Unerwarteter Besuch

Ich wusste es am Morgen schon.
Als ich die Haustür öffnete, legte sich ein nasskalter Oktober-Sprühregen über mein Gesicht. Zum Mülleimer waren es nur ein paar Schritte. Ich hob den Deckel und als ich die Abfalltüte in die Tonne werfen wollte, riss das feuchte Papier und die ganze Scheiße klatschte mir auf die Füße. Kaffeefilter, Salatreste, voll gerotzte Papiertaschentücher. Gut, dass ich keine Socken anhatte.
Ich las den Inhalt der Tüte vom Boden auf und wusste, dass das heute nicht mein Tag werden würde.
Endgültig sicher war ich mir, als gegen neun die Post kam.
Durch mein Küchenfenster sah ich gerade noch, wie die verteufelt gut aussehende Briefträgerin in ihr kleines, gelbes Auto stieg und davon fuhr.
Mein Haus befindet sich außerhalb der Stadt, und in meiner Straße gibt’s nur sieben Häuser und die stehen auch noch weit auseinander. Zwischen den Häusern klaffen große Lücken – wie bei dem Gebiss eines alten Mannes.
Meine schöne Postbotin mit der knabenhaften Oberweite und dem leckeren Hintern hatte mir nur einen Umschlag in den Briefkasten geworfen. Doch der Inhalt des Briefes bestätigte meine Tritt-diesen-Tag-in-die-Tonne-Theorie: es war eine weitere Absage auf mein gefühltes elftausendstes Bewerbungsschreiben.

Am Mittag machte ich einen Spaziergang zum Kiosk, das sich am Ende meiner Straße, beim Sportplatz befindet. Dort spülte ich mit drei Fläschchen Bier und zwei Korn einen winzigen Teil meiner schlechten Laune weg. Danach schlenderte ich durch den stärker werdenden Regen zurück nach Hause. Weil Alkohol bei mir den Appetit weckt, widmete ich mich sogleich dem Öffnen einer Dose Ravioli. Nach dem Hinunterschlingen der mikrowellenerwärmten, mit irgendwas gefüllten, in einer roten Pampe schwimmenden Pappkissen, folgte der übliche Verdauungsschlaf. Zuvor brauchte ich aber einen kleinen Katalysator, damit der Mittagsschlaf schnell die notwendige Tiefe bekam. Also nahm ich den Doppelkorn aus dem Kühlschrank und schenke mir ein Glas ein.
Als ich die Augen aufschlug und nach der Uhr schielte, war es Punkt acht.
Verdammt! Da hatte ich den Nachmittag total verpennt. Na, ja, in der letzten Nacht hatte ich kaum ein Auge zugemacht. Vollmond. Ich hasse den Typ.
Hab ich eben mein Schlafkonto auf Vordermann gebracht. Egal, hatte ja eh nix besseres vor.
Zeit für die Tagesschau.
Während ich mich aufs Sofa fläzte und die Füße auf den Tisch legte, drückte ich die Eins auf der Fernbedienung. Ich hörte Frau Daubner so etwas sagen wie:“...merkwürdige Erscheinungen wurden aus weiten Teilen der Republik berichtet...“und sah gerade noch, wie das Bild zu einem gleißenden Punkt in der Bildschirmmitte schmolz. Ende und Aus. Der Kasten blieb schwarz und stumm. Mir entfuhr wieder das Wort, das sich auf Speise reimt. Doch alles Fluchen half nichts – der Fernseher war kaputt. Ich seufzte, trabte zum Kühlschrank und nahm den Doppelkorn aus seinem frostigen Lager. Der eisige Schnaps wärmte meine Seele und streichelte meine Nerven. Ich überlegte, wie alt der Fernseher war, während ich am Küchentisch Platz nahm und mir noch ein Glas füllte. Es müssen etwa zehn, zwölf Jahre sein. Da konnte ich wohl von Glück reden, dass er überhaupt so lange durchgehalten hat.

Während ich ein weiteres Glas füllte, fuhr mir ein kalter Schauer den Rücken runter. Ich ging zum Heizkörper und drehte das Thermostatventil zwei Stufen höher. Dabei fiel mein Blick durch das Küchenfenster. Ein heftiger Wind peitschte den stärker gewordenen Regen gegen die Scheibe. Draußen war es bereits so dunkel wie im Arsch eines Maulwurfs. Aber war da nicht jemand auf dem Bürgersteig? Ich rückte meine Brille zurecht und starrte in die Dunkelheit. Mir war, als sähe ich in der Schwärze die Umrisse einer noch dunkleren. Das wollte ich genauer wissen und ging zu Haustür. Ich streckte meinen Kopf raus und bekam für diesen Tag die zweite Dusche von oben. Sofort hefteten sich Regentropfen an meine Brillengläser. Ich wischte sie mit meinem Taschentuch ab, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Der Wind rüttelte in den Bäumen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und wirbelte braun-gelbes Laub in meinen Flur.

Gerade hatte ich die Haustür geschlossen, da machte ich mir vor Schreck fast in die Hose. Mit einem Mal lag meine komplette Wohnung im Dunkeln. Im Wohnzimmer, in der Küche und im Flur hatte ich Licht brennen. Das wusste ich ganz genau, und nun waren alle Lampen aus. Von da, wo ich stand, waren es nur zwei Schritte zum Sicherungskasten. Links von mir war er zwischen Haustür und Gäste-WC in die Wand gelassen. Ich machte einen großen Schritt nach links und streckte beide Arme vor. Doch da war nichts, kein Sicherungskasten – nicht mal eine Wand.
Vorsichtig machte ich noch einen Schritt. Als mein Fuß den Boden berührte, hörte ich einen Hall, als ginge ich in einem Tunnel, oder in einer leeren, großen Halle. Ich konnte immer noch keine Wand ertasten. Mein Herz begann im Hals herum zu klopfen, als suchte es verzweifelt einen Ausgang.
Und obwohl ich fror, standen Schweißperlen auf meiner Stirn. Meine Knie wurden weich und mein ganzer Körper fing an zu zittern. Ob vor Kälte oder Angst, ich wusste es nicht. Was sollte ich tun. Das war doch alles verrückt. Eben noch war alles in Ordnung. Wenn man mal von dem kaputten Fernseher, den eingemüllten Füßen und der hunderttausendsten Absage eines möglichen Arbeitgebers absah. Doch das hier war so schräg, dass meine Gedanken ein Chaos in meiner Birne anrichteten, wie es zwei Liter Doppelkorn niemals hätten tun können.
Verzweifelt kniff ich die Augen zusammen um vielleicht irgendetwas in der Schwärze auszumachen, das mir bekannt vorkam. Doch wie ich mich auch anstrengte, es blieb so dunkel wie in einer vergrabenen Konservendose.
Wird wohl so was wie ein Riss im Raum-Zeit-Gefüge sein, dachte ich. Den Begriff hatte ich mal in einem Film gehört. Was Besseres fiel mir nicht ein. Ich überlegte, wenn sich im Haus alles verändert hat, wie sieht es dann auf der Straße aus? Möglicherweise ist dort alles normal. Ich hoffte es so sehr.
Ich drehte mich zur Haustür um und ging ein paar Schritte in die Richtung, in der sie sein musste. Als ich die Hand nach der Klinke ausstreckte, berührte ich etwas, das da nicht hingehörte. Im gleichen Moment schien es, als hätte jemand eine 25-Watt-Funzel eingeschaltet. Denn ich sah nun, wenn auch seltsam undeutlich, was da nicht hingehörte. Und das Etwas begann zu sprechen.
„Hast du Angst, Norbert?“

Zurückblickend möchte ich behaupten, dass es sicherlich nur wenige Menschen gibt, die nicht umgefallen sind, als ihr Herz dreißig Sekunden lang still gestanden hat. Ich wankte zwar, aber ich fiel nicht. Meine Lippen bewegten sich, um zu antworten, aber wenn ich mich recht erinnere, kam kein Ton aus meinem Mund.

„Halt die Klappe, Norbert! Das war nur eine rhetorische Frage. Ich habe mich der Mühe unterzogen, dich in deiner erbärmlichen Behausung zu besuchen, weil ich dir einen Deal vorzuschlagen habe.“

Der Kerl war nicht nur unverschämt, er stank auch dermaßen, dass mir speiübel wurde und meine Zunge von ein paar der noch unverdauten Ravioli besucht wurde. Ich schluckte und stand wie angewurzelt.

„Komm! Setzen wir uns“, sagte mein ungebetener Gast und im nächsten Augenblick saß ich auf meinem Sofa im Wohnzimmer.
Das Licht war immer noch funzelig, doch ich sah, dass er auf meinem Sessel Platz genommen hatte. Es ging immer noch ein bestialischer Gestank von ihm aus, sodass meine Übelkeit nicht nachließ.

Er sah eigentlich nicht so aus, wie ich mir den Teufel vorgestellt hatte. Er besaß keine Hörner und einen Schwanz konnte ich auch nicht ausmachen. Seine Gesichtsfarbe war auch nicht rot, sondern schien mir normal. Was mir jetzt erst, beim Nachdenken über die groteske Situation auffällt ist, dass er eher wie ein bekannter, alternder Rockstar aussah. Ja, er trug eine Sonnenbrille. So eine Nickelbrille mit kleinen runden Gläsern. Verrückt, es war um uns herum so dunkel, dass man kein Muster auf der Tapete ausmachen konnte, und dieser Irre trug eine Sonnenbrille. Und er hatte langes, schwarzes in der Mitte gescheiteltes Haar. Seine Stimme aber war laut, tief und hart. Seine Worte knallten regelrecht gegen meine Trommelfelle, sodass es fast schmerzte. Er hatte ein Bein über das andere geschlagen und zupfte ständig mit einer Hand an den Falten seiner Hose herum. Die andere lag über der Sessellehne. Wenn er nicht zupfte, drehte er mit Daumen und Zeigefinger an einem protzigen, funkelnden Ring herum.
Irgendwie passte dieses Gefummel nicht zu der bedrohlich wirkenden Stimme. Trotzdem hatte ich eine Angst, wie noch nie in meinem Leben.

„Du brauchst dringend einen Job. Du weißt nicht, von was du die nächste Hypothekenrate bezahlen sollst. Heute kam schon wieder ne Absage. Bis auf ein paar grüne Scheiben Wurst und eine halb getrunkene Flasche Doppelkorn ist dein Kühlschrank so leer wie mein Herz.“

Während dieser Worte hatte er sich nach vorne gebeugt und mich eindringlich angeschaut.
Merkwürdig – ich konnte doch seine Augen gar nicht sehen und trotzdem weiß ich, dass er mich mit rot unterlaufenen eindringlichen Augen angesehen hat.

Er lehnte sich wieder zurück und strich mit beiden Händen sein Jackett glatt. „Du siehst, ich weiß Bescheid. Du bist am Ende. Du bist fertig. Du könntest dich genauso gut weghängen. Es gibt keinen, der um dich trauern würde. Stimmts?“

Als ich protestieren wollte, hob er eine Hand und legte seine Stirn ärgerlich in Falten. „Nun der Deal. Ich gebe dir einen Job, der dir locker zwischen zwei- und dreitausend netto pro Monat einbringt. Obendrein gebe ich dir die gelbe Lady, wegen der du dir jeden Tag einen runter holst. Als Bonus, sozusagen. Mehr Geld, als du je verdient hast und die Frau deiner Träume. Was sagst du dazu? Nein! Nein! Schnauze! War nur rhetorisch. Natürlich willst du jetzt wissen, was du dafür tun sollst.“

Er machte eine Pause und stand auf. Ich wusste nicht, ob ich etwas sagen sollte. Das heißt, eigentlich wusste ich auch nicht, was ich hätte sagen sollen, falls er mich was sagen ließe. Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich beobachtete ihn bewegungslos wie ein Karnickel die Schlange. Die schwarze Gestalt stapfte unentwegt hin und her, sodass seine langen Haare auf und ab wippten und ich mir Sorgen um meinen Teppich und den darunter liegenden Estrich machte.
Je länger sein stummes Gerenne dauerte, desto mehr wich meine Angst einer ständig wachsenden Neugier. Ich wollte jetzt sofort wissen, was das für ein Job war, wie ich daran kommen konnte und wie ich die Briefträgerin rum kriegen konnte.
„Nun sag endlich, was ich tun muss!“, hörte ich mich brüllen.

Abrupt blieb der Fremde stehen und drehte mir sein Gesicht zu. Da war keine Sonnenbrille mehr, sondern glutrote, leuchtende Augen schweißten höllisch brennende Löcher in meine Seele. Die Haut seiner Wangen und seiner Stirn war durchsichtig, sodass ich alle Blutgefäße erkennen konnte. Sie wanden sich wie Würmer in einem Glas. Was zur Folge hatte, dass mein Magen Mühe drauf und dran war, seinen angestammten Platz zu verlassen. Diese Fratze bedeutete Tod und Verderben. Die Gestalt schwebte in der Mitte zwischen Boden und Decke meines Wohnzimmers und eine Wolke grauen Nebels umwaberte ihn. Beide Arme vorgestreckt, kam er auf mich zu. Ich war sicher, das ist das Ende.
Ich geriet in Panik und sprang auf.
Dabei stieß ich die Schnapsflasche vom Küchentisch.
Sie fiel klirrend auf die Bodenfliesen und zersprang in tausend Splitter.


© Rolf Ronck


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Beschreibung des Autors zu "Unerwarteter Besuch"

An einem miesen, verregneten Herbsttag bekommt ein alleinstehender, arbeitsloser Mann unerwartet Besuch der besonderen Art. Der Besucher macht ihm ein verlockendes Jobangebot...

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