Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Quer- und Diagonaldenkens,

es gehört heute zum sogenannten Bildungskanon, keine grammatikalischen Fehler zuzulassen. Zwar wird in den Nachrichten und anderen offiziellen Verlautbarungen selbst von gebildeten Menschen der Genitiv oft durch einen falsch verwendeten Dativ ersetzt, ja über dieses Thema sind sogar schon Bücher verfasst worden, aber darüber möchte ich heute nicht sprechen.

Ich möchte Ihnen im Gegenteil von einer Begebenheit berichten, die sich in meinem nächsten Bekanntenkreis abgespielt hat, und die beweist, dass es möglicherweise zuweilen Sinn machen kann, die Regeln der Grammatik sogar auf gröbste Weise zu missachten.

Die Familie eines Freundes von mir hat eine kleinen Tochter, Paula mit Namen, die leider auf Grund einer seltenen Augenkrankheit im Alter von 8 Jahren erblindete. Daraufhin erwarb man den Blindenhund Max, der nach kurzer Zeit zum besten Freund des kleinen Mädchens wurde. Die Liebe war gegenseitig, das Mädchen konnte nicht ohne den Hund sein, der Hund wollte niemals auf die Gegenwart des Mädchens verzichten. Ergänzend, und für diese Geschichte nicht unerheblich, muss angemerkt werden, dass der Blindenhund Max zusätzlich auch ein blinder Hund war, da auch er an einer schweren Augenkrankheit litt.

Eines Tages hörte das Kind den Vater rufen: „Wo ist eigentlich der blinde Hund, schau doch mal bei Paula, dort ist der Blindenhund doch am liebsten!“

Paula dachte nach und ihr wurde klar, dass ein „Blindenhund“ nur im Nominativ kein „Blindenhund“ war, sondern ein „blinder Hund“. Nur wenn Max als Nominativ in Sätzen auftauchte, wurde augenblicklich klar, dass auch er blind war. Sie vermutete, dass die Bloßlegung dieses Defizites ihn verletzen und möglicherweise sogar seine Eignung als Blindenhund in Frage stellen könnte, obwohl er diese durch einen exzellenten Geruchssinn mehr als vollständig kompensierte. Deshalb ordnete Paula – von den Erwachsenen gutmütig belächelt – mit kindlicher Herrscherinnengeste an, den Begriff „Blindenhund“ für ihren Max niemals im ersten Fall zu gebrauchen, sondern nur in einem der übrigen drei. Denn nur dann war nicht auf Anhieb zu hören, dass der Blindenhund zugleich auch noch ein blinder Hund war.

Ab da konnte man im Hause meines Freundes, wenn es um Max ging, nur noch Sätze wie „Wo ist eigentlich den blinden Hund?“ Oder „Hat dem blinden Hund schon sein Fressen?“ So sorgte man dafür, dass der Blindenhund Max nicht durch die unmittelbare Offenlegung seiner Erblindung gekränkt wurde.

Einen Grammatikprofessor unseres Lehrkörpers, der einmal bei dieser Familie als Gast zum Essen eingeladen war, ereilte ein Herzinfarkt, nachdem er mehrere infolge dieser Familienangewohnheit wagehalsigen grammatikalischen Formulierungen hatte vernehmen müssen. Denn, wie gesagt, der Nominativ wurde ja immer durch einen der anderen Fälle substituiert, zu welcher grammatikalischen Absurdität dies auch führen mochte.

Ich überlasse es ihnen, ob Sie solche ungewöhnlichen Änderungen einer Wortflexion in Ausnahmefällen wie diesem eine Berechtigung einräumen würden, oder umständlichen Umschreibungen den Vorzug gäben.

Was ist also wichtiger? Richtigkeit oder Großzügigkeit? Grammatikalische Präzision oder Vermeidung seelischer Verletzungen? Denken Sie einmal darüber nach, wenn Sie in die nächste Diskussion eintreten, und Ihrem Gesprächspartner ein grammatikalischer Fehler herausrutscht. Ihnen – das weiß ich genau – würde das ja niemals passieren.

Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit.




© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Über die Nützlichkeit falscher Grammatik in Einzelfällen"

Skurriler Unsinn. Muss auch sein!

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Kommentare zu "Über die Nützlichkeit falscher Grammatik in Einzelfällen"

Re: Über die Nützlichkeit falscher Grammatik in Einzelfällen

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 19.02.2020 13:41 Uhr

Kommentar: Lieber Peter,
über skurrilen Unsinn hätte ich nicht so geschmunzelt.
Liebe Grüße Wolfgang

Re: Über die Nützlichkeit falscher Grammatik in Einzelfällen

Autor: mychrissie   Datum: 19.02.2020 14:04 Uhr

Kommentar: Lieber Wolfgang,

dieser Beitrag ist einer der gegen den Strich gebürsteten "Vorträge" des Professors Dr. Anatol Schwurbelzwirn, in denen auch noch andere absurde Gedankengänge auf die Welt losgelassen werden.

Er ist mittlerweile bei Nr. 19 angelangt. Wie seine Stundenten diesen teils absonderlichen Unsinn aushalten, ist nicht zuverlässig zu ermitteln. :-)

Gruß und Danke für die Lektüre, Peter

Re: Über die Nützlichkeit falscher Grammatik in Einzelfällen

Autor: Verdichter   Datum: 19.02.2020 14:34 Uhr

Kommentar: Lieber Peter,
das ist eine ganz wunderbare Geschichte und ich brauche mich auch gar nicht zu entscheiden:
Was soll mich die Grammatik scheren?
Nur Liebe kann ein Herz belehren!

Gruß, Verdichter

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