Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Quer- und Diagonaldenkens,

immer wieder höre ich von Science-Fiction-Freunden, sei es, dass sie entsprechende Serien oder Filme in Streaming-Portalen anschauen oder häufig Asimov-, Stanislaw Lem-, Jules Verne- und H.G. Wells-Romane lesen, dass Zeitreisen doch eigentlich eine sehr interessante Sache seien.

Das stimmt natürlich. Wer hätte noch nie davon geträumt, in früheren Zeiten einmal bei einer antiken Seeschlacht zugegen gewesen zu sein, oder auf einem Gerüst unter der Decke der Sixtinischen Kapelle, während Michelangelo dort auf dem Rücken liegend mit dem Pinsel Gottes und Adams Finger zueinander führte. Einmal bei der Original-Aufführung einer Bach-Passion zugehört zu haben, oder gar bei einem Treffen im Führerhauptquartier als heimlicher, und natürlich möglichst unsichtbarer Gast dabei gewesen zu sein.

Oder aber stattdessen einen Blick in die Zukunft zu tun. Zu erfahren, welche Erfindungen wir noch zu erwarten haben, wie sich die soziale, nationale und wirtschaftliche Entwicklung abspielen wird. Man möchte vieles wissen, was noch geschehen wird, mit Ausnahme vermutlich des eigenen Todeszeitpunktes.

Es ist in den entsprechenden Science-Fiction-Romanen und -Filmen auch immer wieder thematisiert worden, dass Zeitreisende eines niemals tun dürften, nämlich in der Vergangenheit oder Zukunft etwas verändern, da dies sonst zu unvorhersehbaren paradoxen Verwerfungen in der Gegenwart führen kann. Wenn beispielsweise jemand durch einen dummen Zufall verhindert, dass sich seine Eltern treffen, dann wäre ja seine eigene Existenz in der Gegenwart schon von vornherein nicht möglich, was schon von vornherein jegliche Zeitreise unmöglich gemacht hätte.

Wenig allerdings wird von einem Umstand gesprochen, auf den ich jetzt eingehen möchte. Wohlweislich gehen die Menschen in den Zeitreisegeschichten oft allenfalls in die Zeit ihrer Jugend zurück. Ein gutes Beispiel dafür ist der bekannte Film "Zurück in die Zukunft". Was aber geschieht, wenn sie zu einem weit davor liegenden Zeitpunkt zurückreisen? Dann wären sie ja überhaupt noch nicht vorhanden gewesen. Wir begegneten also unserem noch gar nicht vorhanden Ich, also unserer Noch-nicht-Existenz. Wie eine solche Begegnung aussähe, erschließt sich mir – ehrlich gesagt – in keiner Weise.

Ähnlich absurd wäre es mit einer Reise in die Zukunft, dann wäre man ja unter Umständen schon lange nicht mehr vorhanden, also eine Nicht-mehr-Existenz.

Nicht als Noch-nicht-Existierender und ebenso wenig als Nicht-mehr-Existierender wären wir in der Lage, etwas wahrzunehmen, etwas zu empfinden, etwas zu fühlen.

Jetzt könnte man mit Recht einwenden, dass ein Zeitreisender sich in der Vergangenheit oder Zukunft ja nicht in sein noch nicht vorhandenes bzw. in sein nicht mehr vorhandenes Ich verwandelt, dieses also an seine Stelle tritt, sondern das nichtexistente Ich, dem er begegnet, existiert vielmehr neben ihm als zweite Form. Es gibt ihn also plötzlich sowohl existent wie nichtexistent. Er gleicht Schrödingers Katze, von der keiner weiß, ob sie nun lebt oder nicht, oder gar beides zugleich. Eine unbefriedigende Form des Daseins, wie Sie zugeben müssen.

Es stünden, wie ich Ihnen sicher nicht zu erklären brauche, ja auch unendlich viele Zielorte für eine mögliche Zeitreise zur Auswahl. Und da es unendlich viele Zielorte auf der Zeitachse gibt, die man ansteuern könnte, gibt es letztlich auch unendlich viele nichtexistente Ichs. An jedem Zielort eines.

Ganz amüsant wäre es nun, die unendlich vielen nichtexistenten Ichs auf einer Zeitreise in die Vergangenheit „einzusammeln“ und mit ihnen in die Zukunft zu reisen, dort träfe man dann ein weiteres nichtexistentes Ich, dass man seinen unendlich vielen nichtexistenten mitreisenden Ichs hinzufügen könnte.

Dabei entstünde nun allerdings schon wieder ein Problem. Der Unendlichkeit eine Zahl hinzuzufügen ist ja rein rechnerisch nicht möglich, da es keine Zahl gibt, die Unendlich um auch nur einen Zähler übersteigen kann. Von den dagegen lächerlichen Schwierigkeiten, noch nicht Existierende von nicht mehr Existierenden zu unterscheiden, wenn sie sich am gleichen Ort aufhalten, will ich hier gar nicht reden.

Aber all dies sind ja beileibe noch nicht alle Probleme. Da ich in der Gegenwart nicht weiß, ob die Welt nicht vor dem Zeitpunkt untergegangen ist, den ich bei meiner Zeitreise ansteuere, kann es sein, dass ich nicht in einer zukünftigen Welt lande, sondern im Nichts. Man transportiert sich sozusagen in eine generelle Nichtexistenz, die natürlich die eigene Nichtexistenz mit einschließt. Was mit nichtexistenten Mitreisenden geschieht, wenn sie im Nichts landen, kann ebenfalls niemand zuverlässig sagen. Weiß der Himmel, ob sich vielleicht minus mal minus zur positiven Existenz wandelt oder ob andere paradoxe Umstände eintreten.

Eines aber ist sicher, auch wenn man schon immer und für immer existierte, man materialisiert sich nur in einer eingeschränkten Lebensphase namens Gegenwart für ein paar vom Schicksal vorgesehene Lebensjahrzehnte. Vor dieser Zeitspanne existiert man lediglich als Möglichkeit, danach allenfalls als Erinnerung.

Es sei mir in diesem Zusammenhang schon gestattet, zu fragen, ob nun unsere paar realen Lebensjahrzehnte in der Gegenwart der wirklich wichtige Teil ist, der uns ausmacht, oder ist ob es eher unsere vergangene, möglicherweise vergeigte Möglichkeit, oder gar die zukünftige Erinnerung an uns in den Köpfen anderer, also das, was wir in der Welt verändert oder hoffentlich sogar verbessert haben? Bei Bach, Mozart, Monet oder Michelangelo könnte letzteres durchaus der Fall sein, wie aber ist es mit uns?

Ich höre Sie angesichts aller dieser Fragen bereits unterdrückt stöhnen. Sollte jedoch eine oder einer von Ihnen bis zum nächsten Mal eine Möglichkeit finden, wie man alle diese Probleme umgehen kann, dann werde ich mit Ihnen gemeinsam beim nächsten Mal gerne auf diese Lösung eingehen. Vielleicht ergibt sich ja sogar die Möglichkeit für eine Gruppenexkursion mit Ihnen und mir in eine andere Zeit. Es wäre dann nur noch die Kapazität unserer Zeitmaschine entsprechend zu berechnen. Wie viel Raum benötigt die Unendlichkeit?

Aber selbst dann könnte zu guter Letzt noch ein Problem auftauchen. Wenn beispielsweise nicht nur ein einziges Leben, sondern eine Reinkarnation von Leben zu Leben möglich wäre, könnte es geschehen, dass wir bei einer Zeitreise auf einem Platz landen, auf dem jetzt dieser Hörsaal steht, und es könnte sich gerade eine riesige Menschenmenge auf diesem Platz versammelt haben. Ich wäre in meinem letzten Leben vielleicht eine Kakerlake gewesen (ein schon lange von mir gehegter Wunsch) und würde auf diesem Platz unter einer Schuhsohle mein Leben beenden, bevor ich die Chance gehabt hätte, mich für eine Wiedergeburt vorzubereiten. Dann wären zu allem Überfluss Sie übrigens nie in den Genuss dieses Vortrags gekommen.

Zeitreisen sind und bleiben also wohl eine Illusion. Ich vermute, dass die im Vorangehenden aufgeworfenen Fragen Sie aber durchaus mental bis zum nächsten Mal beschäftigen könnten.

In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.




© Peter Heinrichs


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Kommentare zu "Über einige grundsätzliche Probleme bei Zeitreisen (Episode 20)"

Re: Über einige grundsätzliche Probleme bei Zeitreisen (Episode 20)

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 09.03.2020 17:51 Uhr

Kommentar: Lieber Peter,
ich habe deine Geschichte mit großem Interesse gelesen. Viele dieser Fragen habe ich mir auch schon mal gestellt. Antworten hatte ich viel weniger als du. Einige Science Fiction Autoren haben sich diese Gedanken bestimmt auch gemacht, sonst gäbe es so wunderbare Filme wie "Interstellar" von Christopher Nolan nicht.
Liebe Grüße Wolfgang

Re: Über einige grundsätzliche Probleme bei Zeitreisen (Episode 20)

Autor: possum   Datum: 09.03.2020 23:04 Uhr

Kommentar: Gerne gelesen,
Danke und lieben Gruß!

Re: Über einige grundsätzliche Probleme bei Zeitreisen (Episode 20)

Autor: Verdichter   Datum: 10.03.2020 15:06 Uhr

Kommentar: Du hast mir viel zum Denken hinterlassen. Sehr interessante Gedanken.

Gruß, Verdichter

Re: Über einige grundsätzliche Probleme bei Zeitreisen (Episode 20)

Autor: mychrissie   Datum: 10.03.2020 21:22 Uhr

Kommentar: Nach den Kommentaren von Wolfgang Sonntag, possum und Verdichter, für die ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte, habe ich den ganzen albernen Text (er wird in meiner Geschichtensammlung ja von einem durchgeknallten "Professor Anatol Schwurbelzwirn" vorgetragen) noch mal überarbeitet.

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