Liebe Studierende und Freunde des Diagonal-, Überkreuz- und Selbstdenkens,

es gehört heute zum sogenannten Bildungskanon, keine Grammatikfehler zuzulassen. Zwar wird in den Nachrichten und anderen offiziellen Verlautbarungen selbst von gebildeten Menschen der Genitiv oft durch einen falsch verwendeten Dativ ersetzt, ja, über dieses Thema sind sogar schon Bücher verfasst worden, aber darüber möchte ich heute nicht sprechen.

Ich möchte Ihnen im Gegenteil von einer Begebenheit berichten, die sich in meinem nächsten Bekanntenkreis abgespielt hat, und die beweist, dass es zuweilen Sinn machen kann, die Regeln der Grammatik sogar auf gröb­ste Weise zu missachten.

Einer meiner guten Freunde hat eine kleine Tochter, Paula mit Namen, die leider auf Grund einer seltenen Augenkrankheit im Alter von 8 Jahren erblindete. Daraufhin erwarb er einen Blindenhund, der nach kurzer Zeit zum besten Freund des Mädchens wurde. Die kleine Paula bestand zuerst darauf, den Hund nach ihr zu benennen, obwohl das Tier männlichen Geschlechtes war. Diesen Namen wollten die Eltern nicht zulassen, da sie Missverständnisse jeglicher Art vermeiden wollten. „Dann soll er gar keinen Namen kriegen!“ begehrte Paula auf. So hieß der Blindenhund nun eben „Blindenhund“. Zwischen der kleinen Paula und dem Tier entwickelte sich eine tiefe Liebe, die gegenseitig war, Paula konnte nicht ohne den Hund sein, der Hund wollte niemals auf die Gegenwart Paulas verzichten. Ergänzend, und für diese Geschichte nicht unerheblich, muss angemerkt werden, dass die Familie von einem Urlaub in einem südeuropäischen Land einen Straßenstreuner mitbrachte, einen Pudelmischling, der – selbst wenn sich die Situation auch konstruiert anhören mag – ebenfalls blind war. Die kleine Paula war überzeugt, dass ihr Blindenhund auch zum Freund und Beschützer des blinden Hundes werden würde, was auch geschah. Paula ist ein Kind mit einem stark ausgeprägten Willen, sie bestand darauf, dem blinden tierischen Neuzugang ebenfalls keinen Namen zu geben. Sie dachte, dass es den Blindenhund kränken könnte, wenn der blinde Hund einen Namen bekäme, er als erster vor ihm zur Familie gestoßener Zuzögling aber nicht.

Dass diese Situation Verständigungsprobleme mit sich bringen könnte, wurde als erstem dem Vater von Paula klar, als er fragte: „Wer geht heute mit dem Blindenhund Gassi?“ oder meinte er vielleicht: „Wer geht heute mit dem blinden Hund Gassi?“ Keiner wusste das zu sagen, worauf mit keinem der beiden Hunde Gassi gegangen wurde, sodass diese die Wohnung mit Fäkalien verschmutzten, was mit dem eigentlichen Sinn dieses Vortrages allerdings nichts zu tun hat.

Auch Paula war klar, dass man hier Abhilfe schaffen musste, bestand aber trotzdem mit kindlichen Starrsinn darauf, beide Hunde ohne Namen zu lassen. Wie war dieses Problem zu lösen? Man setzte sich zu einer Familienkonferenz zusammen. Man dachte gemeinsam nach, und allen wurde klar, dass ein „Blindenhund“ nur im Nominativ von einem „blinden“ Hund zu unterscheiden war, denn da war der eine ein Blindenhund, der andere jedoch ein blinder Hund. Im Genitiv war der eine „des Blindenhundes“, der andere „des blinden Hundes“. Auch im Dativ drohte Verwechslungsgefahr, denn „dem Blindenhund“ oder „dem blinden Hund“ klang ebenfalls gleich. Zu allem Überfluss drohte auch im Akkusativ die gleiche Verwechslung.

Nur wenn die Begriffe „Blindenhund“ und „blinder Hund“ ausschließlich im Nominativ verwendet wurden, war jedem klar, wer der beiden tierischen Familienmitglieder gemeint war. Deshalb ordnete Paula – von den Erwachsenen gutmütig belächelt – mit kindlicher Herrscherinnengeste an, den Begriff „Blindenhund“ für ihren „Blindenhund“ grundsätzlich nur im ersten Fall zu gebrauchen, das gleiche sollte für den „blinden Hund“ gelten. Wenn beispielsweise jetzt gefragt wurde, welcher der Hunde bereits gefüttert worden seien, machte ein kleines „n“ den gewichtigen Unterschied hörbar, denn es hieß es in einem Fall „Hat der Blindenhund sein Futter?“ im anderen, gut unterscheidbar: „Hat der blinde Hund sein Futter?“

Einen Grammatikprofessor unseres Lehrkörpers, der einmal bei dieser Familie als Gast zum Essen eingeladen war, ereilte ein Herzinfarkt, nachdem er mehrere infolge dieser Familienangewohnheit waghalsigen grammatikalischen Formulierungen hatte vernehmen müssen. Denn, wie gesagt, der Genitiv, Dativ und Akkusativ wurden ja immer durch den Nominativ substituiert, zu welcher grammatikalischen Absurdität dies auch führen mochte. Und das geschah aus Gewohnheit nach einer Weile nicht nur beim Blindenhund und beim blinden Hund, sondern schließlich auch bei den meisten Substantiven mit vorangestelltem Adjektiv, bei denen Verwechslungsgefahr gegeben war.

Also beispielsweise bei den Begriffen „Lautenmusik“ und „laute Musik", "Fadennudel" oder "fade Nudel", Irrenarzt" oder "irrer Arzt" und schließlich fällt uns noch der „Plattenspieler“ beziehungsweise der „platte Spieler“ ein. Gerade was das letzte Beispiel angeht, sollten Sie sich den Einwand verkneifen, „platte Spieler“ kämen selten vor. Ich erinnere daran, dass vor wenigen Tagen – von der Lokalpresse ausführlich kommentiert – einer der Besucher des hiesigen Spielkasinos auf seinem Heimweg von einer Dampfwalze überrollt wurde.

Was ist also wichtiger? Grammatikalische Korrektheit, oder Unterscheidbarkeit? Schließlich geht es um die mögliche Verwechslung von Einzelindividuen, denen ja auch eine individuelle Menschen- beziehungsweise Tierwürde zusteht. Und wenn wir schon einmal beim Aufräumen im Durcheinander der Fälle sind – warum beschränken wir uns nicht grundsätzlich in „die nächste Diskussion“ und bei „die Formulierung unsere Sätze“ in „alle Fälle“ auf „der Nominativ“?! Das reicht doch! Und ist einfach. Denken Sie einmal darüber nach, ob diese linguistisch-grammatikalische Vereinfachung nicht auch „viele Schüler“ das Leben erleichtern würde. Vielleicht sogar „Sie“.

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© mychrissie


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Beschreibung des Autors zu "Über die Nützlichkeit des Nominativs"

Ein Kurzvortrag des durchgeknallten Professors Anatol Hirnzwick

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