Eine Gruppe junger Männer bestieg den Waggon. Sie wandten sich nach links gleich zur ersten Nische und saßen David so diagonal gegenüber, wenn auch der Eingangsbereich der Tür durch die dort aufgestellten Glasscheiben für eine gewisse räumliche Trennung sorgte. Dabei belegten sie einander mit deftigem Männerspott und rangelten, bis jeder seinen Platz gefunden hatte ? eine ausgelassene Gruppe in Feierlaune. So hoffte es David jedenfalls, denn die meisten Leute, die in Segerten zustiegen, waren ihm nicht geheuer.
Jeder der vier hielt eine Flasche Drifters in der Hand.
David dachte an den Moment zurück, als er dieses Starkbier mit synthetischen Zusatzstoffen zum ersten Mal probiert hatte: eine Katastrophe. Es war ihm zu herb, aber schlimmer noch waren die Konsequenzen, die nichts mit dem Geschmack zu tun hatten.
»Ich werd? den Teufel tun und das Zeug noch ein Mal anrühren«, rief sich David seine eigene Mahnung ins Gedächnis.
Mit einem Ruck fuhr die Bahn wieder an, und David legte den Kopf erneut an die Scheibe, um sich dem Hinausschauen zu widmen. David spürte das Durchschalten der Gänge im Beschleunigungsvorgang der Zugmaschine, das Ruckeln der metallenen Räder auf den Schienen. Abschließend registrierte er, wie der Zug seine gewohnte Reisegeschwindigkeit erreichte.
Sein Arm kribbelte erneut.
Er versuchte, die Erinnerung an sein erstes Drifters wieder aus dem Kopf zu bekommen, und schaffte es auch, aber das Kribbeln wurde dennoch stärker.
Die Erinnerung schien also nur teilweise etwas damit zu tun zu haben. David schaute auf und sah, wie ihn einer der Kerle fixierte. Während sich die drei anderen unterhielten, bohrte sich der Blick des Mannes tief in Davids Augen.
Sofort verstärkte sich das Kribbeln abermals, und auch die nächste Stufe in Form eines wirklich ekelhaften Juckens stelle sich ein. David kannte diesen Blick. Er kannte ihn nur zu gut.
Oft schon hatte er in solche Augen geblickt.
»Ein Opfersucher ? oh, Mann«, dachte sich David.
Er unterbrach den Blickkontakt und schaute auf den Fahrplan, der als großer Aufkleber an der Decke angebracht war.
Die nächste Haltestelle nach Segerten schien noch ein wenig auf sich warten zu lassen, stellte David missmutig fest. Er wandte seinen Blick wieder nach draußen auf die vorbeihuschenden Gebäude und versuchte, einen unbeteiligten Eindruck zu erwecken.
Allerdings sagten ihm sein Bauchgefühl und ein Blick auf die Spiegelung in der Scheibe, er könne noch so sehr versuchen, so unbeteiligt auszusehen wie ein Faultier in der Mittagssonne ? es war zu spät.
Immer noch schaute dieser Kerl ihn an.
Dessen Augen lagen ein wenig zu tief in den Höhlen, und die Stirn war zu breit und flach, als dass sie sein Gemüt nicht hätte unterschwellig unterstreichen können. Zwei Knöchelkuppen der rechten Hand waren frisch verschorft, und ein roter Strich zog sich über den Nasenrücken.
»Und dann auch noch ein Aggro, na toll! Was ich auch wieder für ein Glück habe«, huschte es David durch den Kopf. Er hoffte immer noch, die nächste Haltestelle Umbach zu erreichen, bevor Kapitän Stierauge langweilig würde.
Mit dem Wort »Aggro« betitelte David seit seinen ersten Erfahrungen diejenigen Leute, die auf Streit aus waren. Dieser Schlag von Menschen war an einem Gespräch nicht sonderlich interessiert, und das sah man ihm auch an.
»Ein ruhiger Feierabend und heute Abend zum Sport: Ist das zu viel verlangt?« David rollte mit den Augen und machte sich zur Sicherheit noch ein bisschen kleiner in seinem Sitz.
Doch anscheinend war das Augenrollen nicht unentdeckt geblieben. Der Sitznachbar des Aggros lehnte sich hinüber und flüsterte dem immer noch starrenden Mann ins Ohr: »Ape, Hansi da hinten in der Ecke scheint dein Geglotze auf die Nerven zu gehen«, sagte er. »Er hat mit den Augen gerollt, Ape. Und wenn du meine Meinung dazu hör?n willst, ist das verdammt unhöflich.«
Ape, der seinen Spitznamen bestimmt nicht von einem Kapuzineräffchen hatte, starrte bei diesen Worten immer noch David an. Die emotionslosen, glasigen Augen bewegten sich keinen Millimeter. Ein schiefes Grinsen bildete sich auf dem kantigen Gesicht, und mit einem gegrunzten »Opfer!« erhob sich der Mann. Dies tat er langsam, denn er wollte sich der Aufmerksamkeit seiner Kumpels gewiss sein.
Diese Show lüftete nicht zu ersten Mal ihren Vorhang, und Ape genoss seine Rolle. Die drei anderen verfolgten seine Bewegungen und schauten dann fast synchron zu David hinüber.
»1,90 Meter, geschätzte 110 Kilo und ein Gesicht wie ?ne Baustelle«, stellte David ernüchtert fest. Er war restlos »begeistert« und nahm deutlich die sich ein paarmal öffnenden und schließenden Hände des Aggros wahr.
Der Mann setze sich in Bewegung ? dummerweise, wie erwartet, in Davids Richtung.

David hasste Opfersucher, da sie immer und überall unbedingt zeigen mussten, warum sie an der Spitze der Nahrungskette standen. Die Abneigung resultierte nur zu einem kleinen Teil aus dem, was sie taten und warum sie es taten. Er verabscheute diesen Schlag von Menschen vielmehr deshalb, weil Vorfälle wie dieser hier David immer in ein und dieselbe Situation brachten. Nervös wechselte sein Blick von der tristen Aussicht zur Spiegelung in der Scheibe. David kämpfte nun regelrecht um seine innere Ruhe und versuchte sich zu sammeln.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte David damit begonnen, sich den Arm zu reiben.
Das Kribbeln hatte sich verändert und fühlte sich jetzt nicht mehr nach sich bewegenden Ameisen, sondern nach ihn vollpissenden Ameisen an. Er schaute mit wachsender Nervosität noch einmal nach draußen. Zwischen den alten Häusern und Lagerhallen, die vorbeizogen, ging gerade die Sonne unter. Der typische Dunstschleier des Hafenviertels ließ das Ganze etwas geisterhaft wirken. Die Farben schienen sich zu verflüssigen, und eine robuste Schönheit ließ sich dem Moment nicht absprechen. Aber David sah nur die Farbe der Sonne. Sie schien zu ahnen, was bevorstand. »Heute wird noch Blut vergossen«, flüsterte sie zwischen Davids Ohren. Er schloss die Augen und wartete auf das Unvermeidbare.

»Ich pack?s nicht. Die ganze Scheißbahn ist frei, und du hast nichts Besseres zu tun, als meinen Lieblingsplatz zu besetzen, Typ!«
Ape hatte sich in seiner vollen Größe vor David aufgebaut und war sich seiner Freunde in seinem Rücken bewusst.
David hörte die Worte und aktzeptierte das Unabwendbare.
Das Kribbeln und Jucken war unerträglich geworden. Seine rechte Hand fing an zu zittern, der Mund wurde trocken, und Angst vor dem Unvermeidlichen fraß ein dumpfes Loch in seinen Magen.
David ließ den Kopf sinken.
»Sach ma, ignorierst du mich?«, blaffte ihn der Kerl an. »Das würd? ich scheiße von dir finden. Grad zu dieser Zeit ist mir mein Lieblingsplatz wichtig ? wegen der Sonne und so. Ich bin nämlich Romantiker, weißt du?«
Ape hatte ordentlich Ironie in seinen letzen Satz gelegt, und seine Kumpels nahmen den Spott dankbar auf. Sie fingen sofort an zu lachen, und der Kleinere mit den schwarzen, gegelten Haaren prustete seinem Gegenüber sogar ein paar Spritzer Bier ins Gesicht.
Das sorgte natürlich für den nächsten Heiterkeitsausbruch. Nur zwei Beteiligte lachten nicht: der Typ, der sich gerade das Bier aus dem Gesicht wischte, und David, der sich immer noch mit dem störenden Romantiker konfrontiert sah.
David war der Ablauf dieser Vorführung ebenso bekannt wie dem Veranstalter selbst. Es war alles vorhanden: der ausgesuchte Vorwand, das Publikum und die beiden Hauptdarsteller. Und das Wichtigste: Es gab keine ungebetenen Zuschauer.
Die Videoüberwachung funktionierte eigentlich nur noch in den Bahnen des inneren Rings.
David befuhr diesen Streckenabschnitt immer auf dem ersten Drittel seines Heimweges. Nun war er natürlich schon durch den inneren Ring durch und hatte den Zug gewechselt. Er musste die Dritter-Ring-Bahnen nutzen, um nach Hause zu kommen. Sein spärliches Gehalt ließ ihn nun mal nicht in den besseren Stadtteilen ein Penthouse bewohnen.

Der Aggro bohrte seinen Zeigefinger in Davids Schulter und leitete die zweite Phase ein.
»Ey, du Opfer, hörst mir zu?«, grinste ihn Ape frech an.
David schaute hoch und versuchte, in dem Gesicht seines Problems zu lesen. Dessen Grinsen strahlte Selbstsicherheit und Überlegenheit aus. Der Aggro war sich seiner Position bewusst und konnte sich voll ins rechte Licht rücken.
Er entsprach genau dem Typ eines Neandertalers mit Geltungsdrang.
»Ich werde natürlich Platz machen, überhaupt kein Problem«, sagte David. »Ich will einer so feinfühligen Dame nicht im Wege stehen.«
Das Grinsen verrutschte im Gesicht des Aggros.
Die in der Nische zurückgebliebenen drei hörten auf zu feixen.
David ärgerte sich. Die Worte waren ausgesprochen gewesen, bevor er sie richtig zu Ende gedacht hatte. Er verlor die Kontrolle.
Das war alles andere als gut, aber wenn er sich das Gesicht des vermeintlichen Romantikers ansah, gab es nach seinen letzten Worten eh kein Zurück mehr. David stand auf und stellte sich somit Kopf an Kopf mit seinem Gegenüber.
»Ach, da sucht jemand Streit«, sagte der Aggro. »Das passt ja.«
Durch die kurze körperliche Distanz war David arg eingeengt in seiner Bewegungsfreiheit: vor ihm der Schläger und hinter ihm die Sitzbank und das Fenster. Selbst die Vorderkante der Polsterung drückte ihm noch in die Kniekehlen, so wenig Spielraum blieb ihm. Der Arm des Typen, der eben noch leger an dessen Körper heruntergehangen hatte, zuckte hoch und seine Faust traf David direkt in den Magen.
Ruckartig wurde ihm die Luft aus den Lungen gepresst, und ein ohnmachtartiges Gefühl breitet sich aus. David krümmte sich und versuchte, Luft zu bekommen. Seine Arme schlang er um seinen schmerzenden Bauch. Mit den ersten schnappenden Zügen keuchte er: »Hör auf. Bitte. Stopp. Du weißt nicht, was du da anrichtest.« David setzte beim Reden immer wieder kurz aus, die Luft fehlte ihm immer noch. Der Schläger aber schien sehr wohl zu wissen, was er tat.
David schaute hoch, indem er den Kopf auf die rechte Seite legte. Die Blicke der beiden trafen sich erneut. Doch bevor die grobe Faust sich wieder in Davids Magen vergraben sollte, hielt Ape inne.
In dem Moment, als David ihn anblinzelte, war Ape wie vor den Kopf gestoßen. Ihm hallte immer noch das anfeuernde Gegröle seiner Freunde in den Ohren, und er war berauscht von dem kleinen Vorschuss Adrenalin, den ihm sein Körper schon gegönnt hatte. Aber es schien, als wenn sein Hörvermögen sich langsam zurückziehen würde. Geräusche wurden dumpfer, und Ape klammerte die Welt aus. Er versuchte, sich zu konzentrieren, sich begreifbar zu machen, was er gerade in dem Auge seines Opfers zu sehen geglaubt hatte.

Davids Körper ruckte erneut nach vorne, und er fing an, sich in seiner gebeugten Haltung zu verkrampfen. Er keuchte, aber nicht mehr aufgrund des Schlages.
Ein Gefühl von Brennen und Reißen überzog seine Haut, und verwandelte seinen Unterarm in ein Flammenmeer.
Davids linkes Auge wurde trüb, und sein Blick verschwamm, als schaue er durch einen dicken, gläsernen Aschenbecher.
Am Blick des Aggros konnte David erkennen, dass dieser die Veränderung in seinem Auge sehen, aber nicht begreifen konnte. David hatte es schon oft im Spiegel beobachtet, wenn er es kontrolliert einsetzte. Blut lief von rechts nach links in sein Auge und vermischte sich mit dem Weißen. Es breitete sich aus wie die Wolke, die entsteht, wenn man einen Tropfen des Lebenssaftes in ein Glas mit Wasser fallen lässt, nur dass es hier immer mehr wurde. Die rechte Hälfte des Auges war schon völlig rot. Aus Davids Keuchen wurde ein Stöhnen, was Ape einen Schritt zurückweichen ließ. Seine Gang war verstummt. Sie merkten, dass irgendetwas aus dem Ruder lief. Und da ihr Kumpel mit seinem breiten Kreuz den Grund dafür verbarg, reckten sie die Hälse um einen Blick zu erhaschen.
»Ape, was ?n los? Hau ihm eine rein! Fang an! Wir sind gleich am nächsten Bahnhof.« Apes Kumpel machte einen Schritt auf die Kontrahenten zu. Dann blieb auch er stehen.
»Ich habe dich gewarnt, Sandsack«, flüsterte David bedrohlich aus seiner immer noch gebückten Haltung heraus und griff dem verunsicherten Ape an das Revers seiner Jacke.
Die Bewegung kam blitzschnell, aber so kontrolliert und berechnet, dass es kein Schlag war. Ape bewegte sich nicht einen Millimeter. David schnappte sich den verunsicherten Typen einfach und richtete sich langsam auf.
Ape hatte einen weit besseren Blick auf das, was nun folgte als sein nach vorn getretener Freund, aber dieser zeigte sich bereits von dem beunruhigt, was er an Davids Fingern beobachten konnte.
Die Fingernägel verfärbten sich zu einem schimmernden Grün, das zu einem Violett wurde und dann in ein tiefes Schwarz überging. Der unheimliche Vorgang setzte sich über die Haut auf der kompletten Hand fort. Mit dem Erreichen der Farbe Schwarz formten sich die Fingernägel zu spitzen Krallen. Dies sah der hinten stehende Gangbruder nicht mehr, da Davids Finger sich inzwischen in Apes Jacke vergruben.
Ape sah es auch nicht, da er durch Davids Auge immer noch abgelenkt war, aber er fühlte es; sogar mehr, als ihm lieb war. Davids Nägel wuchsen förmlich durch seine Jacke in seine Schulter und drückten dort schmerzhaft ins Fleisch.
»Was zur Hölle ??« Apes restliche Worten blieben ihm im Hals stecken als er zur Seite blickte, denn die Verwandlung der Hand breitete sich über das Gelenk auf den Arm aus. Schwarze Fäden schossen wie Adern die blass aussehende Haut hinauf und wurden mit jedem Zentimeter dicker.
Kleine schuppenartige Hautplättchen bildeten sich plötzlich auf den Fingern und auf dem Handrücken. Nachdem sich die Haut zu solchen Hornschuppen zusammengezogen hatte, klappten diese um.
In einer wellenförmigen Bewegung startete der Prozess an den Nagelansätzen und zog sich über die Finger. Der Handrücken war inzwischen gänzlich schwarz und die Schuppen bildeten sich nun auch dort.
Ein eindrucksvoller, flüssiger Zyklus der weiter den Arm hinauflief.
Ape erwachte aus seiner Starre, denn seinem Gegenüber entrang sich ein Laut, der auf seine Art schlimmer war als die Verfärbung der Haut: ein tiefes, dunkles Grollen. Ape konnte den Ursprung erst nicht zuordnen. Das Geräusch kam nicht aus Davids Mund, sondern aus seinem Hals.
Der Aggro sah, wie auf der linken Seite unter der Drosselvene eine Vibration einsetzte.
Da Ape viel mit seinen Freunden vor der Glotze hing und sich als eine der wenigen Vorlieben aus seiner Kindheit diejenige für Tierfilme erhalten hatte, erschien ihm sofort ein Bild vor seinem inneren Auge: Krokodilbullen erzeugten so ein Geräusch, wenn sie Gegner warnen wollten, die unerwünscht auftauchten. Während sie im Wasser lagen, fing die Oberfläche um sie herum an, sich zu kräuseln und zu spritzen. Mit einem Mal war sich Ape sicher, dass dies auch hier der Fall sein würde, wären sie im Wasser.
Das waren sie aber nicht. Sie waren in einer verdammten S-Bahn, mitten auf dem dritten Ring. Und das hier war sein Revier! Er zeigte seinen Gangmitgliedern nur, warum er immer noch deren Anführer war!
Bei dem Witzbold vor ihm hätte das keine große Nummer sein sollen. Da hatte Ape schon ganz anderen Typen gezeigt, wo es lang geht.
Aber nun wollte er nur noch weg.
Ape verlor die Kontrolle über seine Selbstbeherrschung, und etwas in ihm drin fing an zu drängen: »Lauf! Lauf weg!«
Noch war die Stimme leise, aber mit anhaltender Länge dieses bedrohlichen Knurrens wurde seine innere Stimme immer lauter.
Eins war nun klar: Dieser Typ vor ihm bedrohte ihn. Erst war es nur dieses Geräusch ? bis zu dem Augenblick, als Ape in seinem Augenwinkel sah, wie die schwarze Welle die Schulter erreichte und unter dem Ausschnitt des T-Shirts sichtbar wurde.
Er war völlig perplex und verband erst jetzt diese Verfärbung und das Grollen miteinander. Etwas änderte sich, und das nicht zu Apes Vorteilen. So viel zumindest hatte er begriffen.

Ape legte seine ganze Kraft in eine drehende Bewegung, die seine Flucht einleiten sollte; aber die einzige Wirkung, die diese Reaktion hervorbrachte, war, dass er sich selbst von den Beinen holte. Seine Füße liefen los, aber sein Oberkörper war fest arretiert. Eisern hielt ihn das Etwas im Griff, dessen Gesicht sich jetzt ebenfalls verfärbte.
Ape verfiel in Panik.
Wohinein war er hier nur geraten? Seine Angst übernahm den Oberbefehl, Adrenalin schoss ihm heiß durch die Adern, und Ape beschränkte sich auf das, was er gelernt hatte, als er früher selber noch Opfer gewesen war und wenn das Weglaufen nichts mehr brachte: Er griff an.
Mit seinem Unterarm holte er aus und rammte die flache Seite seinem Gegner direkt auf das Jochbein. Ein Knacken ertönte, und Ape hoffte, der Treffer würde Wirkung zeigen.
Er nahm wahr, dass sich das Knacken wiederholte. Das gab es noch nie.
Der Aggro hatte schon oft so fest auf jemanden eingeprügelt, dass er mehr Schaden anrichtet hatte als beabsichtigt, aber dass Knochen von allein brachen ??
Nein. Das war neu.
Und damit noch nicht genug: Die geschuppte Haut brach über den Fingerknöcheln auf, und kleinere Dornen schoben sich durch die Stellen. Auf dem Handrücken verhärteten sich einige der kleineren Schuppen zu noch dickeren Hornplatten.

David machte sich selbst im Stillen klar, dass er den schlimmsten Teil seiner Mutation gleich hinter sich hatte. Er brauchte seiner Verwandlung nicht mit den Augen zu folgen, weil er fühlte, was mit seinem Körper geschah. Nachdem sich seine Knöchel mit seinen Sekundärwaffen ausgestattet hatten, folgte die Panzerung auf seinem Handrücken und wanderte den Unterarm entlang, über dem sich inzwischen sein Jackenärmel eng spannte. Mit dem Geräusch von reißendem Stoffs bahnten sich seine länger werdenden Ellendornen ihren Weg.
Nun kam der wirklich schmerzhafte Teil: Dornen, die an den Spitzen eher abgerundet waren, schoben sich am Trizeps und Bizeps vorbei, ohne das Gewebe oder Muskeln zu verletzen. Sie waren entscheidend länger und dicker, da sie David zur Verteidigung dienten.
Seine Elle schob sich nach oben hin aus dem Gelenk. Dieser Knochendorn bog sich leicht vom Körper weg, damit die Bewegungsfreiheit des Armes gewährleistet war. Vier Reihen der dicken, leicht keilförmigen Dornen zierten Davids Oberarm. Eng angegliedert, boten sie eine praktische Barriere vor Schlägen und Stichen. Ein spitzer Auswuchs bahnte sich seinen Weg durch seine Jacke. Er zierte die Schulter über dem oberen Deltamuskel. David stieß bei diesem Vorgang einen Schrei aus ? einen Schrei, der mit dem Heraufwandern der Mutation immer lauter wurde. Die Panzerung aus Hornauswüchsen weitete sich auf den Hals und auf die Wange aus. Das Knacken, das der Schläger vernommen hatte, als er David den Ellenbogen ins Gesicht stieß, erklärte sich nun in Form von kleineren Dornen, die das Auge umrahmten und nach hinten zum Ohr wanderten. Die Iris hatte sich inzwischen ins Ovale verformt, die Pupille sich stark verkleinert und ein unheimliches Gelb angenommen. Schimmernd stach sie aus der roten Farbe des übrigen Auges hervor: eine leuchtende Insel in einem See aus Blut.
David liebte es besonders, Gegner mit den nun vorhandenen weiteren Augenlidern aus der Ruhe zu bringen, denn diese waren nicht mindern Eindrucksvoll wie die Farbe des Auges. Die Nickhäute waren milchig transparent und schlossen sich jeweils von außen nach innen. Das Zerren und Reißen in seinem Körper ließ nach, und David hob den Kopf. Er schaute dem weiß gewordenem Aggro ins Gesicht.
Blitzschnell ließ er los, dann er schlug zu. Vier längliche, zentimetertiefe Stichwunden zogen sich nun über die Wange seines Gegenübers. Die ersten Blutfäden liefen daraus hervor. Sofort sprangen die drei übrigen Gangmitglieder auf, um ihrem Leader zu Hilfe zu eilen.
»Stopp, keinen Schritt weiter!«, grollte Davids Stimme laut durch den Waggon. Er hob seinen rechten, unveränderten Arm und gebot den dreien Einhalt. Seine gesamte rechte Körperseite war nicht von der Mutation betroffen. Im Gesicht grenzte sich die schwarze Haut nun eindrucksvoll von seiner hellen Haut ab. Es gab keine klare Linie in der Mitte des Gesichtes. Hell und Dunkel verliefen wie auf einem Rorschachbild unregelmäßig ineinander.
Sein Körper verstand etwas von angsteinflößender Kriegsbemalung.
David hatte lernen müssen, mit einer mutierten und einer normalen Körperhälfte umzugehen, denn manche Gegner wussten diesen Umstand zu nutzen. Das Gangoberhaupt ihm gegenüber schien aber zu perplex zu sein. Also wollte David erst mal dessen Verstärkung auf ihren Platz verweisen.
»Ich will die Lage mal erklären. Setzt euch, und es wird euch nichts passieren.«
»Du bist so gut wie tot!«, schrie der junge Gangbruder, und trat vor.
»Schweig! Ich bin noch nicht fertig. Und nein, ich bin ziemlich weit vom Sterben entfernt! Ihr seid es, die nun in der Scheiße stecken. Ich wollte das hier nicht!«, stellte David nüchtern und emotionslos fest.
Es ließ sich nicht unbedingt gut mit Handlangern verhandeln. Auf Diskussionen hatte er eh keinen Bock.
»Als Nächstes lasse ich Mr. Neandertaler hier los.« David schaute dem blutenden Aggro direkt in die Augen »Und ihr verzieht euch ans Ende des Waggons. Nächste Station seid ihr raus! Fragen?«
»Nein«, antwortete Ape, und von da an überschlugen sich die Ereignisse.

Ape vollführte eine immer wieder geübte Bewegung des Handgelenks. Mit einem mechanischen Klicken schoss die Kollos ZERO aus ihrer Spezialhalterung. Die Apparatur sorgte durch nachgebende Splinte für ein Entsichern und ein Zurückziehen des Schlittens. Die Waffe befand sich im Bruchteil einer Sekunde geladen und schussbereit in seiner Hand. Ape hatte nicht vor, erst groß zu drohen oder sich gar den Weg nach hinten abzusichern.
Er winkelte das Handgelenk an und drückte ab.
Der Schuss einer solch gewaltigen Waffe klang ohrenbetäubend in einem S-Bahn-Waggon.
Ein heißer Schmerz breitete sich in Davids Unterleib aus.
Der Treffer hätte keine zehn Zentimeter weiter unten sitzen dürfen. Dort lag das ungepanzerte Gewebe unterhalb des Hüftknochens.
Aus Unwissenheit hatte der Aggro ihm in die linke, mutierte Körperseite geschossen. Da die Haut nun dicker und die Muskeln dort leistungsfähiger und zäher waren, blieb die Kugel allerdings stecken und richtete keinen sehr großen Schaden an.
Doch sorgte die chemische Reaktion in Davids Körper nun dafür, dass er nicht mehr nachdachte, sondern handelte. Adrenalin überlagerte jeden noch vorhandenen klaren Gedanken. David explodierte förmlich emotional. Nun wollte er kämpfen.
Er wandte die rechte Körperseite vom seinem Gegner ab, um sie durch die mutierte Hälfte zu schützen, und riss den linken Arm wie bei einem Aufwärtshaken nach oben. David stieß wieder diesen lauter werdenden spitzen Schrei aus, der einem Kreischen nahe kam.
Seine Elle verlängerte sich in Richtung Hand. Es knackte vernehmlich. David winkelte das Gelenk nach unten ab, und seine Primärwaffe, der zwanzig Zentimeter lange Knochendorn, trat aus. Dieser Teil der Mutation sorgte dafür, dass die Knöcheldornen seiner Hand ebenfalls noch einmal um einen Zentimeter wuchsen. Weiß und blutverschmiert boten sie einen erschreckenden Anblick. Mit einem schnellen Aufwärtshaken drang die scharfe Spitze unterhalb Apes Kiefers ein, und David zog den Schlag komplett durch. Der Dorn fuhr durch die Mundhöhle, drang in das Gehirn und durchbrach die Schädeldecke.
Es kostete enorm Kraft und fühlte sich für David immer wieder unwirklich an, wenn Knochen brachen und Gewebe nachgab, während sich seine Waffe ihren Weg bahnte. Sofort erschlaffte Davids Gegner. Ape hatte nicht einmal Zeit gehabt, einen zweiten Schuss abzufeuern. Mit einem Ruck nach unten bekam David seinen Arm wieder frei. Den zusammensackenden Körper drückte er noch in der Vorwärtsbewegung beiseite und trat nun auf die restlichen drei Ganger zu.
»Fun-Time!« David lächelte. Für die drei jungen Kerle sah es allerdings eher aus wie das Zähneblecken eines Raubtieres.
Zwei ergriffen sofort die Flucht und hasteten in den hinteren Teil des Waggons.
Derjenige, der David noch belehren wollte, was seine Lebenszeit anging, war wie paralysiert. Davids Lächeln und das dämonische Auge lähmten ihn. Diese Schrecksekunden kosteten ihn als Nächsten das Leben: David stieß ihm den Kampfdorn in den Oberschenkel. Sein normal arbeitender Verstand registrierte, wie er am Oberschenkelknochen entlangschabte. Diese kleinen Informationen verarbeitete er aber nur auf einer unteren Ebene seines Bewusstseins.
Regiert wurde sein Körper von Instinkten.
David wollte nicht mehr fühlen oder reden, er wollte Blut. Stoppen ließ sich das alles nicht mehr. Das konnte er in dieser Phase nie.
Der Ganger knickte ein, und während er auf seinem Knie landete, drehte David sich, um seine verwundbare Seite erneut in Sicherheit zu bringen. Die Szenerie erinnerte an einen Ritterschlag.
Den Schwung aus seiner Bewegung nutzte David, um dem Kontrahenten mit den vier Unterarmdornen den Hals aufzureißen. Wie mit einer Kettensäge fuhr die Reihe der kleinen spitzen Auswüchse durch Haut und Fleisch. Es entstand eine furchtbare Verletzung. Die Wundränder waren ausgefranst und die Halsschlagader zerfetzt. Blut spritzte an das Fenster und auf die Sitzbänke. »Wie gut, dass ich hier keine Putze bin«, witzelte Davids Unterbewusstsein, das nun, kontrolliert von der Mutation, sichtlich Spaß an dem Kampf fand. Er rollte in seinem Rausch mit den Augen, sein Blut kochte. Dann lenkte er seine Aufmerksamkeit auf die verbliebenen zwei Typen.
»Ey, du Scheißfreak: Verpiss dich!«, brüllte der eine. Seine Stimme zitterte, und man konnte Panik darin hören. David witterte die Angst regelrecht.
Der junge Mann hatte ein Messer gezogen. Mit zitternder Hand zeigte er damit auf David, der sich langsam näherte.
»Na, komm! Wir können das ausfechten«, provozierte David amüsiert.
Er schlug spielerisch mit seinem Dorn nach dem Messer.
Dabei nahm er eine Fechtposition ein, der jede Ernsthaftigkeit fehlte. Nun stach der Ganger ebenfalls mit seinem Messer zu. Die Nervosität und seine Angst ließen die Bewegungen fahrig und viel zu langsam ausfallen. David parierte und stach ihm zwischen die Rippen. Er lehnte sich mit dem Ausfallschritt aber nur leicht vor, sodass keine tödliche Wunde entstand.
»Weiter, du großer Stecher!«, witzelte David und hatte sichtlich seinen Spaß. Er täuschte einen weiteren Ausfall vor, und der Ganger wich zurück. Dabei hielt er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Hand auf die Wunde. Mit einer schnellen Bewegung drückte David den Waffenarm des Typen herunter, öffnete dessen rechte Seite und drehte sich um die eigene Achse. Mit dieser Bewegung krachte Davids rechte Faust auf die Nase und das Auge seines Gegners. Es knackte. David wedelte mit der Hand, um die Schmerzen in seiner Hand zu vertreiben, während der Ganger sich jaulend das Auge hielt. David wusste um die fehlende Panzerung, ärgerte sich aber trotzdem.
»Schöne Scheiße!«, grollte er ungehalten und trieb den Dorn in die Brust des Messermannes. Dieser sackte leblos zu Boden.
Sein Blick fiel auf den Letzten der Gang. Der hatte sich in den hintersten Winkel verzogen und sah so gar nicht mehr nach Aggressor aus.
»Bitte nicht! Ich hab keine Waffe und will dir auch nichts tun.«
Seine Angst trat noch deutlicher zutage als bei seinem Kumpel.
»Na, ist es wahr ?! Wirklich? Ich hatte echt schon die Hose voll«, spottete David.
»Verarscht du mich?«, fragte das Gangmitglied mit bebender Stimme, in der ein Funke Hoffnung mitschwang, doch noch davonzukommen.
»Ja, du dämlicher Idiot!« David brüllte, denn er war richtig sauer und frustriert. Das alles nur, weil so ein Penner Langeweile gehabt hatte.
»Ich habe euch gewarnt. Oder nicht?« David wartete die Antwort nicht ab. »Und was macht ihr Pisser? Einen auf dicke Hose! ?Hau ihn um, Ape. In die Fresse, Ape.? Ich glaub?, dich hab? ich auch schreien gehört, oder, Keule?«
»Ich hab? nur zugeschaut. Ich ...«
»Lügner!«, fiel ihm David schreiend ins Wort. »Alle seid ihr gleich! Und weißt du, was ich noch mehr hasse als Lügner?«
In seinem Unterbewusstsein schrie eine Stimme auf. David herrschte sich innerlich selber an.
»Nein, nicht schon wieder! Hör auf!«, brüllte die Stimme.
Der Ganger fing noch stärker an zu zittern. David lächelte raubtierhaft, und sein blutrotes Auge verengte sich zu einem schmalen Schlitz. Lauernd kam er langsam auf den jungen Mann zu.
»Zeugen hasse ich noch mehr als Lügner«, flüsterte David sanft und rammte den Dorn in das Auge. Er durchschlug den Schädel und blieb in der Verkleidung der S-Bahn stecken.
Eine gespenstische Ruhe kehrte ein, nur gestört durch die Fahrgeräusche der S-Bahn.


© Marcus Strobel


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Beschreibung des Autors zu "Auszug aus DAVID - Die Bestie im Inneren"

Hier eine Leseprobe aus meinem Debütroman




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