Neugierig war Frauke schon, als sie den Brief mit unbekanntem Absender öffnete. Heinz-Dieter Möllenhoff - der Name sagte ihr nichts.

Wieso schreibt dieser Möllenhoff „Liebe Frauke?“, dachte sie. Ich kenne den doch überhaupt nicht. Beim Lesen stellte sich dann heraus, dass der Verfasser des Briefes ein entfernter Cousin von ihr war. Sie war völlig perplex, als sie erfuhr, dass ihre Mutter eine Halbschwester gehabt haben soll, und zwar väterlicherseits. Das heißt ja, mein Opa hatte, während er mit meiner Oma verheiratet war, eine Affäre mit einer anderen Frau, folgerte sie. Unglaublich! Sie stellte sich ihren Großvater vor, diesen wortkargen, aber durchaus ehrfurchteinflößenden alten Mann. Konnte das sein? Niemals ..., oder? Obwohl, stille Wasser sind tief. Und angeblich geht jeder dritte Ehemann fremd. Ob meine Mutter das wusste? Fragen konnte Frauke sie nicht, denn ihre Mutter war schon lange tot.

Jedenfalls lud dieser Heinz-Dieter Frauke zu einem Familientreffen ein. Kurzerhand sagte sie zu, in der Hoffnung, mehr über die Liaison ihres Opas zu erfahren. Also reiste sie zwei Wochen später nach Berlin.

Eigentlich hatte sie erwartet, dass zumindest ihre Tante Paula, die leibliche und einzige noch lebende Schwester ihrer Mutter, auch kommen würde. Aber: Fehlanzeige. Sie sah nur ihr unbekannte Gesichter. Ein Mann in ihrem Alter - also um die fünfzig - kam auf sie zu und begrüßte sie.

„Hallo! Ich bin Heinz-Dieter“, stellte er sich vor. „Du musst Frauke sein. Ist es okay, wenn wir uns duzen?“

„Äh …, klar“, stammelte Frauke. „Verwandte machen das doch so.“

Ein bisschen merkwürdig fand sie es schon, dass die anderen Leute sich untereinander wohl alle kannten. Nur sie schien die große Unbekannte zu sein. Letztendlich spielte das aber auch keine Rolle. Es war eine fantastische Feier, die Stimmung war super und das Essen auch. Es wurde viel gelacht und getanzt, und erst als die Ersten weit nach Mitternacht heimfuhren, hatte Frauke Gelegenheit, Heinz-Dieter nach der Herkunft seiner Mutter auszufragen. Das brannte ihr nämlich schon den ganzen Abend unter den Nägeln.

„Wo haben sich deine Großmutter und mein Opa eigentlich kennengelernt?“, wollte sie von Heinz-Dieter wissen.

„Auf einer Tanz-in-den-Mai-Feier, hier in Berlin“, gab er zur Antwort.

„Merkwürdig“, erwiderte Frauke. „Soviel ich weiß, ist mein Großvater, abgesehen von seinem Einsatz im Krieg, nie aus Dortmund rausgekommen.“

„Naja, allzu viel scheinst du ja nicht über ihn zu wissen“, sagte ihr Cousin achselzuckend.

„Ich dachte immer, mein Opa Karl wäre ein treusorgender Ehemann und Familienvater gewesen. So kann man sich täuschen.“ Sie seufzte und schüttete sich direkt noch einen Cherry ein. „Prost!“

„Ja, da hast du dich wohl geirrt“, stimmte Heinz-Dieter ihr zu. „Aber warum sagtest du Karl? Dein - und folglich auch mein Großvater - hieß doch Heinrich.“

Wie sich herausstellte handelte es sich um ein großes Missverständnis. Kurzum: Frauke und Heinz-Dieter waren gar nicht verwandt.

Die Reise nach Berlin hatte sich aber dennoch gelohnt. Soviel Spaß hatte Frauke schon lange nicht mehr gehabt. Und sie konnte ihren Opa weiterhin als respektvollen Ehrenmann in Erinnerung behalten. Letztendlich war sie auch froh, dass Heinz-Dieter nicht ihr Vetter war, denn die Zwei waren sich nicht nur überaus sympathisch, sondern auch beide Single. Es sollte nicht ihr letztes Treffen sein. Wer weiß …?


© Anja Pompowski


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