Clothilde war ein bildhübsches Kind. Sie bot einen reizenden Anblick, wenn sie am Ast eines Apfelbaumes auf ihrer Schaukel jauchzend hin und her schwang und bei jedem Schaukelschwung Blüten auf ihr Haar regneten. Clothilde träumte von einem Prinzen, der eines Tages geritten kommen, sie auf sein weißes Pferd heben und in sein herrliches Reich entführen würde. In ein Reich, in dem alle Dächer mit Goldschindeln bedeckt waren und die Türknäufe aus Saphiren und Rubinen bestanden.

„Der Prinz wird kommen, ich weiß es, er wird kommen“, sagte sie und alle Erwachsenen lächelten entzückt über diesen rührend naiven Kindestraum.

In der Schule schwärmten die Buben für die süße Clothilde, sie aber hielt sich von den rotznäsigen Bengeln fern, denn sie wartete ja auf ihn. Auf ihren Prinzen. Sie war überzeugt, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er auf seinem Schimmel geritten kam. „Ich warte auf meinen Prinzen, er wird kommen!“ rief sie den Jungen entgegen, was ihr bald den Spitznamen „Prinzenbraut“ einbrachte.

Clothilde wurde älter. Aus dem niedlichen Kind wurde bald ein wunderschönes erblühendes Mädchen, das alle Blicke auf sich zog. Natürlich vor allem die der jungen Burschen. Doch jeden Versuch, sich mit ihr zu verabreden, wies sie freundlich aber bestimmt zurück. „Ihr seid ja keine Prinzen“, meinte sie, „aber auf den warte ich, und er wird bestimmt kommen“.

Als die Schulzeit vorüber war, ging Clothilde auf die Universität und studierte Kunstgeschichte, ein Fach, das ideal dazu geeignet ist, sich die Zeit zu vertreiben, wenn man sie nicht verändern will, sondern wenn man nur auf jemanden wartet.

Clothilde war schön, aber in ihrem Gesichtsausdruck schlich sich eine Spur von Hochmut ein, der ihre Schönheit trübte wie ein Tropfen Tinte, der in ein Glas klaren Wassers fällt. Doch das schmälerte ihre Wirkung auf die Männer nicht, die sie umgaben. Studenten und Professoren schwärmten für sie, und es wurde sogar gemunkelt, dass man einen jungen Dozenten dabei beobachtet habe, wie er unter ihrem Fenster ein selbstverfasstes Liebeslied zu ihr hinaufgesungen hätte. Sie habe dem ungeduldigen jungen Mann, so erzählte man, vom Balkon herab zugerufen: „Ich will keinen Sänger, wenn ich einen Prinzen haben kann. Und der wird kommen!“

Nach Abschluss ihrer Studien wusste sie nicht so recht, was sie sich mit sich anfangen sollte, doch sie hatte eine hübsche Summe geerbt, kaufte sich ein Häuschen, richtete es mit zierlichen Möbeln ein und wartete im Halbschatten ihrer zugezogenen Gardinen auf den Prinzen.

Eines Tages kam ein erfolgreicher, sehr liebenswerter Unternehmer zu ihr und hielt höflich und mit gebotener Zurückhaltung um ihre Hand an. Alle Verwandten bestürmten sie, ihm ihr Ja-Wort zu geben, doch sie sagte nur: „Mein Prinz wird kommen, ihr werdet es alle erleben. Er wird kommen!“

In Clothildes Gesicht schlichen sich die ersten Falten. Sie glich einer Frucht, die zwar noch in voller Reife stand, jedoch bereits Zeichen der Überreife aufwies. Noch immer bekam sie Anträge, doch alle wies sie mit dem Hinweis auf den Prinzen ab, der mit Sicherheit kommen würde.

Clothilde wurde immer seltsamer, sie füllte ihre Tage mit sinnlosen Tätigkeiten, dem Besticken von Bezügen für Kissen, auf die wahrscheinlich nie jemand seinen Kopf betten würde. Sogar Handschuhe und Wollstrümpfe für mittellose Eskimokinder sah man sie stricken.

Zuweilen kam noch immer mal wieder irgendein reiferer Mann vorbei, oft mit Bauch und Glatze, der sich ein Leben mit ihr vorstellen konnte. Aber die Anzahl solcher Ereignisse wurde zunehmend kleiner.

Auch Clothilde schrumpfte immer mehr zusammen, versäumte es aber an keinem Tag, einen Blick aus dem Fenster zu tun, um den Augenblick nicht zu verpassen, in dem der Prinz vor ihrem Haus vom Pferd stieg und die Gartenpforte aufstieß. Clothilde wurde gebrechlich, sie kam jetzt schon ins siebzigste Lebensjahr und benötigte einen Gehstock, um nicht zu straucheln. Ihre feste Überzeugung, dass der Prinz kommen würde, gab sie jedoch niemals auf. Schließlich wurde sie eine schrullige Jungfer, über die sich alle hinter ihrem Rücken lustig machten. Doch jedem, auch denen, die es schon nicht mehr hören konnten, rief sie mit fester Stimme zu: „Der Prinz – er wird kommen!“

Mit achtzig Jahren wurde Clothilde krank. Sie hatte es auf der Brust und das Atmen fiel ihr immer schwerer. Sie wurde bettlägerig, und jeder der an ihr Krankenbett trat, beschwor sie, ihren unsinnigen Traum vom Prinzen endlich aufzugeben. Doch ihre Antwort war wie stets: „Er wird kommen!“ Clothilde ging es immer schlechter und so kam der Tag, an dem der Tod leise aber bestimmt an ihre Tür pochte.

Jetzt stürmten alle auf sie ein und flehten, bevor sie für immer entschliefe, doch zuzugeben, dass sie sich geirrt habe. „Glaub uns doch!“ riefen sie, „er wird nicht kommen. Niemals wird er kommen!“

Da tat sie einen letzten Atemzug und man hörte, wie es mit einem fast glücklichen Röcheln aus ihrem Munde drang: „Aber er w ä r e gekommen!“


© Peter Heinrichs


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Kommentare zu "Clothildes Traum"

Re: Clothildes Traum

Autor: Verdichter   Datum: 14.03.2019 19:15 Uhr

Kommentar: Man neigt ja dazu den Kopf zu schütteln, ob der Unvernunft, aber Clothilde war ja nicht unglücklich mit der langen Wartezeit, sie hat nur konsequent die Möglichkeit offen gelassen, von der alle Frauen träumen. Also: nette Geschichte.
Gruß, Verdichter

Re: Clothildes Traum

Autor: mychrissie   Datum: 15.03.2019 11:34 Uhr

Kommentar: Eigentlich soll diese Geschichte nur eine scherzhafte, ironische Darstellung des Starrsinns sein, mit dem sich mancher den realistischen Einsichten des Lebens widersetzt und diesen Starrsinn bis zur letzten Lebenssekunde nicht ablegen kann.

Ursprung dieser Idee ist die häufige sinnlose Benutzung des Konjunktivs, die mich bei der Lektüre eines Curt Goetz Theaterstücks ("Ingeborg") belustigt hat. Dort sprach ein Diener immer nur im Konjunktiv (er wurde deshalb auch "Herr Konjunktiv" genannt). Er sagte zum Beispiel "Das Essen w ä r e fertig" oder "Da w ä r e ein Herr für Sie an der Tür"

Re: Clothildes Traum

Autor: Ella Sander   Datum: 15.03.2019 18:59 Uhr

Kommentar: Tolle Geschichte, lieber Peter!
Erinnert mich ein wenig an Margot Honecker, die bis zum Schluss nicht einsehen wollte, dass der reale Sozialismus gescheitert war, wie ihr Enkel es in einer Reportage mitteilte.

Liebe Grüße
Ella

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