Wie jeden Samstagvormittag wartete auf Familie Haferkorn, das sind Vater Michael, Mutter Angelika, ihr Sohn Kevin und ihre Tochter Linda, ein vollwertiges Frühstück. Vater Michael hatte kurz zuvor Brötchen geholt, wie immer je 4 Croissants für die beiden Männer sowie Linda und 1 Normales für Angelika, sie achtete als einzige auf ihre Linie. Was die Familie ausmachte, war ihre Grundverschiedenheit, jeder sah vollkommen anders aus und hatte ganz eigene Hobbies, sodass man sich selten in die Quere kam.

Angelika, 45, war klein und schlank mit schwarzem Haar und sportlicher Figur, ihre Tochter, 13, stark übergewichtig, aber trotzdem klein und schlank mit naturblauem Haar. Kevin, 11, war ein kräftiger Junge und bereits 15 Zentimeter größer als sein Vater und hatte als einziger rote Haare. Michael, 50, war ein eher unscheinbar wirkender Mann von unförmiger Statur, nur 1,45 groß und hatte fast schnabelartige Lippen, die ihm zu Jugendzeiten den Spitznamen Donald einbrachten. Sein fettiges Haar hatte er zu einem Zopf gebunden. Trotzdem war er aus Sicht seiner Frau ein attraktiver Mann, er wusste mit einem ausgezeichneten Charakter zu glänzen.

Wie schon erwähnt waren auch die Hobbies der Familienmitglieder von sehr unterschiedlicher Art. Während Kevin gerne las, musizierte (er gewann bereits 3 Musikwettbewerbe mit seinem Violoncello) sowie mit Plastikdinosauriern fiktive Kämpfe austrug, spielte seine Schwester gerne mit Puppen und schaute Akte X.
In der Schule waren beide sehr flexibel. Hatten sie Lust, kamen ausgezeichnete Zensuren dabei heraus. Kehrte allerdings der Schlendrian ein bei den Kindern Haferkorn, dann spiegelte sich das in teils drastischer Art in den Noten wider, sodass sogar ein Lehrer aus Frust gegenüber Kevin bereits handgreiflich geworden war. Er hielt das für Notwehr, doch dem war nicht so und er ward auf die Insel Elba für immer verbannt.
Angelika Haferkorn, Bankkauffrau, jagte gerne Tiere, die sie anschließend ausstopfte. Hasen, Eichhörnchen, Leguane, Seerobben schmückten bereits das Domizil der Familie und auch ein Elefant, der in der Küche hing. Ihr Mann allerdings stellte dessen Status als das Werk seiner Frau doch arg in Frage.
Michael, Sport- und Kunstlehrer, fuhr gerne mit dem Kickboard rum. Meist einmal um den Block und dann immer wieder, das machte ihm viel Spaß.

So saß die Familie nun am Küchentisch, wohlig kauend, während Angelika mit zusammengekniffenen Augen ihren noch unrasierten Mann kritisch prüfend betrachtete, was dieser allerdings gar nicht registrierte. Er sah zu Kevin, der, aktiv wie er war, fast breakdancend auf seinem Stuhl hin und her wippte, während er sich das frisch mit einem Hauch Erdbeermarmelade bestrichene Croissant zu Gemüte führte. Im Hintergrund erklang leise Musik, wohlig klingend, fast friedlich, Nachbar Meiermann war Fan der Band Dimmu Borgir.

Michael schreckte plötzlich auf, denn es hatte geklingelt. Jemand wagte es, den Familienfrieden selbst am Wochenende zu stören. Der kleine Mann versuchte seinen Wanst langsam vom Stuhl zu heben und trippelte regelrecht zur Haustür, die er mit einer ruckartigen Bewegung öffnete. Ein Junge, geschätzte 12, schaute ihn ehrfürchtig an.
Dieser sprach zu ihm: „Ist der Kevin da?“
Daraufhin antwortete Michael: „ Ja, ich hol den eben.“
Die daraufhin folgende Replik des Jungen lautete: „Jo, alles klar, man.“
So begab es sich, dass die Familie nur noch zu dritt den Frühstückstisch bevölkerte. Kevin war von ihnen gegangen. Wohin genau es ihn trieb, das wusste wohl nur der Heilige Geist; und Kevin; und der Junge, der dabei war.

So aßen sie und aßen sie und aßen sie und redeten und aßen, redeten und aßen immerfort, bis Michael den Entschluss fasste, sich zur kurzen Erholung und Stärkung für einen langen Tag, ein Stündchen in sein Himmelbett zu begeben, um ganz eins mit sich sein zu können. So erklomm er Stufe um Stufe der Wendeltreppe im Hause Haferkorn, bis er schließlich gut gelaunt regelrecht ins Bett hineinhüpfte. Der bereits arg strapazierte Lattenrost durchbrach mit einem Mal unter einem lauten Knall, doch das störte ihn nicht, er musste diesen seit Jahren zweimal wöchentlich wechseln.
Während er dort lag, um sich vom Frühstück und dem unerwarteten Ausritt Kevins zu erholen, kam mit sanften Flügelschlägen durchs Fenster des Schlafzimmers eine kleine Amsel hereingeflogen. Sie piepte fröhlich vor sich hin, was auch Michael zu einem freudigen Pfeifen animierte, man konnte fast meinen, es spielte ein kleines Symphonieorchester im Schlafzimmer der Haferkorns.
Die kleine Amsel war noch bedeckt mit Blütenstaub und einem Büschel Katzenhaaren. Nachbarskatze Heike des Dimmu Borgir-Fans Meiermann hatte wohl versucht, ihn als Teil ihres Morgenmahls zu gebrauchen. Doch obsiegte im Duell David gegen Goliath wie so oft der kleine David, hier in Form der fröhlichen Amsel.
Es klingelte wieder an der Haustür. Michael dachte bei sich, dies müsse wohl der Postbote sein, wie vermutlich jeden Samstag der junge rothaarige, der ihn immer an seinen Sohn erinnerte.

Doch er war nur noch eins mit sich, liegend, der Amsel lauschend, gelegentlich die Augen schließend, und wusste bei sich, wenn er eines gelernt hatte zu genießen, dann Folgendes:

Die Melancholie des Alltags.


© RMan


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