„Gott schläft im Stein, atmet in der Pflanze, träumt im Tier und erwacht im Menschen“. Dies stand nicht in lesbaren Lettern auf der riesigen Höhlendecke in Cro-Magnon, sondern es wurde fühlbar, durch die gemalte Jagd, die Ugu soeben Lala stolz präsentierte. In seiner Fantasie bewegte sich die Szene. Viele tausend Jahre später reihte jemand Bildchen an Bildchen an einer Tempelwand in Ägypten zu einer Geschichte auf, die von den angeblichen Heldentaten eines hochwohlgeborenen Toten erzählte. Mit etwas Vorstellungskraft und sehr viel Naivität konnte man das Leben des noblen Herrn nachvollziehen.

Da noble Herren Sklaven haben und die Sklaven der noblen Herren zumeist der Landessprache nicht mächtig sind – sie wurden ja „eingeladen“ an einer Kultur zu partizipieren, die sie gar nicht haben wollten – erfand ein kluger Kopf den Comic. Das war zeitlich nicht so sehr von den Hieroglyphen unterschieden wie die Hieroglyphen von den Höhlenzeichnungen. Alle drei Verfahrensweisen hatten aber einen eher profanen Grund: sie dienten der „Beschwörung“ für die Jagd, als Legenden zur Erhaltung der Macht, oder zur Verbesserung einer Verwendung von Arbeitskräften.

Dann kam Charlie Chaplin, der humorvolle Schwerenöter und alles wurde mit einem Schlage anders. Seine Bildchen waren so dicht aneinandergereiht, daß sie insgesamt flimmerten. Gezeigt war nicht mehr ein real ernstes Dasein, sondern die Parodie eines Lebens, leicht, lustig, voller Pointen und so realitätsfern wie Politikerversprechen, wie ein Liebesschwur, oder der verirrte Glaube eines Kleinkindes an die Welt. Ganz nebenbei war praktisch eine zweite Realität entstanden! Schwarzweiß zwar, ein bisschen wie ein wilder Traum zu erfahren, der, verwackelter Eindrücke wegen, kein präzises Erinnern an winzige Kleinigkeiten zulässt, aber diese andere Welt, nach der sich der gramgebeugte Normalbürger sehnen konnte, stand.

Inzwischen hatte sich die Menschheit weitgehend zivilisiert, gekleidet und mit dem Nötigsten versorgt, das der kleine Mann zum bloßen Überleben und der Mächtige braucht um andere gezielt(er) ausbeuten zu können. Die materiellen Umstände hatten sich schwer verändert, die moralischen kaum. Die unteren Gesellschaftsetagen darbten hoffnungsschwanger vor sich hin, die Häuptlinge vergewaltigten ihre Ressourcen. Das beschleunigte die Kreativität! Die Unzufriedenen machten sich an die Arbeit um die Zufriedenen mit allem zu versorgen woran sie noch gar nicht gedacht hatten, das sie aber gut brauchen konnten. Die Kultur gedieh und nur eine ganz kurze Weile später kam der Amerikanische Spielfilm, eine Welt zeigend, wie sie doofer kaum sein konnte. Er rutsche schließlich verlacht und ad absurdum geführt in die Bedeutungslosigkeit brutaler Blutorgien ab, die zwar eine gewisse versteckte Seite des überall entstehenden Großstadtdschungels einigermaßen treffend skizzierte, jedoch keine Fluchtmöglichkeiten mehr bot.

Die Welt suchte verzweifelt nach einem Second Life und entdeckte, nach einer morbiden Epoche – über den Umweg des Drei-D-Filmes - das Holo-Deck. Es ersetzte die herkömmlichen Lichtspiel-Theater, da es die Möglichkeit einer individuellen Wählbarkeit der Umgebung, der Teilnehmer, wie auch des Ablaufes gewährte, in den man sich zu stürzen beabsichtigte. Seine Vervollkommnung erlebte das Holo-Deck im Avatar- einer Art Stellvertretung seiner selbst durch sich selbst, in einer anderen Natur. Das brachte schließlich Politik und Wirtschaft so sehr in Gefahr, daß die Feineren Herrschaften ihren Untergebenen mit Erlebnisentzug, das heißt, der Abschaltung aller Vorspiegelungsgeräte drohten, wenn sie fürderhin nichts weiter im Sinn als ihren Pflichten, der Staatsraison zu entfliehen, hätten.

Inzwischen war dem Individuum jedoch seine Flucht aus der Realität fast ebenso wichtig geworden wie seine Verpflegung mit Grundnahrungsmitteln. Und da die unbehinderte persönliche Freiheit praktisch nur durch eine Flucht aus der Realität erreichbar war, einigte sich die Bevölkerung mit ihren Peinigern, über die Gewerkschaft der Filmflüchtenden, auf einen Kompromiss: die Traumwelt gehörte den Arbeitenden, für ganze drei Stunden am Tag. Dafür gaben sie für 12 Stunden ihre Arbeitskraft an die herrschende Klasse ab, die dadurch die Möglichkeit erhielt ihre Opfer ausgiebig zu quälen, untereinander zu verunsichern, Zwietracht zu säen und sie zusätzlich zu verhöhnen. Damit hatten sie ihr Paradies gewonnen. Aus der Realität flüchten durften sie nicht! Das hatten sie ja auch gar nicht nötig.

Wie wertvoll die drei Fluchtstunden für den Otto Normalverbraucher waren, zeigte sich jedoch bald! Nach den nahezu vernichtenden Arbeitstagen, ließen sich die angekratzten Psychen nicht mehr völlig zerstören. Sie tankten Kraft durch Freude, Kraft durch Sinngebung, Kraft durch schier unbegrenzte Kreativität. Nicht wenige programmierten sich Erfinderhirne, Autorenkoryphäen oder Künstlergenies in ihre Fluchtavatare. So erreichten sie unschätzbare Einblicke in das Universum des Denkens, in den Ablauf der Zeiten, ja in die Absichten Gottes!

„Vergeistigung“ nannte sich der neue Trend, an dem sich nur beteiligen konnte wer guten Willens und guten Wollens war. Und schließlich bestimmte das Volk! Gearbeitet wurde nur noch wenn etwas gebraucht wurde, nicht um das Bruttosozialprodukt zu steigern, sondern um die Lebensqualität zu erhöhen. Wer andere absichtlich, oder aus marktwirtschaftlich erlogenen Gründen unterjochte, wurde mit Ausschluss aus dem Club der toten Dichter bestraft. Er fiel der Revolution der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit anheim und wurde mit der Zurückstufung auf den Urmenschen guillotiniert. Auf diese Weise verkam jeder bis zur Bedeutungslosigkeit, der Sklaven ohne deren ausdrückliche Zustimmung hielt! Der allgemeine Entwicklungsprozess kehrte sich also um.

Dann war es geschehen! Die Welt war in Ordnung! Von Sieben bis Sieben und wieder bis Sieben passierte nur noch Gerechtigkeit. Die Menschen umarmten sich nicht mehr, da sie nicht mehr damit fertig wurden sich zu lieben. Die Liebenden liebten sich einfach! Nichts stand ihnen im Weg, keine Enttäuschung begleitete ihr Tun.
Keine Kriege begründeten kein Elend. Keine Angst erfüllte die Herzen. Die Geister wurden leicht. Sie fingen zu schweben an, sie berührten sich nur noch im Flug an den Fingerspitzen und sie hauchten sich ewige Erfüllung ins Ohr. Alle Pein, alle Krankheit, ja beinahe alle Vergänglichkeit gehörte der Vergangenheit an. Das Wesen hatte einen höheren Stand erreicht. Es war vollkommen!

Doch aus der Vollkommenheit heraus raste es ungebremst in eine Welle weiterer genialster Erfindungen hinein, die am Ende auch eine Weiterentwicklung des Kinos brachte. Am meisten umjubelt wurde ein Projekt, das „Neues Universum“ genannt wurde. Durch diese phänomenale Neuerung wurde es möglich „geboren“ zu werden. Im Verlauf einer solchen „Geburt“ ging man seiner kompletten Erinnerung verlustig! Und das Beste daran war: man konnte sich nichts aussuchen! Was wer in dem kommenden Film darstellte gestaltete sich als völlige Überraschung! Unumkehrbar wurde man einfach Großinquisitor, Reisiger, Reisläufer, Pharao, Bauer/Bäuerin Jeanne d`arc, Papst, Putzfrau, Leprakranker, Bettler, Ketzer, Mordopfer, usw. Eine gewisse Rolle spielte vielleicht noch der Grundton der Seele, der tiefsten Ursprünglichkeit eines Individuums, die es das anlaufende Schauspiel eben auf seine ganz spezielle Weise erleben ließ. Als speziellen Gag hatte das Erfinder-Team noch die sogenannte „Irrtumsnotwendigkeitsinduktion“ eingebaut. Sie verhalf Aussprüchen wie „Der Mensch denkt, Gott lenkt“ oder „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt“ zum Leben. Dadurch sollte der Spannungsfaktor durch Intensivierung der Hoffnungsbereitschaft erhöht werden…

So kam es, daß eines schönen Tages Ugu stolz Lala seine magische Höhlenmalerei präsentierte – eine bildhafte Geschichte,
die ein Ereignis darstellte, das gewesen war oder auch immer wieder eintreten sollte: den Jagderfolg! Und wieder schlief Gott im Stein, atmete in der Pflanze, träumte im Tier und erwachte im Menschen!


© Sur_real


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