Varia Antares

Aeternus der Zauberer


Mimdorf, ein kleines Dorf, mitten im Dunkelwald. Sorl hackte gerade Holz, als sein Blick auf seine jugendliche Tochter fiel. Fluchend ließ er die Axt fallen und eilte auf sie zu.
  »Sprich nicht mit der Katze, Lucy! Du stürzt uns noch alle ins Unglück!«
  Lucy aber nahm die schwarze Katze schützend in die Arme. »Stallis bringt niemandem Unglück, Papa.«
  »Ich verbiete dir, mit ihr zu sprechen. Das ganze Dorf hält dich ohnehin schon für eine Hexe, weil du das einzige Kind mit roten Haaren bist. Und jetzt noch die schwarze Katze! Wenn du nur halb so viel mit anderen Jugendlichen sprechen würdest wie mit diesem Teufelsvieh! Ich will nicht, dass über meine Tochter solche Gerüchte verbreitet werden, also jag die Katze fort, sonst schlage ich ihr den Kopf ab!«
  Lucy gehorchte. Sie ging voraus in die Tiefen des Waldes, und das Tier folgte ihr. Sie sah ihre einzige Freundin an und weinte. »Mein Vater meint es ernst, fürchte ich. Wir können uns ab jetzt nie mehr sehen, Stallis. Es tut mir leid!«
  »Weine nicht, meine Freundin. Ich danke dir dafür, dass du mich aufgenommen und dich um mich gekümmert hast, seitdem ich ein kleines Kätzchen war. Auch wenn wir ab heute getrennte Wege gehen müssen, werde ich dich niemals vergessen.« Die Katze rieb vertraut ihren Kopf an Lucys Hand.
  »Ich werde dich auch nie vergessen, Stallis.«
  »Ach, Lucy«, fügte Stallis im Weggehen hinzu, »Solltest du jemals in Schwierigkeiten geraten und meine Hilfe brauchen, dann flüstere meinen Namen. Ich werde da sein, versprochen. Und nun lebe wohl.«

Lucy war sehr schweigsam an den folgenden Tagen. Sie verließ kaum noch ihr Zimmer und weinte heimlich. Das Verschwinden der Katze hatte nichts daran geändert, dass die anderen Dorfbewohner das rothaarige Mädchen mieden.
  Lucys Vater bat sie, auf dem Markt frisches Gemüse zu kaufen. Auf dem Weg dahin begegneten ihr ein paar Jungen, die sie mit Tannenzapfen bewarfen und beschimpften.
   »Hexe!«, rief einer von ihnen.
Die anderen Jungen packten sie und hielten sie fest. Sie konnte sich nicht wehren, denn die Jungen waren stärker und größer als sie selbst. Sie durchsuchten ihre Taschen und nahmen ihr das Geld ab, das Sorl ihr gegeben hatte. Ein Junge zückte sein Messer und schnitt der entsetzten Lucy die langen, roten Haare ab.
  »Jetzt siehst du wieder aus wie ein normaler Mensch – obwohl, diese Glatze ist ziemlich hässlich!« Der Junge stieß Lucy auf den Boden. »So, was machen wir als Nächstes mit ihr?«, fragte er seine Kumpanen.
  »Hört sofort damit auf, verdammtes Dreckspack! Lasst das Mädchen in Ruhe!«, rief plötzlich jemand. Ein fremdartig gekleideter Mann stand vor ihnen. Er hielt etwas in der Hand, das nach einem Zauberstab aussah, und schaute so finster, dass die Jungen panisch davonliefen. Sein Gesicht war kaum zu erkennen, da er eine samtene Kapuze trug. Lucy wollte sich bedanken, brachte aber vor Schreck kein einziges Wort heraus.
 Der Aufruhr hatte rasch die anderen Dorfbewohner herbeigelockt. Auch Sorl trat zu ihnen. »Wer bist du?«, fragte er den Fremden. Er gab sich nicht einmal Mühe, das Misstrauen in seiner Stimme zu verbergen.
  »Guten Tag, mein Name ist Aeternus. Ich bin auf der Durchreise.«
  »Pfui! Dein Name klingt nach Hexenvolk! Deinesgleichen ist in unserem Dorf nicht willkommen! Mach, dass du fortkommst!«, rief der Holzfäller zornig.
  »Papa, der Mann hat mich gerade gerettet, als die anderen Jugendlichen …« Lucy deutete auf ihren kahl geschorenen Kopf, den nur noch ein paar Schnittwunden zierten.
  Bevor ihr Vater eine Antwort geben konnte, hatte der Magier schon seine Hände auf Lucys Kopf gelegt. Er zauberte. Er ließ die Wunden heilen und Lucys Haare nachwachsen. Das Mädchen sah nun wieder wunderschön aus, als wäre es nie anders gewesen. Aeternus schlug seine Kapuze zurück und lächelte, doch Lucy wandte verlegen den Blick ab.
  »Na schön«, brummte Sorl, »Du kannst eine Weile im Dorf rasten und deine Vorräte aufstocken. Aber du musst dein Lager draußen aufschlagen, jenseits dieses Zaunes. In unsere Gasthäuser kommt kein Hexenvolk.«
  »So, und was ist mit ihr? Sie ist doch auch eine Hexe«, sagte Aeternus mit Blick auf Lucy.
  »Meine Tochter ist keine Hexe! Wage es nie wieder, sie so zu nennen, und wehe, du kommst ihr zu nahe!« Sorl packte seine Tochter und beeilte sich, sie nach Hause zu bringen.
  »Hast du gesehen? Er hat die gleiche seltsame Haarfarbe wie ich, und er kann zaubern! Was bedeutet das? Glaubst du … Glaubst du, dass ich vielleicht ...?«
  »Dass du vielleicht doch eine Hexe bist, obwohl ich dich seit Jahren vom Gegenteil zu überzeugen versuche? Nein, Lucy. Das bist du nicht. Du bist wie alle anderen und kannst auch ganz bestimmt nicht zaubern.«
  »Wieso hast du mir eigentlich nie von meiner Mutter erzählt? Wenn ich, wie du sagst, ganz normal bin, woher habe ich dann diese Haarfarbe?«
  »Ruhe! Sprich nicht über dieses Thema. Ich möchte, dass du ab jetzt ein Kopftuch trägst, damit niemand deine Haare sehen kann. Außerdem wirst du, solange dieser Hexer hier ist, auf gar keinen Fall das Haus verlassen, haben wir uns verstanden?«
  Lucy nickte und senkte den Kopf. Die Enttäuschung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Ihr Vater sprach nie offen mit ihr. Er hatte so viele Geheimnisse, aber für nichts auf der Welt würde er sich bereit erklären, sie mit Lucy zu teilen. Sie fühlte, dass sie aus irgendeinem Grund überhaupt nicht nach Mimdorf gehörte. Sie war anders, auch wenn Sorl das leugnete. Sie würde die Wahrheit schon noch herausfinden. Und wenn ihr Vater ihr keine Antworten geben wollte, würde sie sich diese woanders suchen.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Sorl schlief, schlich Lucy eilig nach draußen. Sie schloss die Tür ihrer Holzhütte sacht und ging zu dem Lagerfeuer, über dem Aeternus sich die Hände wärmte.
  »Hallo Lucy«, begrüßte der Magier sie, »Ich habe mir schon gedacht, dass du kommen würdest.«
  Lucy setzte sich neben ihn. »Ich habe dir eine Decke mitgebracht; es wird nachts manchmal sehr kalt in unserer Gegend. Und etwas zum Essen«, sagte Lucy unsicher. Sie kam sich so dumm vor. Ihr Vater würde toben, wenn er wüsste, wo sie gerade war. Und Aeternus? Was würde der wohl von einem jungen Mädchen halten, das nicht einmal wusste, ob es ein Mensch oder eine Hexe war?
 Aeternus schien ihre Gedanken erraten zu haben. Er lächelte wieder auf seine ganz eigene rätselhafte Weise. »Ich weiß, warum du zu mir gekommen bist«, sagte er, »Du suchst nach Antworten. Und wie der Zufall es so will, kann ich dir genau diese geben. Aber vielleicht verrätst du mir zuerst auch etwas: Wieso verschließt dein Vater die Augen vor einer so offensichtlichen Wahrheit? Hat er dich jemals von einem Hexenmeister unterrichten lassen?« Er hielt inne, als er Lucys betrübtes Gesicht bemerkte. »Warte mal, hast du überhaupt gewusst, dass du eine von uns bist? Eine Hexe, meine ich.«
  »Gewusst würde ich nicht sagen, ich habe es vermutet, manchmal sogar gehofft, obwohl mir der Gedanke Angst macht. Das ganze Dorf hasst mich, weil ich anders bin. Du scheinst allerdings keine Probleme mit deiner Identität zu haben. Wie lange weißt du schon, dass du ein Zauberer bist?«
  Aeternus lachte. »Da, wo ich herkomme, sind alle Menschen wie ich. Wir sind von klein auf ans Zaubern gewöhnt. Ich muss zugeben, dass ich ziemlich überrascht war, als ich zum ersten Mal im Leben normale Menschen getroffen habe. Die meisten von ihnen sind ein unverschämter und zudem ungebildeter Haufen – die Jungs, die dich angegriffen haben, beweisen es. Wer braucht schon normale Menschen? Die machen nichts als Ärger.«
  »Mein Vater ist ein normaler Mensch. Er ist ganz in Ordnung«, entgegnete Lucy.
  »Tatsächlich?« Man sah, dass Aeternus ihr nicht glaubte.  
»Wie lange wirst du hier in Mimdorf bleiben, Aeternus?«  
  »Ich weiß es noch nicht. Das hängt davon ab, wie einige Dinge sich entwickeln. Möchtest du gern den Grund meiner Reise erfahren?«
  Lucy nickte. 
  »Ich bin deinetwegen hier. Man sagte mir, dass es in diesem Kaff eine junge Magierin gibt, die sich zwischen den ganzen Dummköpfen ziemlich verloren und fehl am Platze fühlt. Also bin ich gekommen, um dich hier rauszuholen. Wir können fortan gemeinsam reisen, und ich bringe dir alles bei, was du übers Zaubern wissen musst.«
  Für einen Augenblick war Lucy sprachlos. Dann antwortete sie: »Das ist ein fantastisches Angebot. Ich würde es zu gerne annehmen. Aber es geht leider nicht. Mein Vater würde es nie erlauben. Außerdem kann ich ihn nicht alleine lassen. Wer soll sich denn um ihn kümmern, wenn er mal alt ist und keine Bäume mehr fällen kann?«
 »Lucy, das ist doch nicht dein Ernst? Er ist doch nur ein Mensch! Er kann nicht zaubern und anscheinend hat er dir auch noch dein ganzes Leben lang verschwiegen, wer du bist und was du kannst. Wenn du dich hier so wohl fühlst, warum weinst du dann jeden Tag? Du gehörst nicht hierher, und das weißt du.« Er sah Lucy eindringlich an. »Möchtest du für den Rest deines Lebens eine Außenseiterin sein und dich für dich selbst schämen? Dein Vater verlangt, dass du deine Haare versteckst, weil sie verraten, dass magisches Blut durch deine Adern fließt. Na und? Du siehst wunderschön aus, und du kannst stolz auf das sein, was du bist! Also versteck dich nicht länger! Komm mit mir, und du kannst endlich die werden, die du schon immer sein wolltest.«
 »Ich muss nach Hause, Aeternus. Es ist schon spät, und ich will nicht, dass mein Vater merkt, dass ich weg war. Es … war wirklich schön, mit dir zu plaudern. Ich habe noch nie so vertraut und offen mit jemandem reden können. Die anderen Menschen sind einfach zu …«
 »Dumm? Ignorant? Voreingenommen?«, ergänzte Aeternus das, was sie selbst nicht aussprechen wollte.
 »Wie auch immer – ich danke dir für das Gespräch und wünsche dir alles Gute für deine weitere Reise. Tschüss.«

Sie betrat ganz leise die Hütte, in der noch immer kein Licht brannte. Gut, Sorl war also noch nicht aufgewacht. Kaum war Lucy über die Schwelle getreten, ereilte sie jedoch ein Schlag in den Nacken. Der Schlag kam so unerwartet, dass sie strauchelte und vornüber kippte.
 »Du bist trotz meines Verbotes bei dem Magier gewesen! Und du hast nicht einmal dein Kopftuch getragen!«, wetterte Sorl wutentbrannt.
 »Papa, wir haben nur …«
 »Ich will gar nicht wissen, was du mit ihm getrieben hast! Du hast Schande über unsere Familie gebracht – nicht nur über dich, sondern auch über mich! Was soll ich den anderen Leuten erzählen? Wie soll ich dich jetzt noch in Schutz nehmen?« Er schlug wieder zu.
 »Papa …«
 »Ich habe dem Fischer gesagt, er soll unseren ungebetenen Gast zum Teufel schicken. Der braucht sich hier nie wieder blicken zu lassen. Er kann froh sein, dass wir ihn nicht auf dem Scheiterhaufen verbrennen.«
 »Er hat nichts gemacht, Papa! Es gibt keinen Grund, ihm wehzutun!«
 »Nein, aber ich werde dir jetzt wehtun, damit du ein für alle Mal lernst, dass man seinem Vater gehorchen muss!« Trotz des angsterfüllten Gesichtsausdrucks seiner Tochter schlug Sorl wieder und wieder zu, so fest, wie er nur konnte. Selbst, als Lucy schon am Boden lag, hieb er noch auf sie ein. Lucy schaute in seine Augen. Nein, da war keine Vaterliebe zu erkennen. Sorls Blick war kalt und so distanziert, als gehe ihn das, was er gerade tat, nicht das Geringste an. Aeternus hatte recht gehabt. Und sie hatte es all die Jahre nicht gemerkt. Sie stand plötzlich auf und warf dem alten Mann einen trotzigen Blick zu. »Du hast mir all die Jahre verschwiegen, was ich bin, Papa: eine Hexe! Und ich hasse dich dafür!« Um ihre Worte zu unterstreichen, setzte Lucy instinktiv einen Zauberspruch ein. Es ging wie von selbst, so, als hätte sie es schon immer in sich getragen, das Wissen um die Magie.
 »Weiche zurück! Du bist nicht mehr mein Kind, du Ungeheuer! Der Magier hat dich verdorben!«, rief Sorl entsetzt und sprang zurück, um nicht von der sich ausbreitenden Magiewelle getroffen zu werden.
 Die Tür knallte laut, als er sie zuschlug. Anschließend verriegelte er sie sorgfältig.
 Lucy zitterte. Sie schnappte ein paar Mal nach Luft und sah sich im Zimmer um. Endlich. Endlich hatte ihr Vater die Wahrheit einsehen müssen, die er so lange verdrängt hatte – auch wenn sie ihm nicht gefiel. Es war immer besser, die Wahrheit zu sagen. Er selbst hatte ihr das beigebracht. Lucy fasste einen in der Ecke stehenden Besen. Sie hörte die Schritte mehrerer Leute. Da kamen sie. Sie würden sie nun wohl auf dem Scheiterhaufen verbrennen, nun, wo niemand mehr ihr magisches Blut verleugnen konnte. Ihr Vater konnte sie nun wirklich nicht mehr beschützen.
 »Haben wir dich, du Hexe!«, rief der Fischer, an dessen Jacke frisches Blut klebte. Hatte er etwa mit Aeternus gekämpft?
 »Das sehe ich anders!«, erwiderte Lucy tollkühn. Sie hoffte inständig, dass das, was sie über fliegende Hexen gelesen hatte, stimmte, und schwang sich wagemutig mit dem Besen aus dem offenen Fenster.
 Aeternus war nicht mehr dort. Die Stelle, an der er gerastet hatte, war so leer wie Lucys Herz in diesem Augenblick. Aber vermutlich war das ein gutes Zeichen. Seine Leiche lag nicht hier, also musste er noch leben. Lucy sah ein paar Blutflecken auf dem nassen Sand. Da ihr Besen bei der Landung zerbrochen war, floh sie nun zu Fuß weiter, tief hinein in den Dunkelwald, in die Richtung, in der sie hoffentlich Aeternus finden würde. Vielleicht war es noch nicht zu spät, sein Angebot anzunehmen.

Es roch nach Verwesung. Bildete sie sich das nur ein, oder hatte hier wirklich jemand einen schmalen Pfad in dem matschigen Waldboden angelegt? Mitten durch die Bäume führte er, genau in die Richtung, aus der der Gestank kam. Lucy hielt sich die Nase zu, während sie weiterging.
 Sie fand ein großes, steinernes Gebäude, das eher einer Ruine glich. Ein paar Kreuze steckten im Erdboden neben dem Eingang, und ein Totenschädel lag daneben wie eine Warnung für alle, die so dumm waren, sich hierher zu trauen. Wo war sie nur gelandet? Vielleicht wäre es besser, schnell wieder umzukehren …
 »Was sucht ein lebendiges Wesen in unserem Tempel der Toten? Bist du das Opfer, das man uns versprochen hat?«, fragte jemand und zog sie in den finsteren Tempel hinein.
 »Huch! Du bist ja ein Skelett! Ein wandelnder Toter!«
 Dieser schaute sie an, sein Gesicht eine Maske aus Bosheit. »Wie schön! Endlich haben wir eine Zauberin, deren Blut uns zu noch größerer Macht verhelfen wird. Leg dich auf den Altar, damit die dunklen Priesterinnen dich töten können. Mach schon!«
 Leise erklang die Melodie eines Totenliedes. Es war das schönste Requiem, das Lucy jemals zu Ohren gekommen war. Wie konnten so abscheuliche Kreaturen so bezaubernd singen? Für ein paar Herzschläge schwelgte Lucy in der betörenden Schönheit dieser unwirklichen Klangwelt – bis sie verstand, was sie da sangen: »Lucy heißt sie. Sie kommt von fern als magisches Opfer. Wir nehmen sie gern …«
 »Nehmt es mir nicht übel, aber ihr müsst mich verwechseln. Ich habe niemandem versprochen, dass ich mich opfere! Ich muss gehen.«
 Das Skelett, das immer noch ihre Arme festhielt, umschloss sie nur noch fester. Ein scharfer Schmerz fuhr durch Lucys Gliedmaßen. Was war das? Sie versuchte, zu zaubern, sich mit Magie zu retten. Es gelang ihr jedoch nicht. Es war, als hätte das Skelett alle Zauberkraft aus ihr herausgesaugt. Der Untote schubste sie in Richtung des Altares, auf dem schwarze Kerzen unruhig flackerten wie lebendige Wesen, die nur darauf warteten, das hilflose Mädchen zu verschlingen.
 Lucy überlegte kurz, ob es sich lohnen würde, zu kämpfen, entschied sich dann aber dagegen. Die Untoten waren zu zahlreich. Und ohne Magie hätte sie nicht den Hauch einer Chance gegen diese Furcht einflößenden Geschöpfe.
 »Können wir uns nicht anders einigen? Ich könnte euch Zaubersprüche beibringen, oder ich gebe euch die Kette, die mein Vater mir geschenkt hat! Die ist aus echtem Silber! Bitte rührt mich nicht an!«, flehte die Todgeweihte mit bebender Stimme.
 »Nichts von alledem interessiert uns«, antwortete das Skelett, »Du wirst uns mit deinem Blut bezahlen.«
 »Bezahlen?«, fragte Lucy irritiert, »Wofür denn? Ich habe nichts von euch bekommen; wofür soll ich also bezahlen?«
 »Die Gegenleistung bekommt ein anderer. Er hat sich gewünscht, dass wir ihn unsterblich machen, und uns im Gegenzug dein Leben versprochen.«
 Das konnte nicht sein. Niemand, den Lucy kannte, würde mit Skeletten, die in einer stinkenden Ruine hausten, verhandeln. Oder etwa doch? Lucy dachte an all die Menschen, die sie ihr Leben lang verspottet hatten, an Aeternus den Zauberer und an die einzige Freundin, die sie jemals gehabt hatte. Stallis. Solltest du jemals in Schwierigkeiten geraten und meine Hilfe brauchen, dann flüstere meinen Namen. Ich werde da sein, versprochen. Das hatte die Katze zu ihr gesagt, bevor ihre Wege sich getrennt hatten.
 »Stallis«, flüsterte Lucy, »Falls du das hier hörst, dann geh bitte los und hole meinen Vater zu Hilfe. Und bitte beeil dich!«
 Würde es funktionieren? War sie in der Lage, telepathisch mit ihrer vierbeinigen Freundin zu kommunizieren? Und wenn die Katze sie gehört hatte – würde sie es rechtzeitig schaffen, Sorl herzubringen? Würde er ihr folgen, um seine Tochter zu retten, obwohl sie es gewagt hatte, ihm zu widersprechen, und vor ihm und den anderen Dorfbewohnern davongelaufen war?
 Das Totenlied verstummte. Die Skelettpriesterinnen hatten jede ein Zeremonienmesser in der Hand, und eine von ihnen trug einen kristallenen Krug, der kunstvoll mit Mustern aus strahlendem Silber verziert war. Immerhin würde Lucys Blut nach ihrem Tod nicht in einem schäbigen Blecheimer landen – ein schwacher Trost.
 »Es ist so weit«, sangen die Untoten unisono, »Abgelaufen ist ihre Zeit. Lucy darf nicht weiter leben, wird uns ihren Körper geben.«
 Just als sie das Mädchen erreichten, riss dieses sich los und schlug das Skelett, mit dem es eben noch diskutiert hatte, nieder. Der Schlag war zu schwach gewesen, um es endgültig zu töten, aber er verschaffte Lucy wertvolle Sekunden, in denen sie fliehen konnte. Mit einem empörten Aufschrei folgten ihr die Priesterinnen. Lucy sprintete auf den Ausgang des Tempels zu. Die Kreaturen versuchten, es ihr gleichzutun, kamen aber nur bis zur Schwelle und schraken dann zurück, als lauere draußen etwas, das noch unheimlicher als sie selbst war. Aber ja: das Sonnenlicht! Viel gab es davon zwar nicht im Dunkelwald, aber es genügte, um die Skelette in Angst zu versetzen.
 Lucy spürte, wie die Magie zurück in ihren Körper strömte, sobald sie ins Freie trat. Dann sah sie Aeternus, der geradewegs auf den Tempel zu ging. »Aeternus, du musst umkehren! In dem Tempel sind lebendige Skelette!«, rief Lucy, noch immer erschrocken über das eben Erlebte.
 »Beruhige dich, Lucy«, sagte der Magier und nahm das Mädchen in die Arme, »Ich habe die Situation unter Kontrolle. Vertrau mir.«
 Lucy wahr unwohl zumute. Sie war so viel körperliche Nähe nicht gewohnt. Sorl hatte sie nie umarmt, und andere Familienmitglieder hatte sie nicht. Außerdem wollte sie nicht, dass Aeternus merkte, dass seine Gegenwart ihr Herz höher schlagen ließ.
 »Komm mit, wir müssen in den Tempel«, drängte er Lucy und schob sie auch schon hinein.
 »Nein, Aeternus! Ich habe dir doch gesagt …«, protestierte die junge Hexe. Sie verlor beinahe die Fassung, als sie merkte, wie ihr nun geschah: Der Zauberer, der bis jetzt so zuvorkommend und freundlich zu ihr gewesen war, benutzte einen Zauberspruch, der Lucy erneut ihrer eigenen Magie beraubte. Auf diese Weise wehrlos gemacht, konnte Lucy nicht verhindern, dass er sie in die Arme derjenigen trieb, die es auf ihr Blut abgesehen hatten.
 »Was machst du da bloß?! Hör sofort auf und gib mir meine Magie zurück!«, rief Lucy und trat Aeternus vors Schienbein.
 Er lachte nur und sah sie verächtlich an. »Du bist genauso naiv wie die dummen Menschen. Man merkt, dass du mit ihnen verwandt bist. Du bist mir hinterhergelaufen wie ein verlorener Hund, obwohl du mich kaum kennst. Du hättest alles für mich getan, nicht wahr? Tja, dann halt dich fest, ich werde dir jetzt nämlich etwas verraten: Derjenige, der den Skeletten dein Blut im Tausch für die Unsterblichkeit angeboten hat, war niemand anderer als ich.«
 »Halt den Mund, Zauberer, und gib uns endlich, was uns gehört!«, meldeten sich die Skelette zu Wort.

Blätter und dornenbewährte Äste schlugen Sorl ins Gesicht, während er, so schnell er nur konnte, seinen Weg durch die Bäume bahnte. Die Katze hingegen hatte keine Mühe, ihre Geschwindigkeit zu halten, schließlich war sie klein und flink.
 »Lauf schneller, Sorl, sonst ist Lucy tot, wenn wir ankommen!«, brüllte Stallis, ohne sich umzudrehen.
 Sorl konnte immer noch nicht glauben, dass er einer sprechenden schwarzen Katze folgte, die behauptete, dass es im Wald einen Tempel voller Untote gab, und dass seine einzige Tochter darin umgebracht werden sollte. Dennoch rannte er, als gelte es, einen Rekord zu brechen. Seine schwere Holzfälleraxt ließ er dabei keinen Augenblick los.
 Schnaufend und prustend erreichte er den Eingang des Totentempels. Die Katze lief schnurstracks hinein. Er dagegen musste sich erst mal an eine Säule lehnen und tief durchatmen, so sehr hatte ihn der Hindernislauf durch den Wald mitgenommen.
 Von blinder Wut gepackt, sprang Stallis dem verräterischen Zauberer an die Kehle, sodass er Lucy loslassen musste. Aeternus schrie auf und versuchte, das kratzende und beißende Tier abzuschütteln. Dabei geriet er ins Taumeln und stolperte rückwärts in die Richtung des Eingangs, wo ihn Sorls geschärfte Axt erwartete. Sorl traf den Mann zwischen die Schulterblätter. Wenige Sekunden später setzte er einen zweiten Hieb nach, der ihm den Kopf abtrennte.
 »Baum fällt!«, rief Sorl zufrieden, als Aeternus‘ toter Körper auf den Boden fiel.
 Lucy schlug entsetzt die Hände vor ihr Gesicht, um die grauenerregende Szene nicht sehen zu müssen. Stattdessen drehte sie sich zu den Skeletten um, die beim Anblick des Holzfällers und der sprechenden Katze wie angewurzelt stehen geblieben waren und den Kampf beobachtet hatten.
 »Warte, Magierin!«, rief das Skelett, das Lucy bereits einige kleinere Schnittwunden zugefügt hatte, »Die Situation hat sich geändert. Jetzt, wo der Magier tot ist, brauchen wir dein Blut nicht mehr. Wir nehmen seines. Es wäre Verschwendung, dich auch noch zu töten.«
 »Heißt das, ihr lasst mich gehen?«, fragte Lucy schnell.
 »Ja. Leb wohl. Und komm nie wieder in unseren Tempel, denn wenn du das nächste Mal hier auftauchst, werden wir dich töten.«
 Das ließ sich Lucy nicht zweimal sagen. Gemeinsam mit ihrem Vater und ihrer treuen Freundin eilte sie aus dem Tempel, nur weit weg von diesem grässlichen Ort des Mordens und Blutvergießens. Sie hörten noch ganz leise die Melodie des neuen Totenliedes, das die Skelettpriesterinnen anstimmten: »Aeternus der Verräter, er wünschte ihr den Tod. Doch nun bringt sein Verrat ihn selbst in große Not …«

»Ich danke euch beiden für meine Rettung. Ihr habt etwas gut bei mir«, sagte Lucy, während ihr Vater ihre Wunden verarztete. Die Katze saß auf ihrem Schoß. »Wie gesagt: Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst“, antwortete Stallis.
 »Ich natürlich auch, Lucy«, fügte ihr Vater hinzu, »Es tut mir leid, dass wir uns so gestritten haben. Es tut mir leid, dass ich dich verprügelt habe. Und vor allem schäme ich mich dafür, dass ich all die Jahre versucht habe, deine wahre Identität zu unterdrücken.«
 Lucy war gerührt, als sie das hörte. Das war das erste Mal, dass Sorl sich bei ihr entschuldigte.
 »Erst als du weggelaufen bist, habe ich verstanden, was ich falsch gemacht habe. Und jetzt habe ich Angst, dass du nicht mehr zu mir zurückkommen willst.«
 Er sah wirklich deprimiert aus.
 »Ich habe nachgedacht, während du weg warst. Und mir ist eine Idee gekommen. Du wolltest doch immer wissen, wer deine Mutter ist, Lucy. Vielleicht beantwortet das deine Frage.« Er legte Lucy einen kleinen silbernen Schlüssel in die Hand und zeigte auf das Amulett, das er ihr vor vielen Jahren geschenkt hatte.
 Lucy schloss es auf und fand darin ein Bild von einer rothaarigen Frau, die wie eine Magierin gekleidet war und ein freundliches Lächeln hatte. Sie las laut vor, was neben dem Bild geschrieben stand: »Luna Laria, stellvertretende Leiterin der Zauberschule von Lumistadt.«
 »Die Hexen und Zauberer haben mich damals aus Lumistadt verstoßen, weil ich, ein unwürdiger Mensch, es gewagt hatte, eine Beziehung mit Luna zu haben. Deine Mutter hat dich sehr geliebt und wollte, dass du bei ihr bleibst, aber das konnte ich nicht zulassen. Ich konnte mein einziges Kind nicht ohne Vater zurücklassen. Also habe ich dich eines Nachts entführt und nach Mimdorf gebracht. Das Dorf war unbedeutend genug, um nicht von deiner Mutter gefunden zu werden. Ich habe niemals von ihr gesprochen, weil ich Angst hatte, dass du mich verlassen und zu ihr gehen könntest.«
 Lucy sah ihren Vater schweigend an.
 »Aber wenn du möchtest, zeige ich dir den Weg dorthin. Du kannst deine Mutter kennenlernen und in der Zauberschule deine magischen Kräfte trainieren. Ich kann dich nur leider nicht begleiten, weil die feinen Herrschaften auf uns Menschen herabblicken, als wären wir ein Schwarm lästiger Fliegen, unwürdig, von ihnen überhaupt wahrgenommen zu werden.«
 »Papa!« Lucy ergriff ihres Vaters Hand. »Es wäre bestimmt schön, Mama kennenzulernen oder auf die Zauberschule zu gehen. Aber wenn sie so von dir denken und wenn sie dir nicht erlauben, mitzukommen, dann werde ich auch nicht dorthin gehen. Du hast mich großgezogen! Du warst all die Jahre für mich da! Ich werde dich nicht verlassen. Ein paar Bedingungen stelle ich dir dennoch: Du musst mir erlauben, zu zaubern, damit ich mich wehren kann, wenn die Jungs aus dem Dorf mich ärgern. Stallis soll mich jederzeit besuchen dürfen. Und du musst dem Fischer verbieten, mich auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Ist das in Ordnung?«
 »So soll es sein! Dann lass uns nach Hause gehen. Und du, Stallis, kannst von mir aus sogar bei uns wohnen, wenn dir das lieb ist. Immerhin hast du mein Kind gerettet.«


© Varia Antares


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Beschreibung des Autors zu "Aeternus der Zauberer"

Lucy lebt gemeinsam mit ihrem Vater in einem kleinen Dorf mitten im Dunkelwald. Da sie als einziges Mädchen rote Haare hat, wird sie von den anderen Dorfbewohnern gemieden und als Hexe beschimpft. Als ein rätselhafter Fremder im Dorf auftaucht, steht Lucys bisherigem Leben eine Wende bevor. "Aeternus der Zauberer" erschien in der Anthologie "Spukgeschichten am Lagerfeuer", net-Verlag, 2012.

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