„Also, Frau Neumann, das sind ja eine ganze Reihe von Verkehrsdelikten, die Ihnen hier zur Last gelegt werden.“ Der Richter Weise sah Helga streng an. Diese zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.

„Wir gehen die einzelnen Anschuldigungen mal der Reihe nach durch“, fuhr der Robenträger fort. „Am 4. März, gegen 11.15 Uhr, kollidierten Sie beim Ausparken aus einer Parklücke auf dem Supermarktparkplatz an der Borsigstraße in Dortmund-Mitte mit einem Einkaufswagen. Wie konnte das passieren? Haben Sie denn den Zeugen Schmidt, der seinen Einkaufswagen hinter Ihrem Auto herschob, nicht gesehen?“

„Ja, doch, gesehen habe ich ihn schon. Als ich zurücksetzte dachte ich nur, er sei schon lange weg. Konnte ja nicht ahnen, dass der so langsam geht, wie eine Schnecke kriecht“, versuchte Helga sich zu rechtfertigen.

Richter Weise blätterte in seiner Akte. „Am Mittwoch, dem 5. März - also einen Tag später -, befuhren Sie eine Einbahnstraße, und zwar die Nelkenstraße in Dortmund-Hörde, in falscher Fahrtrichtung.“

„Aber, das war doch nur ein kleines Stück“, verteidigte sich Helga. „Dass mir ausgerechnet in dem Moment eine Polizeistreife entgegenkommt, war reines Pech.“

„Den Polizeibeamten Müller haben Sie dann auch noch als „Erbsenzähler“ tituliert“, entnahm der Jurist dem Protokoll.

„Das ist mir so rausgerutscht“, erwiderte die Beschuldigte kleinlaut.

Richter Weise räusperte sich. „So, so. Aber es geht ja noch weiter: Ich habe hier auch noch ein hübsches Fotos von Ihnen…“

„Ach, Herr Richter, hübsch?“, fiel Helga ihm ins Wort, wobei sie leicht errötete. „Wissen Sie, ich bin doch keine sechzig mehr…“

Der Staatsdiener verbiss sich dazu einen Kommentar und fuhr fort. „Am 6. März, also dem darauffolgenden Tag, wurden Sie auf dem Hellweg in Dortmund-Brackel bei Tempo 90 km/h geblitzt. Innerhalb geschlossener Ortschaften gilt, wie Sie sicherlich wissen…“

„…nur fünfzig“, ergänzte Helga den Satz. „Aber ich hatte doch freie Bahn, und außerdem war ich etwas in Eile; musste um zehn Uhr beim Friseur sein. Die Zeugen Jehovas hatten bei mir angeschellt. Die musste ich erst abwimmeln und war deshalb so spät dran.“

„Also waren Jehovers Zeugen schuld“, bemerkte der Staatsdiener ironisch.

„Äh, in gewisser Weise schon.“

Richter Weise atmete tief durch. „Der nächste Vorfall ereignete sich ebenfalls am 6. März. Da sind Sie in Dortmund-Aplerbeck bei Rotlicht über die Ampel an der Kreuzung Schüruferstraße/Wittbräucker Straße gefahren, wobei es zu einem Zusammenstoß mit dem Fahrzeug des Zeugen Schumacher kam. Was haben Sie nun dazu zu sagen, Frau Neumann?“

„Da war ich einfach abgelenkt“, antwortete diese. „Mein Handy hat geklingelt.“ Zur Veranschaulichung holte Helga ihr Smartphone direkt aus der Tasche und wies darauf hin, dass sie es neu habe und es gar nicht so einfach zu bedienen sei.

„Bitte bleiben Sie sachlich, Frau Neumann“, forderte der Richter sie auf.

„Jedenfalls war die Rita dran. Die Rita Hoffmann, meine beste Freundin. Wir sind früher schon zusammen zur Schule gegangen. Ach, die Rita tut mir so furchtbar leid. Was die mit ihrem Emil durchmachen muss, und das schon all die Jahre… Nichts kann sie ihm recht machen, immer hat er was zu nörgeln. Einmal ist angeblich das Essen versalzen…“, Rita unterbrach ihre Ausführungen, weil ihr einfiel, dass sie wieder vom Thema abschweifte. „Kurzum: Mein neues Handy hat geklingelt, und ich musste erst mal in meiner Tasche danach suchen und dann natürlich rangehen. Deshalb habe ich die rote Ampel übersehen. Da bin also gar nicht ICH Schuld dran, sondern die Rita.“

Richter Weise stieß einen Seufzer aus. „Dass Sie während der Fahrt auch noch telefoniert haben, lassen wir jetzt einfach mal außen vor. Ich bekenne Sie in allen Punkten für schuldig, was heißt, dass Sie Ihren Führerschein für sehr lange Zeit abgeben müssen.“ Er machte eine Pause, da er mit einem Protest der Angeschuldigte gerechnet hatte, der aber ausblieb.
„Was sich mir nur nicht so wirklich erschließt“ , fuhr der Robenträger fort, „ist die Frage, wie es sein kann, dass Sie sich offenbar jahrzehntelang im Straßenverkehr nichts haben zu Schulden kommen lassen…“

„Ich fahre schon 55 Jahre unfallfrei!“, unterbrach Helga ihn.

„Ja, und plötzlich fahren Sie drauflos wie ein Berserker? Warum denn nur?“

Verlegen schaute Helga auf ihre Fingernägel. „Da hatte ich wohl ˋne Pechsträhne.“

„Na ja, wie dem auch sei, ich gebe Ihnen den Tipp, sich ein Seniorenticket zu abonnieren“, riet der Richter. „Sie scheinen ja recht viel unterwegs zu sein, da lohnt sich das sicher für Sie.“

Helga grinste. „Das habe ich nicht nötig“, erwiderte sie und schaute zu der jungen Frau, die auf der Zuschauerbank saß. „Meine Enkelin Mandy hat gesagt, wenn ich ihr den Führerschein finanziere, dann fährt sie mich, wohin ich will, wenn ich einmal selbst nicht mehr Auto fahren kann.“

Mandy schien fassungslos „Aber, Oma, ich meinte, wenn Du irgendwann (!) mal nicht mehr…, also wenn du richtig alt bist und…“

„Manches kommt eben schneller, als man denkt“, unterbrach Helga die junge Frau und blinzelte dem Richter verschwörerisch zu. „Na, und ich habe Mandy ja auch noch ein hübsches, kleines Auto gekauft, gell, mein Engel?“

„Na, dann ist der Führerscheinentzug ja wohl gar kein großer Verlust für Sie“, bemerkte der Staatsdiener.

„Nicht wirklich“, entgegnete Helga. Dann wendete sie sich ihrer Enkelin zu. „So, Mandylein, ich schlage vor, wir fahren jetzt erst mal zum Friedhof und bepflanzen Opas Grab neu, und gleich anschließend ins Seniorenzentrum, da ist nämlich heute Bingonachmittag. Wir zwei Hübschen machen uns einen schönen Tag.“

Richter Weise grinste und vermerkte in der Akte: Lebenslängliches Fahrverbot wegen Wiederholungsgefahr (gemäß § 69a Abs. 1, Satz 2 StGB).


© Anja Pompowski


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Einer alten Dame wird die Fahrerlaubnis entzogen.

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