Heute ist der 32. Mai und heute verreise ich einfach ins Märchenland! Am Bahnhof ist es neblig und seltsame Gestalten stehen auf dem Bahnsteig – mir ist ein wenig flau im Magen, aber dann rauscht etwas ein und eine Türe tut sich auf...ich steige ein und begebe mich in mein Ab-Teil. Dort ist es ein wenig muffig. Vielleicht sollte der Raum dringend gelüftet werden, doch als ich das Fenster öffne, atme ich reinste Morgenluft.

Dann setzen wir uns in Bewegung: Etwas bringt mich aus meinem Heimatort, dem Jammer-Tal fort. Ich spüre den Fahrtwind durch das offene Fenster, wage es aber nicht mich zu weit hinauszulehnen, nicht, daß mich noch ein aufgestelltes Hindernis kopflos macht. Ich habe jetzt schon genug mit mir zu tun! Die Verkehrsmittel hierzulande sind vielfältig. Es gibt eine Unzahl Zeuge und Mobile, Räder und Rutschen, Karren, Roller und Wagen – ich dagegen habe den Gummi-Zug genommen, denn er wurde von dem von mir hochverehrten Professor Yoyo aus Dingsda an der Lasche erfunden. Das verspricht größtmögliche Sicherheit!

Auf den ersten Kilometern kommt uns der Flaschen-Zug aus Oberstadt / Fladenburg entgegen, dann erreichen wir auch schon die erste Station der Reise: Verkehrtenheim! Dort ist der Nachthimmel weiß und die Sterne sind schwarz. Dort wird, im Licht der Schwarzlicht-Lampions, viel gesungen und getanzt. Überall umarmen sich die Menschen auf der Straße. Das muss Liebe sein, denke ich mir, bis ich dann höre, daß in diesem Lande nichts genau beschrieben werden darf. Wenn z.B. etwas ganz übel schmeckt, dann muss es mit den Worten „das ist vorzüglich“ kommentiert werden, ein Mensch mit eher unansehnlichem Äußeren ist „wunder-wunderschön“ zu nennen und wenn einer einen anderen schlägt, dann muss dieser „danke vielmals“ sagen, sonst kommt er sofort ins Gefängnis...

Die Gerichte sind angehalten zuerst immer die Unschuldigen, oder die Ehrlichen zu verurteilen und die größten Betrüger bekommen hohe Staatsämter zugesprochen!
Der Gummi-Zug hält in diesem Land genau 666 mal – und als er langsam über die Grenze fährt, sage ich zum Zoll-Kontrolleur: „Mir ist wirklich zum Weinen, euer Würden, daß wir jetzt weiterfahren...hier hätte ich gern den Rest meines Lebens verbracht“.

Endlich steigen wir in den Auf-Zug um. Die Fahrt geht ins Steuerland. Dort gilt es als höchste Tugend Steuern zu erheben. Die Armen zahlen zuerst! Wer so gut wie nichts hat, dem wird nur so viel gelassen, daß es zum Verhungern nicht ganz reicht. Er / sie muss mindestens noch 2 Nebenjobs annehmen um über die Runden zu kommen. Das ändert sich aber je mehr man besitzt! Wer ganz viel Geld hat, der darf nur noch sehr wenig Abgaben entrichten und die führenden Wirtschaftsbosse sind inoffiziell ganz von den Steuern befreit.

Als ich in Steuerland ankomme muss ich sofort den Offenbarungseid leisten: Ich opfere den letzten Hosenknopf, damit ich nicht im Schuldturm lande, finde mich aber plötzlich, durch einen dummen Zufall gerettet. Zu meinem Glück sehe ich aus, als wäre ich mit Glied im Club der Oberadelshäupter-Partei, obwohl mir keinerlei Inzucht in meinem Stammbaum bewusst ist. Ich bekomme also meine Hosenknöpfe wieder zurück und muss folglich nicht nackt herumlaufen, weil mir alles vom Leibe rutscht...so kann ich die Flucht ergreifen... Mit dem Ab-Zug geht es weiter! Als ich ihn betrete müssen alle die dafür notwendigen Abzugshauben aufsetzen und kleine Brötchen backen. Das wird mir jedenfalls eindringlich nahegelegt.

Daß ich nicht mehr ohne (die Sicherheit durch Kleidung) bin passt mir sehr gut, weil ich jetzt das Anstandsland erreicht habe. Ob ich mich jetzt schon wohlfühlen kann wage ich nicht beurteilen, denn ich verstehe kaum noch was die Leute reden. Alle halten sich dabei eine Hand vor den Mund, andere rollen mit den Augen und flüstern nur was sie zu sagen haben. Mir kommt es vor als ob hier alle ein schlechtes Gewissen hätten. Da es Abend geworden ist beziehe ich ein Hotelzimmer mit Fernseher. Ich versuche mir ein Bier auf Zimmer zu bestellen, bekomme jedoch versichert, daß es weit und breit keinen Alkohol gäbe. Nun gut, denke ich, dann schaue ich mir halt einen spannenden Film an.

Mein Fernsehgerät kann jedoch sprechen. Es erzählt mir, daß Filme mit eindeutigen Liebesszenen absolut verboten sind und man sich dafür anmelden müsse. Erlaubt seien aber Kriegs- oder Kriminalfilme, da man schließlich auf Minderjährige Rücksichten zu nehmen habe. In beiden Fällen müsse ich mich registrieren lassen und damit rechnen, daß man meine Daten ganz genau überprüfen werde, bevor man mich wieder ausreisen lässt, da es im Anstandland eine Scala von „Erlaubt“, über „Geduldet“, bis hin zu „Unerwüscht“ oder „Strengstens untersagt“ gäbe. Nur wer sich stets anständig im Bereich „Erlaubt“ bewege bekäme demnach die Erlaubnis zu tun was er wolle, auch wenn ihm der Sinn nach etwas Anderem stehe!

Mein Sinn stand mir nach der sehnlichst erwarteten Ankunft in Märchenland, wo ich – ehrlich gesagt – schon sehr bald nach meine Geburt hin wollte. Vorher gab es allerdings noch die unvermeidlichen Besuche in den Ländern der Warmduscher, der Beckenrandschwimmer, der Frauenversteher, der verirrten Bildungsschichten, der bescheuerten Mitmacher, der Mitdemstromläufer, der Ohnestromleuchten, der Zufriedenheitsfanatiker, der überschwänglich Liebenden, der Ameisenimmitierer, der Wallfahrtspezialisten, der Reliquienanbeter, der Absurditätsverkünder, sowie der dauernaiven Allesfresser.

Dann war ich endlich angekommen! Aber irgendwie schien alles wie gehabt! Ich konnte überhaupt keinen Unterschied zu meinem Ausgangspunkt, dem Kurzschlussland, von dem einst aufgebrochen war, feststellen... Vorsichtig sah ich mich um. Nein, irgendwas musste sich doch verändert haben, denn meine Perspektive schien völlig neu. Ich konnte alles nur aus einer Beinahe-Froschperspektive betrachten – und als ich versuchte mich an das zu erinnern was ich vor meinem Reiseantritt gedacht hatte, da verstand ich mich selbst nicht mehr.

Als ich an einem Schaufenster vorbeikam sah ich mich nicht! War ich verstorben? War ich unsichtbar geworden? Hatte ich den Verstand verloren? Im Glas der Scheibe sah ich wie jemand an mich herantrat... „Na, Kleiner“, sagte der Jemand besorgt, „wo hast du denn deine Eltern gelassen?“ Ich drehte mich zur Seite und sah zu einem Riesen auf, der mindestens dreieinhalb Meter groß sein musste. Der Riese grinste vertraulich. Ok, ich war also im Märchenland angekommen und ganz in der Nähe musste Gulliver zu finden sein.

In diesem Augenblick geschah etwas Furchterregendes: Der gewaltige Riese beugte sich zu mir herunter und ich erkannte im Schaufenster, daß er zu einem kleinen Kind sprach! Meiner Kehle entfuhr ein Schrei! Es war eindeutig mein Schrei, aber es war nicht der Schrei eines ausgewachsenen Mannes gewesen! Ich war wieder zum Kleinkind geworden und auf einmal fügte sich eins wie von selbst zum anderen... Der Riese nahm mich bei der Hand und brachte mich zur Polizei, wo nach meinen Eltern geforscht werden sollte. Dann nahm das Unheil seinen Lauf!

Nachdem ich ja nicht in der Vergangenheit angekommen war, sondern direkt in der Jetzt-Zeit würde ich mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit im Waisenhaus landen, wo man mir, Prof. Dr. Besser-Wisser, all den Schmonsens der Gegenwart verzapfen würde, den ich, in Ermangelung all meiner Zertifikate, meiner Mittel und meiner Fertigkeiten, nicht widerlegen konnte und durfte. Denn was mir geblieben war, das umfasste lediglich meinen unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen, in der Welt und an eine Zukunft, die wunderbar werden müsse, weil sie doch meine sein würde.

Ich würde meinen Weg gehen, aus dem Märchenland langsam heraus, über sieben Hürden und sieben Würden, bis zum Bahnhof des Lebens, wo ich den Bahnsteig sicher nie wieder betreten durfte, wo der Gummi-Zug ins Märchenland anhalten würde. Ich würde mit meiner Unzufriedenheit zufrieden sein und nicht mehr auf das Unmögliche hoffen, das mich dorthin bringt wo ich für immer glücklich sein würde. Ganz im Gegenteil: Ich würde mich freuen den Teufel bei den Hörner packen zu müssen um ihm abzuringen was man mir eingebrockt hat – jede Sekunde, jede Stunde, jeden Tag und Jahr für Jahr. Und wenn ich dann einmal ordnungsgemäß gestorben bin, dann sollen andere im Glauben an ihre Träume glücklich werden. Ich wünsche ihnen dabei einen herrlichen Kladderadatsch!

Meine Reise ins Märchenland

© Alf Glocker


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Meine Reise ins Märchenland"

Re: Meine Reise ins Märchenland

Autor: Sonja Soller   Datum: 10.10.2022 12:16 Uhr

Kommentar: Eine ungewöhnliche Zugreise, lieber Alf!!
Zum Lachen und zum Weinen, aber ist ja nur ein "Märchen."
Gut geschrieben, gerne gelesen!!!

Herzliche Grüße aus dem märchenhaften Norden, Sonja

Re: Meine Reise ins Märchenland

Autor: Angélique Duvier   Datum: 10.10.2022 12:40 Uhr

Kommentar: Lieber Alf, ein Märchen mit starker Metapher und wahren Aussagen!

Liebe Grüße,

Angélique

Re: Meine Reise ins Märchenland

Autor: Alf Glocker   Datum: 10.10.2022 18:58 Uhr

Kommentar: Vielen Dank liebe Freunde!

Liebe Grüße
Alf

Re: Meine Reise ins Märchenland

Autor: Michael Dierl   Datum: 10.10.2022 22:29 Uhr

Kommentar: Hallo Alf, tja, der 32 Mai :-).......ich glaube der Bombember hat sogar glatte 33 Tage oder irre ich mich da??? Jedes Land hat so seinen spezifischen Monat. Die Deutschen haben den Kuli, die USA den Jury, die Russen den Deppzember usw. was soll ich da nun schreiben. Saugerne gelesen! :-)

lg Michael

Re: Meine Reise ins Märchenland

Autor: Alf Glocker   Datum: 11.10.2022 8:33 Uhr

Kommentar: Haha, dank dir lieber Michael...

Mittlerweile sind wir ja sogar ins Bärenjahr eingetreten: Septem-Bär, Okto-Bär, usw...


LG Alf

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