Eduard war mir während meiner ganzen Jugend immer ein lieber Freund gewesen. In frühen Jünglingsjahren durch den Fortzug seiner Familie getrennt, hatten wir uns während der Universitätsjahre an weit voneinander entfernten Hochschulen aus den Augen verloren. Doch dieser Tage führte uns ein Zufall in meiner jetzigen Heimatstadt wieder zusammen.

Eduard, zu Besuch in unserer Stadt, kündigte sich telefonisch an, und ich beschloss, ihn mit einer Erdbeerbowle zu begrüßen, einem Getränk, das wohl jedermann während der heißen Jahreszeit als besonders erfrischend willkommen heißt.
Mein Freund Eduard kam und trank, und als wir bei letzten Glas angelangt waren, gestand ich ihm, dass ich die Erdbeeren zu unserem köstlichen Trunk gestohlen hatte. „Es waren riesige Erdbeerfelder”, sagte ich, „kein Mensch wird das Fehlen dieser paar Früchte bemerken”.

„Bist du da so sicher?” Eduards Gesichtsausdruck wurde bedenklich. „Vielleicht sind die Hintergründe dieses Diebstahls ganz anders als du denkst. Bestimmt sogar ist das so. Ich werde dir die wahre Geschichte dieser Erdbeeren erzählen”. Er lehnte sich zurück und begann zu sprechen, nicht ohne vorher einen großen Schluck genommen zu haben.

„Es war einmal ein Bauer, der hatte zwölf Kinder und eine liebreizende aber schwerkranke Frau. Eines Tages geriet er in einen Wirbelsturm, der ihm ein Bein und einen Arm wegriss. Er konnte nun den Pflug nicht mehr richtig halten, und bei der Feldarbeit fiel er wegen des fehlenden Beines immer wieder zur Seite um. Sein Arbeitspensum sank rapide, und nach kurzer Zeit war die Familie vollkommen verarmt. Sieben der zwölf Kinder wurden vom Hunger dahingerafft, und auch die Frau wurde schwächer und schwächer. Schließlich konnte sie sich nur noch kriechend über den rauen, splittrigen Holzfußboden zur Wiege schleppen, in der das kleinste Kind das Mäulchen spitzte und nach ihrer versiegenden Muttermilch wimmerte.

Der Bauer konnte ihr Leid schließlich nicht mehr mitansehen und hüpfte auf seinem einen Bein in die Stadt, wo er bei den Ärzten um eine Gratisbehandlung seiner Frau bettelte – und wohl hier und dort auch in eine Mülltonne spähte, um etwas Essbares zu finden, selbst wenn es bereits verdorben war. Aber die Ärzte ließen ihn von ihren Dienern in die Gosse werfen, und die Reichen befahlen ihren Lakaien, die Abfalltonnen abzuschließen.

Schließlich kam der Bauer auf seinem Leidensweg zu einem Arzt, der eigentlich ein rechter Quacksalber war. Drei Tage lag er weinend vor der Tür des Doktors, bis dieser sich – wohl eher, um den Jammernden endlich los zu werden – zu einer Gratisbehandlung bereit fand. Laufen wollte der fettleibige Doktor freilich nicht, und einen Wagen konnte der Bauer nicht bezahlen. So trug der Einbeinige den Arzt auf den Schultern zu seiner siebenundzwanzig Kilometer von der Stadt entfernten Hütte. Er trug schwer an dem dicken Mann, der auch im Sommer immer seinen Pelzmantel anbehielt, was ein zusätzliches Gewicht von 13,7 Kilogramm ausmachte.

Der Doktor untersuchte die unstet umherkriechende Frau, die bereits auch noch zu erblinden begann. Er stellte fest, dass sie schon wieder schwanger war und außerdem an einer seltenen, fast immer tödlich endenden Krankheit litt, deren lateinischen Namen der ungebildete Bauer nicht verstehen konnte. Eine einzige Substanz nur, so meinte der Doktor, könne diese Krankheit wenn nicht heilen so doch zumindest verzögern, eine Substanz, die sich in geringen Mengen im Fruchtfleisch der Erdbeere – und nur dort – findet.

Der Bauer trug den Doktor in die Stadt zurück und kaufte von seinen letzten kärglichen Ersparnissen ein Fleckchen Land, das genau siebzig mal siebzig Zentimeter maß. Es war eben das Feldstück, von dem du gestern die Erdbeeren gestohlen hast”.

Ich versuchte vergeblich, den Kloß herunterzuschlucken, der sich während Eduards Erzählung in meinem Hals gebildet hatte, und salzige Tränen traten in meine Augen.

„Es geht noch weiter”, sagte Eduard, „dies war der Tag, an dem der Bauer seine wenigen Erdbeeren ernten wollte, um aus ihrem Mus den für seine Frau so wichtigen Extrakt zu gewinnen. Diese konnte inzwischen nur noch liegen, weil eine Auflösung ihrer Gelenke als weiteres Symptom der Krankheit dazugekommen war. Und ihr Leibesumfang, der in groteskem Gegensatz zu ihren hungerdürren Gliedern stand, legte die Vermutung nahe, dass sie mindestens Drillinge erwartete. Dennoch lächelte sie ihrem Manne zu, dem es schier das Herz zerriss, und scherzte tapfer, dass aller guten Dinge schließlich drei seien.

Schon morgens in aller Frühe sprang der Bauer aus dem Bett, nachdem die ganze Familie in fiebriger Erwartung der bevorstehenden Ernte kein Auge zugetan hatte. Die Frau schleppte sich trotz unsäglicher Schmerzen aus dem Bett und streifte ein schlichtes, blaugeblümtes Kattunkleid über, um ihren lieben Mann zu erfreuen. Zugleich lachend und schluchzend winkte die kleine Familie dem scheidenden Manne nach, und lange noch konnte man hinter der Wegbiegung in regelmäßigen Abständen den Kopf des Davonhüpfenden über die Hügel emporschnellen sehen.

Unterwegs begegnete der Bauer dem Briefträger. „Wohin des Weges, Bauer?” fragte dieser. „Ich eile, die Erdbeeren zu ernten für meine Familie”, antwortete der Bauer frohen Mutes und sprang weiter.

Er begegnete dem Polizisten. „Nun?”, fragte dieser, „schon so früh auf dem Bein?” „Zu den Erdbeeren, zu den Erdbeeren!” jubelte der Bauer, „heute werde ich die Ernte einbringen, um meine liebe Frau zu schützen vor dem Voranschreiten ihrer heimtückischen Krankheit und den Kindern ein süßes Müslein zu bereiten”.

Zuletzt kam der Großgrundbesitzer des Weges. „Die Erdbeeren sind reif”, sagte er, „ich habe gestern dreitausend Tonnen geerntet und günstig verkauft, willst du auch dein Äckerlein abernten, Bauer?” „Ja, das will ich”, antwortete der Bauer, „könnt Ihr mir wohl einen Korb leihen, in den ich die Früchte legen kann?” „Und wovon willst du die Miete für den Korb bezahlen?” fragte der Großgrundbesitzer misstrauisch. „Ich werde einen Teil meiner Ernte verkaufen”, sagte der Bauer frohen Mutes. Da lieh ihm der Großgrundbesitzer seinen schäbigsten, kleinsten Korb.

Der Bauer sprang weiter und empfand tiefe Freude, denn von Ferne sah er bereits den knorrigen Eichenbaum, in dessen Schatten sein Äckerlein lag. Er kam näher. Schließlich stellte er den Korb ab, um mit dem Einsammeln der Früchte zu beginnen. Doch er fand keine. Verzweifelt wendete er jedes einzelne Blättchen um, doch die Erdbeeren waren fort. Nur eine einzige halbfaule Beere fand er abgerissen neben seinem Ackerstück liegen. Die hatte”, Eduard sah mich missbilligend an, „der dreiste Dieb wohl weggeworfen, weil sie ihm nicht schön genug erschien”.

Ich war fast blind von Tränen.

„Wir sind noch nicht zu Ende”, sagte Eduard streng, „der Bauer setzte sich auf einen harten Stein und begann lautlos zu schluchzen. Die salzigen Tränen liefen über sein gutes, faltiges Gesicht und tropften auf die abgearbeitete Hand des ihm verbliebenen Armes. Da kam ein Krämer des Weges. Der Bauer gab ihm den geliehenen Korb und tauschte dafür einen Strick, ein Stückchen Kohle und einen Fetzen Papier ein. Auf das Papier kritzelte er etwas mit der Kohle, dann nahm er den Strick und erhängte sich an einem Ast des Eichenbaumes, der sein kahles Äckerlein beschattete.

Inzwischen warteten die Frau und die Kinder auf seine Rückkehr. Fleißig hatten sie bereits ein paar Tiegelchen gescheuert, in die sie die Ernte legen wollten. Als der Bauer jedoch nicht kam, dachte die Frau, dass er wahrscheinlich schwer zu tragen hätte an der Fülle seines Ernteertrages, und so machte sie sich auf den Weg, dem Bauern entgegen. Trotz ihrer Schwäche und ihrer zerschlissenen Gelenke kroch sie durch den Staub, ihre Kinder in einem groben Jutesack auf dem Rücken mit sich tragend. Auch ließ sie es sich nicht nehmen, unterwegs für den geliebten Mann einen Strauß weißer Feldblumen am Wegesrand zu pflücken, die sie mit den Zähnen ausreißen musste. Nach vielen Stunden des Kriechens erreichte sie schließlich das Erdbeerfeldchen und den Eichenbaum.

Wer beschreibt jedoch ihr Entsetzen, als sie ihren Mann mit hervorquellenden Augen und bläulich angelaufener Zunge leblos in der Baumkrone hängen sah. Fassungslos brach sie zusammen und lag für viele Stunden bewusstlos in der Mittagshitze. Als sie wieder erwachte, zog sie sich mühsam am Stamme des Baumes empor und wand ihrem toten Mann den Fetzen Papier aus der Hand, in welchen eine halbfaule Erdbeere eingewickelt war und auf dem stand:

Verzeih mir, Ich werde Dich immer
lieben, meine kleine tapfere Frau.
Diese eine Frucht nur hat der Erdbeerdieb
zurückgelassen. Sie soll für Dich sein,
Gott schütze Dich!

„Hör auf, Eduard!” schrie ich schluchzend.

Doch mein Gast ließ sich nicht beirren. „In diesem Moment kam der Großgrundbesitzer vorbei. Die Frau schickte sich gerade an, ihrem Mann mit den Händen ein Grab zu kratzen, denn eine Schaufel besaß sie nicht. Ungestüm verlangte er seinen Korb zurück. Als die Frau nicht wußte, von welchem Korb er sprach, trat er sie und die Kinder brutal mit seinen harten Nagelschuhen und ließ sie schließlich allesamt in den Schuldturm werfen, wo sie von den sadistischen Wärtern jeden Morgen der Reihe nach ausgepeitscht wurden. Die Kinder verurteilte ein unmenschlicher Richter schließlich zu lebenslanger Zwangsarbeit in einem Steinbruch. Die Frau musste trotz einer Drillingsfehlgeburt, die sie in der Zwischenzeit gehabt hatte, in der flirrenden Mittagsglut, wenn die Feldarbeiter im Schatten Pause machten und sich mit frischem Landbrot und einem kühlen Schluck Wein erfrischten, mit bloßen Händen Dung zwischen den Erdbeerstauden verteilen.

Das Häuschen des Bauern, das inzwischen halb verfallen war, ließ der Großgrundbesitzer von seinen Dienern anzünden, damit er auf dem Grundstück, das er durch nächtliches Versetzen der Grenzsteine seinem eigenen Besitz zugeschlagen hatte, noch mehr Erdbeeren anpflanzen konnte.

Am selben Tage, zur selben Stunde erlagen die Kinder und die Frau einem qualvollen Erschöpfungstod. Sie waren so dünn geworden, dass alle zusammen in einen Sarg passten. Niemand weiß, wo dieser Sarg verscharrt wurde”.

Ich konnte nicht mehr sprechen. Die Verzweiflung wühlte in meiner Brust und meine Kehle war wie zugeschnürt.

„Willst du mir schwören, nie wieder Erdbeeren zu stehlen?” fragte Eduard.

„Ich schwöre es! Ich schwöre es!”

„Lobenswert”, meinte Eduard freundlich und tätschelte mir die Wange, „ich trinke nämlich lieber mit ehrlichen Freunden".

Er erhob sich, um heimzugehen, denn es war mittlerweile spät geworden. Ich begleitete ihn noch bis vor das Haus. Es war eine warme Sommernacht, und von allen Balkons und Terrassen ertönte Lachen und Gläserklingen. Überall wurde köstliche Erdbeerbowle getrunken.

Ich verabschiedete mich von Eduard und sah ihn im Dunkeln verschwinden. Ich trat auf die Straße hinaus, um vor dem Schlafengehen noch einen Rundgang ums Häuserviertel anzutreten. Und da merkte ich plötzlich, dass die Straßen nicht leer waren. Überall sah man einbeinige, bäuerlich gekleidete Männer hüpfen, straßauf, straßab, es war wie in einem Flohzirkus. Jetzt fielen mir auch die vielen kriechenden Frauen auf, die in umgebundenen Tüchern unterernährte Kinder mit sich schleppten und mit vorgeschobenen Lippen in den Rinnsteinen vergeblich nach Blumen suchten. Meine Haare stellten sich auf und ich eilte ins Haus zurück, um mich schlotternd im Bett zu verkriechen.

Eduard aber – das habe ich mir fest vorgenommen – werde ich nie mehr einladen.




© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Die Erdbeerbowle (eine ziemlich zynische Geschichte)"

Schwarzer Humor à la Great Britain

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