgendwoher kommt ein Kuss, aus dem Nebel der bunten Bilder, auf mich zu…

Draußen steigen die Wunsch-Raketen in den Nachthimmel auf. Es gelingt mir, mich zu fühlen – für einen schönen Augenblick akzeptiere ich mein Leben, wie es ist, wie es mir scheint, wie es sich gibt, wie es auf mich einwirkt. Hicks! Darauf möchte ich trinken – jawoll!


© Alf Glocker


5 Lesern gefällt dieser Text.






Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Zeit-Reise"

Re: Zeit-Reise

Autor: Divagirl   Datum: 13.01.2014 18:50 Uhr

Kommentar: Nicht ganz so mein Ding. Ich finde es ist sehr wissenschaftlich geschrieben. Aber wer so etwas versteht und mag, für den ist toll.

Re: Zeit-Reise

Autor: Alf Glocker   Datum: 13.01.2014 19:14 Uhr

Kommentar: Es ist ganz leicht - glaub mir. Nur eine Frage der Erklärung...
danke aber für Deinen Kommentar.
LG Alf

Re: Zeit-Reise

Autor: GirlLulu   Datum: 13.01.2014 20:39 Uhr

Kommentar: Genial. Einfach nur richtig genial! Sowohl wie es geschrieben ist, als auch die Gedanken im Text. Unglaublich interessante Gedankengänge. Das ist wirklich mal etwas was mich richtig berührt.
Liebe Grüße Lulu

Re: Zeit-Reise

Autor: noé   Datum: 14.01.2014 2:05 Uhr

Kommentar: Subversive Gedanken aus einer anderen Welt - und sehr beeindruckend, liebes "Brüderlein". Da hat der Alkohol den Kern aller Wahrheiten freigespült. Wenn Du dann immer so denkst, würde ich Dich gerne ständig in dieser Nährlösung halten und Deinen Ergebnissen lauschen. Ich liebe Zeitreisen generell*), aber Deine obige ist pures Klarträumen. Nährlösung für andere Gehirne (oder Denkmuster von Gehirnen?). Ich fühle mich sehr geehrt, von Dir als Deiner "Verwandschaft" zugehörig deklariert worden zu sein.
Danke.
noé

N.B.: Wie kommt Deine Jahresendrunde - und in der Folge Du mit deren Reaktionen darauf - mit diesem Deinen Text klar? Darfst Du Dich noch blicken lassen? Oder gilt hier der Künstlerstatus als Bonus und Narrenrabatt?

*) Bonmot am Rande: Meine Tochter und ich sprachen vor einer Weile über diese Zeiterscheinung "Vampirfilme/-bücher" und deren derzeit großer Akzeptanz nicht nur in der jüngeren Generation. Sie fragte: "Und du magst...?" und nahm meine Antwort darauf in die Zitatensammlung auf: "Für mich ist sowas Zeitverschwendung. Ich mag eher so ganz normale Zeitreisen." Sie lacht heute noch Tränen, wenn das Thema darauf kommt.

Re: Zeit-Reise

Autor: Alf Glocker   Datum: 14.01.2014 7:10 Uhr

Kommentar: @ GIRLLULU: ich fühle mich sehr geehrt! Liebe Grüße und vielen Dank.

@ Schwesterchen: Du und Deine Tochter - Ihr seid anscheinend ein sehr humorvolles/kluges Gespann!

Der Jahresendrunde darf ich das nicht vorlesen, die wären tödlich beleidigt! Wenn's mal "rauskommt" hoffe ich auf den Künstler-Narrenbonus. In ihren Augen bin ich ja sowieso nichts anderes. Früher habe ich sie, ganze Abende lang, unterhalten. Da hielten manche noch größe Stücke auf mich. Aber das ist lange her! Als sie gemerkt haben, daß aus mir nichts wird...
(im Vertrauen gesagt, das darf ich nichtmal meiner Frau zeigen )
LieGrü, Alf

Re: Zeit-Reise

Autor: noé   Datum: 14.01.2014 10:49 Uhr

Kommentar: "...Du und Deine Tochter - Ihr seid anscheinend ein sehr humorvolles/kluges Gespann!..."
Stimmt! Meistens werfen wir uns die Bälle zu. Das kann sich richtig hochschaukeln. So schade, dass sie nicht dazu zu kriegen ist, auch zu schreiben...und schade auch das mit der räumlichen Distanz...
"...im Vertrauen gesagt, das darf ich nichtmal meiner Frau zeigen..."
Da hoffe ich doch sehr, dass meine "Schwägerin" mehr zu Dir als zur Jahresendrunde tendiert, Alf, ansonsten birgt es einige Brisanz...
Hey, merke gerade, dass mein Kommentar eine Art "Großraumgedicht" geworden ist: Distanz - Brisanz... auf wessen Einflüstgerungen habe ich denn da gerade wieder gehört...? ;o))
noé

Re: Zeit-Reise

Autor: Alf Glocker   Datum: 14.01.2014 13:26 Uhr

Kommentar: Esb ist die Seele, die flüstert...
Brisanz -?
Offiziell tendiert Deine Schwägerin zu mir, lach, also Lippenbekanntnis (ohne Hintergrund)
Was ihren verbalen Einsatz betrifft, nicht!!!
Aber: psssst!!
ich bin - musst Du wissen - von klugen, erfolgreichen Menschen umgeben. Sont gäbe es mich längst nicht mehr, oder so

LG Alf

Kommentar schreiben zu "Zeit-Reise"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.