Es war vor langer, langer Zeit, als die Bäume noch sprachen und die Flüsse noch sangen. Es war in einer Zeit, in der die Menschen noch nichts anderes interessierte als das Leben. Diese Zeit lag noch vor der Zeit der Indianer oder der Chinesen, vor der Zeit der Teilung der Kontinente und noch weit vor dem Turmbau zu Babel.
In dieser fernen Zeit waren alle Menschen gesund. Sie lebten, das war alles. Sie hatten keine Uhren, denn sie fühlten den Augenblick. Sie hatten keinen Kalender denn sie kannten die rechte Zeit. Sie hatten keine Landkarten, denn sie spürten den Geist eines Ortes. Sie fühlten sich eins mit der Weltenseele. Die Weltenseele bestand aus dem Bewusstsein aller Menschen und das Bewusstsein der Menschen war die Weltenseele. So floss die Kraft des Lebens hin und her zwischen der Weltenseele und allen Geschöpfen. Zu dieser Zeit gab es Männer und Frauen, Söhne, Töchter, Mütter und Väter. Sie lebten zusammen, sie wuchsen und gediehen vom Säugling bis zur Weisheit. Je mehr sie wuchsen, umso enger kamen sie hinein in den Kern der Weltenseele und wenn sie in der innersten Mitte waren, verschmolzen sie mit ihr. Da war auch eine Mutter, die hatte vier Söhne zur Welt gebracht. Gemeinsam mit den anderen Müttern und Vätern versorgte diese Mutter ihre Kinder und sang ihnen Lieder von der Weisheit der Weltenseele. Sie zeigte Ihren Söhnen, wie der Lauf des Lebens bis zur Weisheit aussah, daher malte sie Spiralen an die Steinwände und legte Spiralen aus Steinen auf den Boden. Sie lehrte sie die Pflanzen und Tiere verstehen und lieben. Sie sagte zu jedem einzelnen Sohn: Schau, hier außen fängst du an und wenn du am Ziel bist, bist du ganz innen. Sie waren lebendig miteinander und wuchsen gemeinsam. Eines Tages kam ein Mann zu dieser Gruppe und sprach etwas von neuen Orten, neuen Pflanzen, neuen anderen Lebewesen, von Fortschritt, Führungspositionen und der Macht der Väter. Die Männer der Gruppe hörten aufmerksam zu und berieten sich mit den Frauen. Es wurde entschieden, dass die Männer dem Besucher folgen sollten, um zu schauen, was es mit seinen Schilderungen auf sich hatte.
Die Frauen mit den Söhnen, Töchtern und den Weisen warteten lange, doch die Männer kehrten nicht zurück. Die Weltenseele wurde traurig und die Menschen teilten diese Traurigkeit. Die Söhne wollten nicht mehr wachsen und entdeckten Zorn auf ihre Mutter. Sie traten die Spirale mit Füßen und das Heiligtum der Gruppe, den Fünfzack, der alles Leben mit Kopf, Armen und Beinen abbildete, verspotteten sie. Sie entschieden, nicht mehr den Weg des Weltenlaufs bis in die Mitte hinein zu verfolgen. So verschlossen sie ihr Herz gegen die Weltenseele und stahlen sich eines Nachts davon.
Die Mutter verging fast vor Kummer, doch sie war sich sicher, dass der Fünfzack ihre Söhne auch in der Ferne beschützen würde. So vergingen viele Jahre und die Mutter wurde alt und weise. Eines Tages, als sie in der Nacht besonders engen Kontakt mit der Weltenseele gefunden hatte, erblickte sie am Horizont eine Gestalt. Als sie näher kam, erkannte die Mutter voller Freude ihren ältesten Sohn. Er war in fremde Kleider gehüllt, sein Kopf, dort wo das Universum seine Liebe in den Menschen gießt, hatte er bedeckt. Er kam näher und setzte sich zu seiner Mutter ans Feuer. Sie war so froh über sein Kommen und ließ ihn erzählen. Er sprach von einer Organisation, von Mitgliedern und Rechten und Pflichten. Sein Gesicht war traurig, obwohl er sein neues Leben in vollen Zügen lobte. Es sprach von Feindschaft und Schuld und von Kampf und Sieg. Seine Mutter schüttelte den Kopf. ?Wir haben nie so etwas gebraucht. Die Weltenseele ist frei und gut, warum beschwerst du dein Herz, mein Sohn?? fragte sie. ?Frei und gut?, der Sohn lächelte spöttisch. ?So steigt keiner auf. Und schließlich geht es um Recht und Ordnung, hier bei Euch tobt ein Chaos, ihr seid altmodisch.?
?Nimm mich mit, in deine Welt?, bat die Mutter, ?dann kann ich bei dir sein und dir vielleicht helfen??
Der Sohn lachte. ?Ich bin gekommen, mein Erbe zu holen. Du passt nicht in mein Leben. Ich habe Frauen, so viele ich will und Söhne, die mir gehorsam sind. Was will ich mit dir?? Und er ging in das Zelt der alten Frau und holte einige Gegenstände die dem Vater gehört hatten. Im Stillen summte er ein Lied aus seiner Kindheit. Dann küsste er seine Mutter und zog davon. Vorher legte er einen Steinwall um das Dorf, damit die Mutter ihm nicht folgen möge.
Das wiederholte sich mit den drei übrigen Söhnen der Mutter. Sie alle sprachen von neuen Gesetzen, neuen Propheten, von Macht und Gesetz. Sie alle holten ein Teil ihres Erbes. Räucherwerke und Lichter, Kessel und Farben, Elixiere und Öle, alle Aufzeichungen nahmen sie mit. Sie alle summten die Lieder aus der Kindheit, doch keiner wollte seine Mutter mitnehmen. Jeder einzelne baute den Wall ein wenig höher und der letzte, der schon der Schrift kundig geworden war, stellte ein Schild auf, auf dem stand: Achtung, Gefahr, hinter diesem Wall verbirgt sich das Böse, hier wohnt eine Hexe.
Die Mutter sitzt noch heute dort mit der Spirale und dem Fünfzack, mit ihren Riten und ihrer Liebe zum Leben. Sie geht immer tiefer ein in den Mittelpunkt der Weltenseele. Manchmal sitzt sie an einem Wasser und schaut hinein. Sie kann ihre Söhne sehen, wie sie die Lehren der Alten verbreiten und Organisationen gründen. Sie sieht einen Sohn räuchern und Menschen auf den Scheiterhaufen stellen. Sie sieht einen anderen sich geißeln und von seinen Anhängern loben, da wird ihr ganz übel. Sie sieht sie das Lichterfest feiern und das Erntefest, das Fruchtbarkeitsfest, doch diese Feste haben jetzt andere Namen und überall ist Geschrei, Getöse und Marktgeschrei. Sie sieht, dass ein Sohn die Frauen als unrein verdammt und seine Kinder schlägt. Die Mutter sieht Reiter mit Waffen, die im Namen der Weltenseele die Erde verwüsten. Sie preisen die alten Überlieferungen als eigene Erfindungen und lassen sich feiern und mit Macht ausstatten. Sie sieht die Söhne im Streit, jeder stellt dem anderen nach, sie können sich nicht mehr leiden. Dann seufzt die Mutter, denn vieles von dem, was die Söhne machen, haben sie von ihr gelernt, doch haben sie wohl das Ziel und den Ursprung, das Leben dabei vergessen. Sie fragt die Weltenseele, warum ihre Söhne sie vergessen haben und die Weltenseele antwortet liebevoll: ?Sie haben dich nicht vergessen, sie haben dich verkauft. Du hast sie die Macht über ihr eigenes Leben gelehrt, doch die Macht über andere ist ihnen reizvoller.? So wartet die Mutter darauf, im Mittelpunkt der Weltenseele zu verschwinden und die Menschen in den neueren Regionen fürchten, sie möge sich ihnen nähern und ihre Botschaft des Lebens könnte wieder gehört werden. Dabei wissen sie nicht, dass der Fünfzack sie weiter beschützt und das Leben sie weiter bedingungslos liebt. Sie haben die Mutter aus ihrem Bewusstsein verbannt und stattdessen einen neuen Lehrer gefunden. Sie folgen nun der Angst, dem Abbild ihres Gewissens und ihrer Einsamkeit.


© Stefanie Glaschke - hexenvonheute.de


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Kommentare zu "Die vier Söhne"

Re: Die vier Söhne

Autor: HelgaWolf   Datum: 28.01.2011 14:55 Uhr

Kommentar: Eine wunderschöne Geschichte, ja man sollte sich mehr auf seine Wurzeln besinnen und weniger nach neuem streben!

Re: Die vier Söhne

Autor: HelgaWolf   Datum: 28.01.2011 14:55 Uhr

Kommentar: Eine wunderschöne Geschichte, ja man sollte sich mehr auf seine Wurzeln besinnen und weniger nach neuem streben!

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