Sie hatte das Gesicht eines jungen Mädchens, bildschön war sie, mit großen Augen, einem kleinen Stupsnäschen und einem sanft geschwungenen Mund.
Leider konnte man es nur sehr selten sehen, dieses schöne Gesicht,
denn immer, wenn sie auf die Bühne durfte, stand sie im Hintergrund und trug einen langen Mantel und eine Kapuze, die ihrbis über die Augen fiel.
Andere Kleidung hatte sie nicht.
Kleidung wäre nur hinderlich gewesen, denn sie war eine Marionette,
an der die neuen Puppenspieler den Umgang und die Arbeit mit den Figuren lernen sollten.

Am Abend, wenn sie die Übungsstunden heil überstanden hatte, kam sie in einen Schrank, in dem außer ihr nur die alten, kaputten und verschmutzten Puppen hingen.
Neben ihr hing der alte Pepe, dessen Fäden zum Teil gerissen waren,
sodass er nur noch einen Arm bewegen konnte.
Auf der anderen Seite hing ein Hund mit roten Flecken in seinem brauen Fell, es gab Soldaten, eine Katze, ein kleines Mädchen, das keine Haare hatte und zwei Damen, deren Kleider nicht zu den Stücken passten, die in diesem Jahr gespielt wurden.
Die Beiden hielten sich für etwas Besonderes, denn es waren ja nur ihre Kleider, die nicht mehr in Ordnung waren. Und so hofften sie jedes Mal, wenn die Schranktür geöffnet wurde, dass sie jetzt endlich wieder für ein neues Stück ausgewählt würden.

Aber immer war es die kleine Marionette, die den Schrank verließ und erst nach einer Übungsstunde wieder zurück gebracht wurde.
Schrecklich waren sie, diese Stunden. Zu Beginn wurde sie von einem erfahrenen Spieler geführt.
Dann konnte sie nicken und den Kopf schütteln, langsam gehen, laufen und hüpfen, mit den Armen schlenkern und winken und manchmal bekam sie sogar eine Stimme. Dann fühlte sie sich wie ein richtiger Star, der auf der Bühne stand und das Publikum begeisterte.
Aber dann, wenn ein neuer Spieler ihre Fäden in die Hand nahm, ging es los mit dem Gewackel und Gezappel, ihr wurde ganz schwindelig dabei und sie hatte Angst, dass ihre Fäden durcheinander gerieten und man sie mit verdrehten Gliedern in den Schrank zurück bringen würde.
Dann wäre sie eine von denen, die die Bühne nie wieder sah.
Obwohl die Übungsstunden fürchterlich waren, war diese Vorstellung noch schlimmer.Sie freute sich jedes Mal, wenn sie einen Blick auf die Proben werfen konnte.
Am meisten liebte sie es, wenn Barbara eine der Puppen führte.

Barbara gab jeder der Figuren eine Stimme, die genau zu ihr passte.
Die Prinzessin sprach glockenhell, die alte Hexe meckerte und die Frau des Bürgermeisters zeterte schrill und laut, wenn sie vor ihrem Haus stand und die Kinder beschimpfte, die auf der Straße spielten.
Und mit ihren Händen erweckte sie sie zum Leben.
Sehnsüchtig schaute die kleine Marionette dabei zu.
Sie träumte von diesen magischen Händen, wenn der alte Pepe am Abend Geschichten erzählte. Geschichten von den Stücken, in denen er zusammen mit Rittern und Piraten, Königen, wilden Tieren und schönen Frauen auf der Bühne gestanden hatte. So manches Abenteuer hatte er erlebt, so manche Heldentat begangen in den längst vergangen Tagen.
In seinen Erzählungen konnte man sie riechen, die Bühne, man glaubte den Applaus zu hören und tauchte ein in den Zauber des Theaters und jeder sehnte sich danach, selber wieder dort zu stehen.
Jeder, der selbst schon einmal gespielt hatte und auch unsere kleine Marionette, die das alles nur vom zusehen kannte.
Sie träumte davon, wenn sich die Tür öffnete und hoffte auf den nächsten Tag, wenn sie sich nach der Übungsstunde wieder schloss und sie mit heilen Gliedern in den Schrank zurück gebracht wurde.

So ging es jeden Tag, viele Wochen lang.
Morgens eine Übungsstunde, am Nachmittag noch einmal und abends erzählte der alte Pepe seine schaurigschönen Geschichten.
Heute hatte er gerade begonnen, als sich die Tür zum dritten Mal an diesem Tag öffnete. Erschrocken hielt er inne.
Eine Störung zu dieser Stunde war sehr ungewöhnlich.
Die kleine Marionette hob vorsichtig den Kopf und sah – Barbara!
„Na meine Kleine!“ sagte sie zärtlich zu der erstaunten Puppe.
„Ich glaube, du passt genau zu der Rolle in unserem neuen Stück. Komm mal her, wir probieren ein paar Schritte.“
Vorsichtig nahm sie die Puppe heraus und bewegte ihre Arme und Beine.
„Fantastisch, viel zu schade für Übungszwecke!“
Sie ließ sie tanzen und Pirouetten drehen, dann brachte sie sie in einen Raum, in dem es nach Stoff roch. Viele Hände fertigten oder
repartierten hier Kostüme. An den Wänden hingen Puppen, die der kleinen Marionette zuzwinkerten."Jetzt gehörst du zu uns", schienen sie zu sagen.
Endlich, endlich bekam sie ein Kostüm, endlich durfte sie spielen, zusammen mit den anderen auf der Bühne stehen. Endlich begann ihre Verwandlung, von einer Übungspuppe zu einer Marionette, die mit Barbaras Stimme und durch deren Hände zum Leben erweckt wurde.
Ein Traum war Wirklichkeit geworden!


© Sigrid Hartmann


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Kommentare zu "Ein Traum wird Wirklichkeit"

Re: Ein Traum wird Wirklichkeit

Autor: Drachenblut   Datum: 19.07.2014 13:58 Uhr

Kommentar: Oh sehr schöne geschichte mit happyend

Re: Ein Traum wird Wirklichkeit

Autor: sissy   Datum: 19.07.2014 15:01 Uhr

Kommentar: Danke dir, freue mich, dass dir meine Geschichten gefallen.
Wünsche dir ein schönes Wochenende
LG Sigrid

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