Liebe Studierende und Freunde des Diagonal-, Überkreuz- und Selbstdenkens,

zu allen Zeiten hatten Menschen das Bedürfnis, etwas vorzutäuschen, was nur rudimentär oder sogar gar nicht vorhanden war. Schon die Pharaonen haben sich geschminkt, um dem Volk eine göttliche Schönheit vorzuspiegeln, die sie in der Realität aufgrund der pharaonischen Inzucht fast nie besaßen. Nicht vergessen wollen wir in diesem Zusammenhang auch die angeklebten Bärte bei den Schwestern beziehungsweise Gattinen der Pharaonen (was damals gleichbedeutend war). Wobei man sich schon die Frage stellen muss, ob es überhaupt notwendig ist, bei Damen Bartwuchs vorzutäuschen, der sich ja spätestens nach der Menopause oft ganz von selbst einstellt.

Heute ist es dank Internet, Photoshop und Filmbearbeitungsprogrammen möglich, dieses „alternative Aus­sehen“ weltweit zu verbreiten; aber ich schweife ab, denn eigentlich möchte ich diesmal eines der fantastischsten und zugleich oft lächerlichsten Täuschungsmanöver thematisieren. Es handelt sich dabei um das männliche Geschlechtsteil, genauer gesagt um eine einzige Eigenschaft desselben, nämlich seine Länge. Sehr viel seltener wird über seinen Umfang, seine haptisch anmutige Oberfläche oder seine glücklicherweise fehlende Behaarung am äußersten Ende gesprochen. Nein, alle seine auch nur denkbaren Eigenschaften werden auf die Länge reduziert, obwohl uns jede liebeserfahrene Frau bestätigen wird, dass gerade diese zu den unwesentlichsten Eigenschaften des – wie Thomas Mann es einmal genannt hat – Zeugezeugs gehört.

Obwohl ich Thomas Mann außerordentlich schätze, empfinde ich diese Bezeichnung übrigens als etwas lieblos, denn anstatt sich eine liebevolle Bezeichnung für dieses Organ auszudenken, wählte er ein Wort, das in seiner Primitivität dem „Flugzeug“ gleicht. Man stelle sich vor, dass die Begriffe des täglichen Lebens nach dem gleichen Prinzip entstanden wären; dann schliefen wir heute auf einem „Liegezeug“, würden „Nahrungszeug“ auf den Tisch bringen, unsere Gattinen als „Ehezeug“ bezeichnen und keinem Klavierkonzert von Amadeus Mozart, sondern seinem „Tonzeug“ lauschen. Vielleicht war aber die gewisse Primitivität der Wortbildung „Zeugezeug“ auch pure Absicht, dann habe ich Thomas Mann Unrecht getan und möchte diese linguistische Nebengasse flugs verlassen, um zum Hauptthema zurückzukehren.

Ja, die Länge des Teils, das im Englischen liebevoll als die „Kronjuwelen“ bezeichnet wird, war zu allen Zeiten eines der wichtigsten Themen für die männlichen Vertreter der Menschheit. Und was nicht vorhanden war, da die Natur lediglich eine Längenvariabilität zulässt, die für das Darstellungsbedürfnis eines durchschnittlichen Mannes bei Weitem nicht ausreicht, wurde halt getrickst. Und zwar nicht nur von Tänzern, die sich eine Hasenpfote in den Schritt ihres Trikots steckten. Auch nicht von pubertierenden Knaben, die in sozialen Netzwerken mit ihren Zwanzigzöllern prahlen, was vermutlich auf ihre Unkenntnisse bei der Umrechnung von Maßeinheiten zurückzuführen ist, denn 20 Zoll entsprechen in etwa einem halben Meter.

Sehr oft verlagerte man sich auch auf den Bekleidungssektor und die Mode. An die Hosen wurde im Schritt ein Behälter angenäht, der die „Kronjuwelen“ schützen sollte. Das war zumindest seine ursprüngliche Bestimmung. Bald jedoch wurde dieses Behältnis immer stärker ausgestopft, um ein – vermutlich vielfach gefaltetes – überlanges Glied vorzutäuschen. Einige der vernünftigeren Männer entdeckten die Praktikabilität einer solchen Schritttasche und benutzen sie zur Aufbewahrung von Geld, Wertpapieren und in höfischen Kreisen in der Tat auch für Juwelen.

Diesem Vorgehen wurde vor allem in England der Vorzug gegeben. In anderen Ländern wählte man zur Protzerei eher symbolische Objekte. Im Italien der Renaissance beispielsweise die sogenannten Geschlechtertürme, von denen in Lucca, Florenz und Bologna jeweils um die 200 errichtet wurden und zwar jeder (außer natürlich dem jeweils ersten) ausschließlich zu dem Zweck, die anderen zu überragen. Bei manchen Eingeborenenstämmen griff man zum aus Schilf geflochtenen Penisfutteral, namens Koteka oder Horim, das natürlich fast immer etwa doppelt so lang war wie sein Inhalt.

In Frankreich entschied man sich für einen anderen – wie mir scheint, ziemlich lächerlichen – Weg, man ernannte eigentlich recht willkürlich die Schuhe zum virilen Ersatzprotzobjekt.

Diese wurden nun immer länger, bis der eine oder andere stolze Herr beim Paartanz zu Boden stürzte und sich die Nase blutig schlug, weil die Partnerin versehentlich auf seine überlange Schuhspitze getreten war, obwohl sie wegen der mangelhaften Zahnhygiene in diesen Zeiten doch einen deutlichen Sicherheitsabstand eingehalten hatte.

Um solche Zwischenfälle zu vermeiden, entschied man sich, die verlängerten Schuhspitzen aufwärts zu biegen. Es entstanden die sogenannten Schnabelschuhe, die aussahen, als hätten sich die Herren der Schöpfung umgedrehte Papageienbälge über die Füße gestülpt. Aber die mangelnde Praktikabilität dieser Art von Schuhwerk beendete den Längenwettbewerb keineswegs. Ganz am Ende musste schließlich das aufgebogene Ende des mittlerweile fast endlos langen Schuhwerks im Kniebereich am Bein festgebunden werden.

Letztlich führte das dazu, dass die französischen Soldaten, als sie bei einer Schlacht – mir ist entfallen, bei welcher – vor den Türken fliehen mussten, ihre Schuhspitzen in der Not einfach abschnitten. Sonst hätten die besiegten Frontkämpfer aufgrund des überlangen Schuhwerks nicht schnell genug wegrennen können. Sie machten sich also auf diese Weise mehr oder weniger „in Socken auf die Socken“. Vielleicht entstand damals ja auch der Ausdruck, dass jemand „einen Sockenschuss“ hat, wenn er nicht die hellste Kerze auf dem Kronleuchter ist.

Man stelle sich vor, welche Symbolkraft für maskuline Potenz es darstellt, wenn hunderte von „Helden“ mit kastrierten Schuhen Reißaus nehmen. Diese Bild ist an Lächerlichkeit wohl kaum zu überbieten.

So zieht sich das Bedürfnis nach Penislänge wie ein langer roter Faden durch die Weltgeschichte, und immer wieder nimmt dieses Organ den Charakter einer Waffe an. Und zwar nicht nur in dem Randy Newman-Song “A Wedding in Cherokee County”, in dem er sein Zeugezeug als „mighty sword“ bezeichnet. Nein, viele weitere Bezeichnungen für den Mann wurden von länglichen Waffen abgeleitet. Der Unteroffizier ist ein „Spieß“, der Edelknecht des Ritters war ein „Knappe“, was von Knüppel abgeleitet ist, in den skandinavischen Sprachen hatte man für einen massiven Knüppel das Wort „Knüchtel“, ein Begriff, den sich der Knecht als Ursprung für seine Identitätsbezeichnung erwählt hat, und ganz am Schluss hastete auch noch der „Stift“ hinterher, dessen bescheidene „Waffe“ freilich nicht durch besondere Länge hervorstach, sondern vielmehr seiner ziemlich unbedeutenden und unterbezahlten Rolle im Einzelhandel entsprach.

Eher als Scherz betrachte ich dagegen die Vermutung eines mir bekannten Hobbyetymologen, dass man bei einem Barden, der seine Lieder aufgrund einer vorangegangenen Kastration mit auffallend heller Stimme vorträgt, den Ursprung seines Namens in der Waffe „Hellebarde“ vermuten könnte.

Damit möchte ich diese kurzen Ausführungen beenden (bei Vorträgen spielt übertriebene Länge ja eher zur Ermüdung der Zuhörer) und mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken.

❖❖❖


© Peter Heinrichs


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Kommentare zu "Über vorgetäuschte Längenmaße (58. Vortrag des Prof. Anatol Hirnzwick)"

Re: Über vorgetäuschte Längenmaße (58. Vortrag des Prof. Anatol Hirnzwick)

Autor: Michael Dierl   Datum: 19.08.2021 19:09 Uhr

Kommentar: Hallo, ja super geschrieben und ja so einiges wußte ich noch aus unserem Kunstgeschichtsunterricht, der von einem sehr begeisterten Lehrer in unserer FH damals abgehalten wurde, der auch mal außerhalb des Lehrplanes Wege beschritt und so Einblick in die nur zu menschliche Dingen aus uralten Zeiten erzählte, die man so nicht zu hören bekam. Seine Vorlesung war meist ausgebucht.

lg Michael

Re: Über vorgetäuschte Längenmaße (58. Vortrag des Prof. Anatol Hirnzwick)

Autor: mychrissie   Datum: 20.08.2021 12:06 Uhr

Kommentar: Danke für das Kompliment lieber Michael,

das ist ja das einzige Gute an Corona-Lockdowns, dass man in Ruhe über einen längeren Zeitraum hin schreiben kann.

Die teils lehrreichen, teils aber auch völlig abgedrehten "Vorträge" des Prof. Anatol Hirnzwick, der am magnetischen Nordpol seiner "Tätigkeit" an einer ständig ihren Standort wechselnden Universität nachgeht, ist mittlerweile auf 120 Vorträge angewachsen. Ein Gedichtband und ein Märchenbuch ist in dieser Zeit ebenfalls entstanden.

Liebe Grüße, Peter

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