In einem Dorf hinter den großen Wäldern, dort wo die goldenen Felder beginnen und die Landschaft das "gesegnete Land Gottes" genannt wird, lebte der Bauer Hans auf einem kleinen Hof, den ihm sein Vater vererbt hatte. Hans stand in der Frühe mit dem ersten Hahnenschrei auf, versorgte Vieh und Felder und machte aus dem kleinen Anwesen im Verlaufe der Zeit einen ansehnlichen Bauernhof, der nicht nur seinen Besitzer ernährte, sondern diesem im Dorf auch viel Achtung einbrachte.

Hans war ein Mensch ohne Besonderheiten. Er trank nicht über die Maßen, er verprasste sein Geld nicht, er war das, was man einen erfreulichen Zeitgenossen nennen konnte. Jedermann im Dorf achtete ihn und manches Mädchen im heiratsfähigen Alter lugte heimlich und mit versonnenem Lächeln durch die Spalten ihrer Fensterläden, wenn Hans aufrechten Ganges die Dorfstraße hinunter schritt.

Doch was sage ich da? Keine Besonderheiten? Im Gegenteil, Hans hatte doch eine Eigenschaft, die ihn von den anderen unterschied. Und zwar gewaltig. Er nahm alles wörtlich, was man ihm sagte. Oft waren es nur Kleinigkeiten. So begegnete ihm einmal ein Dorfbewohner, der höflich brummte, wie es denn mit seiner werten Gesundheit stehe. Hans fragte sehr ernsthaft zurück, wo die werte Gesundheit denn stehe, er könne sie nirgendwo stehen sehen. Solcherlei verunsicherte die anderen zwar ein wenig, aber es wurde ihm als Marotte nachgesehen. Und die Klügsten im Dorfe sprachen, wenn sie am Stammtisch saßen und behaglich ihre Zigarren schmauchten und ihr Bier tranken: " Es ist wichtig für unser Dorf, dass es das eine oder andere Original bei uns gibt und nicht nur einen Dorftrottel. Worüber sollte man denn sonst des Abends am Stammtisch schwatzen?!"

Hans hätte mit seiner seltsamen Schrulle bis ans Ende seiner Tage unbehelligt leben können, aber wie es so ist, er fand kein Maß, er überschritt mit seiner Eigenart schließlich die erträglichen Grenzen, das heißt, er überforderte ganz einfach die Toleranz der Dorfbewohner.

So trieb er eines Tages, als ihm sein Vater befahl, die Kühe auf die Weide zu führen, das schwarzweiß gescheckte Vieh zwar zur Weide, aber diese Weide war nicht mit Gras bewachsen, denn sie war der Weidenbaum, der sich über den Dorfteich neigte. Sprachlos standen die Dörfler um den ehrwürdigen Baum, in dessen Krone nun die Kühe und Ochsen weideten. Und um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss gesagt werden, dass den Rindviechern die Weidenblätter fast ebenso gut mundeten wie das gewohnte fette Gras auf den Wiesen des Dorfangers.

In dieser Weise ging es weiter. Als zu einem besonderen Tage ein Fest angesagt war, das im Dorfe etwas hochtrabend als "Frühlingsball" bezeichnet wurde, fragten ihn seine Freunde, ob er denn auch auf dem Ball tanzen werde. "Natürlich", meinte Hans. Und als das Fest gekommen war, sahen alle Dörfler aufs Höchste verwundert, wie Hans den ganzen Abend über kunstvoll balancierend auf einem großen Medizinball tanzte.

Ein andermal verkündete Hans im Wirtshaus, wo er zwar in Maßen aber sehr lange in die Nacht hinein mit seinen Freunden gezecht hatte, er wolle jetzt heimgehen, da er morgen mit den Hühnern aufstehen müsse. Bei Sonnenaufgang fanden sie ihn friedvoll im Hühnerhaus schlummernd, der Länge nach auf dem Boden liegend, das Haupt gebettet in zerbrochene Eier und den Kittel von oben bis unten mit Hühnerkot beschmutzt.

Berichtet werden soll auch noch eine andere Geschichte. Hans hatte eine gewisse Zuneigung zu Liese, einem der hübschesten Mädchen im Dorfe gefasst. "Ich glaube, du hast ein Auge auf sie geworfen", sagte Heiner, sein bester Freund. "Bisher noch nicht, aber ich werde es augenblicklich nachholen", meinte Hans. Und nur dass zwei seiner Gesellen ihm energisch in den Arm fielen, konnte verhindern, dass er sich ein Auge herausriss und es auf die schöne Liese schleuderte.

Diese Schelmereien und der Tatbestand, dass sie sich in beängstigendem Maße häuften, mussten unweigerlich dem Königshof und damit auch der Prinzessin Adeline zu Ohren kommen. Adeline war klug, schön und liebenswert zugleich, eine recht seltene Kombination, die, wenn man ihr doch einmal begegnet, einen unweigerlich in ihren Bann schlägt. Die schöne Adeline fand außerordentlich amüsant, was sie über den Bauern Hans erfuhr und beschloss augenblicklich, ihn persönlich kennenzulernen.
Obgleich die verkalkten Hofschranzen dieses Ansinnen als einen groben Verstoß gegen die höfische Etikette bezeichneten, setzte Adeline ihren Willen durch und ließ den Bauern Wort-für-Wort an den Hof kommen. Er wurde von zwei Hellebardenträgern in den Palast geführt, die auf ihn acht gaben, als hätte er vor, das Schloss und alles, was darin war, in die Luft zu sprengen.

Hans trat vor die Prinzessin und schaute ihr in die Augen. "Du bist also der Bauer Wort-für-Wort?" meinte Adeline. "Wenn Ihr damit sagen wollt, dass ich das ernst und genau nehme, was man mir sagt, dann mag das wohl stimmen", antwortete Hans.
Adeline ließ ein anmutiges Lachen erklingen und auf der Stelle überkam Hans ein seltsames Gefühl. "Ich habe Schmetterlinge im Bauch", meinte er. Und als Adeline noch lauter lachte, öffnete er den Mund – und gelbe, rote und blaue Schmetterlinge stiegen flatternd in die Luft.

Adeline war verblüfft. "Wie hast du das gemacht?" fragte sie. Aber Hans, ganz in ihren Anblick versunken, konnte kein Wort herausbringen. "Prinzessin, ich kann kaum sprechen, ich – ich habe einen Frosch im Hals", gluckste er kläglich. Und als Beweis fasste er sich in den Rachen und holte einen lebendigen, grünen Laubfrosch heraus, der, befreit aus seinem dunklen Gefängnis, alsbald fröhlich zu quaken begann.
So etwas hatte Adeline noch nicht erlebt. Das war entschieden lustiger und abwechslungsreicher als alles, was ihr am Hofe bislang geboten worden war. Was, wenn sie diesen Bauern für immer an ihrer Seite behielt, damit er sie mit seinen Schnurren auch in der Zukunft zum Lachen brachte?! Ganz hübsch und gutgewachsen sah er ja aus, und ihn als Spaßmacher täglich um sich zu haben, erschien ihr als eine sehr gute Idee.

"Willst du an meinem Hofe bleiben und mich mit deinen Possen erfreuen?" fragte sie ihn. "Für Euch würde ich mir beide Beine ausreißen", antwortete Hans. Die entsetzte Prinzessin gab den Soldaten mit den Hellebarden schnell einen Wink, und diese schlugen Hans sogleich in schwere Ketten und verhinderten damit, dass er die Worte in die Tat umsetzte. Als die Prinzessin dem Bauernjungen später persönlich die Ketten abnahm, schalt sie ihn einen Narren, aber ihre Worte klangen nicht sehr böse, denn sie hatte Hans schon ein wenig lieb gewonnen.

So lebte er unbeschwert und dennoch von den Höflingen misstrauisch beäugt im Schlosse, wo er nicht wenig zur Erheiterung der Prinzessin beitrug. Mit der Zeit begann auch sie mehr und mehr, die Dinge beim Wort zu nehmen. Und so wurden sie sich immer ähnlicher. Und da gleiches Fühlen und gleiches Denken, wie ein jeder weiß, den Wunsch fördert, für immer und ganz beieinander zu bleiben, fragte die Prinzessin Hans eines Tages zu später Stunde, als sie vertraut am flackernden Kamine saßen, ob er sie auch so sehr liebe wie sie ihn. Und als er dies bejahte, küsste sie ihn voller Leidenschaft und bot ihm schließlich errötend ihre königliche Hand an.

***

Später fanden ihn die Bediensteten in seinem Zimmer. Dort saß er einsam und versonnen im warmen Schein einer Lampe. Stumm hockte er da und drehte etwas in seinen Händen, auf das er unverwandt hinabblickte. Es war die Hand der Prinzessin. An den rosigen Fingern steckten noch ihre Ringe, deren Steine zuweilen funkelnde Reflexe über die Wände huschen ließen.

Ja, so war das.

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© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Der Bauer Wort-für-Wort"

Was geschieht, wenn alles absolut wörtlich genommen wird?

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