Wanderst du noch oder pilgerst du schon?

„Des Wandern ist des Müller’s Lust“ lautet schon ein altes, weises Sprichwort. Und diesen Worten wird seit einiger Zeit wieder „neuer Spirit“ eingehaucht, wenn man so möchte. Man kennt das ja auch aus anderen Bereichen: Schäbige Möbel werden mit einem frischen Farbtupfer aufgewertet bzw. Neues bewusst in einen Retro-Look versetzt. Und mit dem „Lustwandeln in freier Natur“ ist das wohl auch geschehen. In früherer Zeit gab’s nämlich noch gar keine richtige Bezeichnung fürs Spazieren oder diese spezielle Form des Wanderns.
Und nachdem man in der Natur kaum daran vorbeikommt, sich auch irgendwann mit dem Ursprung des Ganzen auseinanderzusetzen, schien es naheliegend zu sein, dem alltäglichen Gang durchs Dorf mehr Tiefe zu verleihen. Und
geboren war die Idee des Pilgerns!
Und man möchte gar nicht meinen, welchen Zustrom diese Bewegung mittlerweile gefunden hat.
Es scheint, die Hippiezeit hat kaum mehr Andrang gefunden als diese neuzeitliche Pseudospiritualität in Wald und Flur.
Das Gute daran: Man braucht im Grunde keine kostspielige Erstausstattung wie man das von anderen Sportarten kennt, die einen schon mal etwas tiefer in die Tasche greifen lassen.
Und so findet man sich zwischen In-sich-gekehrten-Aussteigern, die in „diese Szene“ mittels Gutscheines hineingezwungen wurden (was soll man auch immer Neues schenken? Es soll außergewöhnlich sein, guttun und nicht direkt mit Geld zu tun haben, das wirkt so unpersönlich) gemeinsam mit festverwurzelten Bekennern desselben wieder.
Die Kunst besteht im Grunde wohl darin, seinen Weg zu finden zwischen dem, was wirklich zählt und … naja und dem Rest eben, mit dem wir zugegebenermaßen wohl 90 % unseres Lebens verbringen.
Aber ich glaube, dass das gar nicht so einfach ist den Kopf umzupolen. Gerade noch im hektischen Alltag verwurzelt, steht man plötzlich mit Gleichgesinnten auf einer Waldlichtung und ist auf der Suche nach der inneren Mitte. Aber was, wenn man verzweifelt sucht und nichts findet? Am besten, man verhält sich eher bedeckt. So nach dem Motto: besser nach außen hin einen gewissen Anschein der Erleuchtung ausstrahlen. Auf diesen holprigen Pfaden über Stock und Stein werden ohnehin keine Fragen gestellt. Und so wird die rötliche Gesichtsfärbung auch nicht als Unsicherheit und Erschöpfung gewertet, sondern als Loslassen und Zeichen des Angekommen Seins. Und das ist ja auch das Gute am Ende der Tagereise bekommt jeder seinen Stempel in den Pilgerpass und alle sind selig. Wie früher in der Volksschule, wo es für fehlerfreies Schreiben einen bunten Sticker gab. Da sieht man eigentlich mit wie wenig der Mensch glücklich zu sein scheint. Es reicht, wenn es ein paar berühmte Vorreiter gibt, die das Ganze in die richtige Richtung pushen, ein paar bunte Beschilderungen aufstellen und in der Gegend promoten (die müssen schließlich wissen, wovon sie sprechen). Der Rest ist ein Selbstläufer. Der Mensch ist im Grunde ein Herdentier, das sich gern in sicherer Gemeinschaft wiegt. Die eigentliche Handlung wird dann tatsächlich zur Nebensächlichkeit. In diesem Fall mit nicht mehr als einem bescheidenen Adamskostüm bestückt, einer Kopfbedeckung damit der Strom nach oben nicht durch plötzliche Hitzeeinwirkung gestoppt oder gedopt wird, einem massiven Stock (und sei es nur zum Vertreiben von lästigen Insekten oder wild gewordenen Rindviechern, die das gar nicht verstehen wollen, wenn so viele Leute über ihr Futter wandern) und halbwegs gutem Schuhwerk unterwegs in die nächste Unterkunft. Am Ende der Reise wäre es wünschenswert, sich einer Metamorphose unterzogen zu haben. Das Ganze soll ja weiterleben auch neue Anhänger bekommen. Und das funktioniert ja nur durch positive Rückmeldung. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wäre es gut, ein paar sorgfältig gewählte Worte von sich zu geben: „Boah bin ich froh, endlich wieder unter normalen Leuten zu sein“ bzw. „Wo geht‘s hier zum nächsten Wirtshaus, wo es wieder was Anständiges zu beißen gibt“, sollte man sich wohl eher verkneifen. Da würde sich die gute Hildegard von Bingen noch im Grab umdrehen, wenn man ihren Kräutertees nicht die innere Reinigung beimessen würde, die ihnen nachgesagt werden. Und die Toten soll man ja bekanntlich ruhen lassen. In diesem Sinne wünsche ich viel Erfolg auf euren Pilgerpfaden!


© Nelly


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