In einer Zeit, in es einen Unterschied macht, ob man sich etwas wünscht oder nicht, lebte einmal eine Familie, die Eltern mit Ihrem Kind. Das Kind, ein Mädchen, war ihr einziges Kind und die Eltern liebten es sehr. Sie lasen ihm jeden Wunsch von den Augen ab und waren immer für es da, wenn es jemanden zum Reden brauchte. Nicht weit weg vom Haus der Eltern, auf einem Berg, lebte ein fürchterlicher Drache, aus dessen Maul Flammen kamen und der mit seinen guten Augen auch in großer Entfernung alles sehen konnte. Er beobachtete eines Tages das Kind, wie es zum Brunnen am Weg zum Berg ging, um als Zeitvertreib Steine hineinzuwerfen. Der Drache flog den Berg hinunter und landete in der Nähe des Kindes, das am steinernen Brunnen stand. Das Kind erschrak und wollte wegrennen, doch der Drache, der zwanzigfach so groß und zehnfach so lang war wie das Mädchen, versperrte ihm den Weg. Das Mädchen schrie, doch der Drache packte es und warf es voller Bosheit in den Brunnen. Dabei sagte er: „Du kennst keine Einsamkeit und keine Not, ich bin immer alleine gewesen, niemand will mit mir etwas zu tun haben. Jetzt wirst du merken, wie sich Einsamkeit und Not anfühlen. Du wirst für immer im steinernen Brunnen bleiben. Niemand wird deine Schreie hören. Du wirst dort unten bleiben, bis du alt und grau bist und du vergessen hast, wer du einst warst.“ Da fing der Drache an gehässig zu lachen, breitete seine langen Flügel aus und erhob sich in die Luft.



Das Kind im steinernen Brunnen war verzweifelt, doch der Drache behielt Recht, niemand konnte seine Rufe hören. Seine Eltern suchten nach ihm, doch irgendwann, nach Jahren, gaben sie die Suche auf und trauerten um ihr Kind, das sie für tot hielten. Irgendwann starben die Eltern, doch das Kind, das längst kein Kind mehr war, lebte noch immer allein im Brunnen. Das Mädchen war erwachsen geworden.Und der Drache behielt recht: schon als junge Frau wusste sie nicht mehr, wer sie einst war. Die Frau ernährte sich von dem Wasser des Brunnens und von Pflanzen und Beeren, die unten im Brunnen wuchsen. Sie lebte einsam vor sich hin unten im Brunnen und hatte niemanden, mit dem sie sprechen konnte. Als sie eine alte Frau war und sich ihr Leben dem Ende zuneigte, flog ein kleiner blauer Schmetterling in den Brunnen hinein, bis nach unten zu der einsamen, alten Frau. Der Schmetterling berührte mit seinen blauen, schimmernden Flügeln ihr Haar und ihre Haut und spendete der alten Frau Trost. Der Schmetterling sagte ihr: „All das Leid, das du erfahren hast, ist nicht das Ende. Es wird einen neuen Anfang geben.“ Als der Schmetterling das gesprochen hatte, gab es einen fürchterlichen Krach und ein Beben, denn das Gebirge, in dem der Drache herrschte, stürzte ein und begrub den Drachen tot unter sich. In der darauf folgenden Nacht fand sich die alte Frau wieder als Kind im Haus ihrer Eltern, die sie am Morgen begrüßten und sie fragten, wie das Spiel am Brunnen gewesen sei. Es war, als ob nichts gewesen wäre und das Rad der Zeit zurückgedreht worden wäre. Das Kind vergaß langsam die schrecklichen Geschehnisse und lebte fortan ein glückliches und zufriedenes Leben. Der Drache war verschwunden. Forscher fanden viele Jahre später seine Knochen in einer Höhle.


© Simone Seebeck


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Märchen

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